Prompt: Tabula rasa
Fortsetzung Erlösung, muss nicht zwingend gelesen werden.
Der Staatsanwalt verkündete das Urteil: "Ich bitte die hier Anwesenden, kurz aufzustehen für die Urteilsverkündung.” Nach einer kleinen Pause fuhr er fort: “Das Urteil ergeht im Namen des Volkes. Der Beschuldigte Hans Meyer wird aufgrund der mildernden Umstände gemäß Paragraf 55 des Strafgesetzbuches und der Begehung der Tat im Affekt zu einer Haftstrafe von sieben Jahren verurteilt. Bei guter Führung gemäß Beurteilung durch die Haftanstalt ist eine raschere Entlassung möglich." Im Publikum war ein Raunen zu hören. Zum Teil waren enttäuschte Gesichter zu sehen. Und jemand rief: "Sieben Jahre für ein Menschenleben, eine Schande. Zur Hölle mit dem Angeklagten." Diese fanden diese Strafe vermutlich viel zu mild.
Ich persönlich war vorerst erleichtert. Verständlicherweise freute ich mich nicht besonders auf die nächsten sieben Jahre. Genau 2557 Tage eine Unendlichkeit. Nach der Urteilsverkündung verließen die Zuschauer das Gericht als erste. Ich wurde von zwei Polizisten umzingelt und meine Arme wurden mit Handschellen gesichert. Begleitet von den zwei Ordnungshütern verließ ich das Gericht. Draußen wurde ich von zwei Schneebällen im Gesicht getroffen. Begleitet wurde das Ganze vom Pöbel, die mich auspfiffen. Ich war eine "Persona non grata." Eine unerwünschte Person, obwohl meine Staatsbürgerschaft nicht entzogen werden konnte.
Bevor wir im Polizeiwagen einstiegen, drückte mir einer der Polizisten den Kopf herunter und stieß mich in den Wagen hinein. Der Wagen fuhr auf die Straße und war schon im Stau. Ich betrachtete diese Außenwelt, die ich die nächsten sieben Jahre vermissen würde. In der Haftanstalt angekommen, wurde ich dem Personal übergeben und musste die uniforme Häftlingskleidung anziehen. Mehrere Sicherheitsschleusen mussten überwunden werden.
Zurück in meiner Zelle setzte ich mich aufs Bett. Ich schaute die Einrichtung meiner Zelle ernüchtert an. Sie ist schnell beschrieben. Die Fläche vier Schritte auf zwei Schritte. Ein Bett mit einer dünnen grauen Matratze, ein Leintuch, ein Kissen, eine Decke und ein kleiner Schrank. Ein WC in der rechten Ecke ohne Deckel und ein kleines Waschbecken. Ein Tisch und ein Stuhl stehen an der Wand. Oben ist ein kleines Regal festgeschraubt. Nur der Stuhl lässt sich hin- und herbewegen. Der Rest ist alles festgeschraubt. Ein winziges vergittertes Fenster lässt etwas Licht hinein.
Zweitausendfünfhundertsiebenundfünzig Tage inklusive zwei Schalttage abzüglich 57 Tage Untersuchungshaft durfte ich in diesem trostlosen Loch verbringen. Ich hatte alles verloren: meine Arbeit, die meisten Freunde und meine Lebenslust. Deshalb wurden mir sogar die Schuhbändel und der Gürtel abgenommen.
Die erste Woche war vorbei. Das Frühstück ist mit zwei Stück Brot sehr karg. Ein bisschen Butter und ein Löffel Marmelade dazu. Nach dem Frühstück geht es in den Arbeitstrakt. Für ein Industrieunternehmen muss ich Schrauben nach Größe sortieren und in Fünfzigerpackungen abzählen. Die Arbeit ist langweilig und zermürbend. Der Saal ist dunkel und die Mitgefangenen dürfen während der Arbeitszeit kein Wort miteinander reden. Ein Aufseher ist bei Fragen im Saal und beobachtet das Ganze, um bei Bedarf sofort eingreifen zu können. Der Tagesablauf ist strikt vorgegeben. Ich muss überhaupt nichts überlegen. In dieser Beziehung werde ich kaum auf eine Resozialisierung vorbereitet. Die Mittagessen sind langweilig gestaltet. Heute gab es eine Hühnersuppe und ein Stück Braten mit Kartoffeln und Nudeln. Als Getränk steht nur Hahnenwasser zur Verfügung.
Nach zwei Wochen wurde ich in die Gärtnerei versetzt. Die Arbeit dort ist anspruchsvoller und weniger eintönig. Eine Stunde im Tag können wir im Hof spazieren. Während dem Hofgang ist es möglich mit den anderen Strafgefangenen zu kommunizieren. Es gibt eine gewisse Hackordnung im Gefängnis. Menschen wollen sich immer mit anderen messen und dies ist im Gefängnis nicht anders. Kinderschänder sind auf jeden Fall auf der untersten Sprosse und müssen manchmal um ihr Leben fürchten.
Um fünf Uhr nachmittags gibt es bereits Nachtessen. Auf jeden Fall kein kulinarischer Höhenflug. Nach einem Monat hier durfte ich mit meinem geringen Arbeitsentgelt einen Fernseher mieten. Mein Fenster zur Außenwelt. Gerne schaue ich, wie es in der Außenwelt aussieht. Man vergisst dies so schnell.
Nach einem weiteren Monat darf ich zu Fred in die Zelle. Er erzählt von seinem Mord. Bereits mehr als sieben Jahre ist es her. Aber er möchte nicht mehr viel darüber reden. An den Wänden sind Fotos seiner Familie. Er hat eine Playstation und einen Computer gemietet. Er erzählt mir, dass dies eine reine Textverarbeitung ist. Seine Freizeitbeschäftigung ist Bücher für Belletristica eine Schreibplattform zu schreiben. Seine Texte werden geprüft und hochgeladen. Die Kommentare zu seinen Büchern werden ihm ausgedruckt. Antworten darauf kann er nicht. Aber er freut sich sehr über die lieben Kommentare. Keiner seiner Leser weiß, dass er im Gefängnis sitzt. Diese Art Freizeitbeschäftigung ist auch etwas für mich und ich entscheide dies auch zu beantragen.
Der Sekundenzeiger tickt unaufhörlich und der Countdown läuft. Tag für Tag Langeweile ohne Ende. Einzig unterbrochen durch ein paar Briefe, einige Besuche und den drei Stunden telefonieren pro Monat. Irgendwann ist es auch für mich soweit. Ein Bewährungshelfer kommt vorbei. Ich habe das Glück, eine 50 % Stelle im angestammten Beruf zu erhalten und eine winzige Wohnung wird angemietet. Mein Bewährungshelfer sagt: “Herr Meyer, bei ihrem Austritt machen wir Tabula rasa, sie erhalten eine neue Chance für einen Neubeginn, nutzen sie diese!”
Heute, am 27. Februar 2026, ist mein Entlassungstag. Ich nehme die Gegenstände entgegen, die ich beim Eintritt abgegeben habe sowie eine Abrechnung meines Arbeitsentgeltes für fast sieben Jahre. Es sind ein paar Tausend Euro. Ich ziehe meine Zivilkleidung an und werde mit einem Säckchen Habseligkeiten nach draußen begleitet. Kaum wärmende Sonnenstrahlen nehmen mich in Empfang. Ein Gefühl von Leere, eine Art Tabula rasa macht sich breit.