Genüsslich strecke ich die Beine und lehne mich zurück, genieße die Ruhe, die mir diese Bank im winzigen Park hinter dem Phex-Schrein bietet. Ein wunderbarer Ort. Es sollte mehr solch öffentlich zugängliche Gärten geben, klein und still und ein bisschen wild wuchernd. Nicht nur, dass man hier ganz vergisst, dass man sich in einer Stadt befindet, es ist auch ein hervorragender Treffpunkt für Leute, die sich nicht miteinander sehen lassen wollen. Die Sitzgelegenheiten sind so verteilt, dass man sich wunderbar vor den Augen der Welt zurückziehen kann – herrlich für Liebespaare oder Personen wie mich.
Es ist schon Jahre her, dass ich das letzte Mal in dieser Stadt war. Vieles hat sich verändert. Fugxea hat ihre Schmiede in der Unterstadt aufgegeben. Im Perainetempel habe ich keinen Geweihten wiedererkannt. Am Stadtrand sind einige neue Häuser entstanden.
Doch es ist auch vieles immer noch vertraut. Das Gasthaus, ich dem ich damals wohnte, existiert noch, auch, wenn die Wirtin inzwischen fast blind ist. Die engagierte Kommandantin ist noch hier und befehligt inzwischen offenbar die gesamte Stadtgarde. Und dieser schöne Garten existiert noch und bietet mir nun die Gelegenheit, mich mit einem Informanten zu treffen, ohne allzu viel Aufmerksamkeit zu erregen. Die Person ist spät dran, doch ich habe es nicht eilig.
Der Gedanke lässt mich schmunzeln. Geduld zu haben hat Phex mich hier gelehrt, in dieser Stadt. Versonnen fahre ich durch den Stoff des Hemdes die Narbe nach, die mich stets an meine Lektion erinnert.
Stimmen ziehen meine Aufmerksamkeit auf sich. Eine Gruppe von ungefähr drei Personen hat den Bereich des Schreins durchquert und den kleinen verwilderten Park betreten.
„Das sagst du nur, weil du es nicht gesehen hast!“, schimpft jemand, vermutlich ein Mann.
„Du hast es doch auch nicht gesehen.“ Spott liegt in der Stimme seines Gesprächspartners, die dessen Geschlecht nicht verrät. „Du hast es nur erzählt bekommen.“
„Aber von jemandem, der dabei war! Echt! Der Sprung war unmöglich – der Kerl war ein Magier oder ein Alveraniar!“
Das weckt jetzt doch meine Neugier. Ein Alveraniar? Ein Sendbote der Götter, persönlich von einem der Zwölfe auserwählt und in dessen unendlicher Gunst stehend, fast, als würde der entsprechende Gott durch dieses Wesen sprechen und handeln? Es gibt sie nur sehr selten. Praios und Boron zeigen sich ab und an durch Alveraniare, sehr selten einer der anderen zehn Götter. Ein Alveraniar meines Gottes war, soweit ich weiß, noch nie irgendwo gesehen worden – was nicht heißt, dass es nie einen gegeben hat. Phex ist der Gott der List – einer seiner Sendboten würde seine nahezu göttliche Natur sicherlich verbergen.
Eine dritte, weibliche Stimme mischt sich ins Gespräch ein. „So ein Unsinn! Alveraniare gibt es nicht! Das sind doch nur Legenden, die uns die Geweihten als Wahrheit verkaufen wollen, damit wir brav an die Zwölfe glauben!“
Kluge Frau – es ist sinnvoll, Dinge anzuzweifeln. Doch in diesem Punkt irrt sie sich – Alveraniare existieren. Das weiß ich genau, obwohl ich nie einem begegnet bin.
Ein leises Lächeln schleicht sich auf meine Lippen. Nun folge ich meinem eigenen Rat nicht!
Die Gruppe, vor deren Augen ich durch die vielen wild wuchernden Büsche immer noch verborgen bin, trennt sich.
„Ich sehe euch später“, verabschiedet sich die Frau.
Anzügliches Gelächter von den beiden anderen. „Triffst du dich hier noch mit einem hübschen Mann, Cara?“ Erneutes Lachen, als sie vermutlich durch eine Geste ihre Freunde in die Niederhöllen wünscht. „Dann eben eine hübsche Frau? Was auch immer ihr vorhabt – viel Spaß ...“ Wiehernd vor Vergnügen verlassen die beiden den Park, sodass endlich Ruhe einkehrt. Cara hingegen beginnt, systematisch die versteckten Bänke abzusuchen.
Nach kurzer Zeit findet sie mich.
„Was treibt ihr hier bei diesem Wetter?“, fragt sie mich vorsichtig. Der Anblick meines langen, weiten, schwarzen Umhangs, dessen Kapuze mein Gesicht verbirgt, lässt sie ein wenig misstrauisch werden.
Pflichtgemäß antworte ich mit dem zweiten Teil der Parole. „Ich mag Regentage.“ Bei dem guten Wetter, das heute herrscht, ist damit völlig offenbar, dass ich die Person bin, nach der sie sucht, und sie gewinnt deutlich an Selbstsicherheit zurück.
Sie tritt näher und zieht einen Brief aus einer Tasche ihres Gewands. Neugierig versucht sie, einen Blick auf mein Gesicht zu erhaschen, doch viel mehr als meine Nasenspitze und das Schmunzeln, das ihre vorwitzige Art hervorruft, wird sie kaum zu sehen bekommen.
„Also treffe ich mich doch mit einem hübschen Mann“, sagt sie neckend, während sie mir den Brief überreicht.
„Leider nur für diesen Augenblick, werte Cara.“
Dass ich ihren Namen kenne, lässt sie sichtlich zusammenfahren. Ich will ihr keine Angst machen, daher fahre ich fort. „Worüber habt Ihr und Eure Freunde euch denn unterhalten? Wer tat den unmenschlichen Sprung?“
Sie entspannt sich sichtlich, als ihr klar wird, woher ich weiß, wie sie heißt. „Jemand, der vor vielen Jahren einen Stadtgardisten aus einem brennenden Haus rettete“, erzählt sie. „Es war schon halb eingestürzt, und angeblich ist jemand die glatten Wände hinaufgestiegen wie ein Insekt und sprang dann zu dem über dem Abgrund baumelnden Gardisten hinüber, um ihn festzuhalten, bis andere ihn mit einer Leiter retten konnten. Aber das ist sicherlich auch nur so eine Legende.“
Diese Geschichte macht hier immer noch die Runde? Gut, dass ich mein Gesicht in der Stadt möglichst verborgen halte! Ich verstecke mein Erstaunen darüber, dass sie mit ihren Freunden ausgerechnet über diesen Vorfall damals gesprochen hat, hinter einem möglichst neutralen Gesichtsausdruck. Dann nicke ich ihr höflich zu und verabschiede mich. Ich war nur wegen der Informationen hier, nicht, um mich mit ihr zu unterhalten, wenn die Enttäuschung in ihren Zügen mir auch zeigt, dass sie mich ausgesprochen gerne näher kennenlernen würde. Aber das ist nicht möglich. Sie weiß es zwar nicht, doch mit mir würde sie kaum die Art Vergnügen haben, das sie vielleicht erwartet.
Ich bin schon einige Schritte weit von ihr entfernt, als ich der Versuchung doch nicht widerstehen kann. Grinsend drehe ich mich zu ihr um, sehe ihr in die Augen.
„Die Wände waren nicht so glatt, wie die Erzählung sie inzwischen geschliffen hat“, eröffne ich ihr. „Und mit ein wenig Gottvertrauen war der Sprung zwar riskant, aber nicht unmöglich. Glaubt mir – ich bin keine Legende.“
Das Erstaunen auf ihrem Gesicht ist großartig anzusehen. Ich eile davon, bevor sie etwas erwidern kann – die Erinnerung an ihr Mienenspiel wird mir noch einige Tage lang Vergnügen bereiten.