„Meine Damen und Herren, treten sie näher!“
Die Hauptstraße war voller Leute als sich Lianna ihren Weg durch das alltägliche Gewusel bahnte. Sie wollte sehen, was der Straßenkünstler zu bieten hatte. Dafür hatte sie schon immer einen Sinn gehabt. Kunst, die sich an der Freude der unmittelbaren Mitmenschen abarbeitet und nicht in elitären Museen oder Theatern verstaubte. Lianna drängte weiter nach vorn, schob die Menschen links und rechts von ihr mit sanftem Druck zur Seite. Endlich konnte sie etwas erkennen. Doch was war das? Ein älterer Mann mit langem weißen Bart stand in der Sonne, die sich wie ein Scheinwerfer ihren Weg durch die dichte Bebauung suchte. In seiner Hand hielt er eine merkwürdige Kreatur, welche weder Haare noch Federn hatte, sondern vollkommen nackt aussah.
„Seht her und erstarret in Ehrfurcht!“, rief der Alte in die Menge.
„Wovor? Vor dieser jämmerlichen nackten Ratte?“, bemerkte ein proletenhaft aussehender Mann links neben Lianna. „Was soll das ganze Theater? “
Das Tier in der Hand des alten regte sich, drehte sich im Kreis, stieß ein bemitleidenswertes Quieken aus und zeigte dabei seine deformierten Schneidezähne. Die Menge schreckte zurück und stieß ein kollektives Geräusch des Ekels aus. Lianna schaute genauer hin. Das Geschöpf hatte auf den ersten Blick tatsächlich Ähnlichkeit mit einer Ratte. Der lange nackte Schwanz zuckte hin und wieder durch die Luft. Doch der langgezogene Rumpf erinnerte eher an ein Reptil, die Beine waren eigenartig dünn und definitiv zu lang für die restlichen Proportionen des nackten Körpers. Und der Kopf wirkte durch seine langgezogene Form und die in alle Richtungen abstehenden Zähne im Maul der Kreatur einfach nur abstoßend. Dennoch war Lianna seltsam interessiert.
„Diese Missgeburt gehört ausgerottet!“ Ein kräftiger Mann trat nach vorn, versetzte dem Alten einen Stoß, packte das Tier am Schwanz, warf es in die Luft und trat es mit dem rechten Fuß in Richtung der geziegelten Mauer, die sich hinter dem Weißbärtigen befand. Lianna hörte wie der Tritt die Knochen des Geschöpfes zerbrechen ließ. Ein eiskalter Schauer überkam sie, als es gegen die Wand geschleudert wurde, dabei einen weiteren Schrei ausstieß und mit einem ekelerregenden Klatschen auf den trockenen Sand aufschlug. Das Mädchen wandte sich ab, drängte aus der Menschenmenge, die vor Erregung johlte, und suchte Schutz in einer nahegelegenen, schattigen Gasse.
Die Stimme des Alten erschallte mit einem dumpfen Echo, welches nur entfernt an die Geräusche erinnerte, die menschliche Stimmbänder zu erzeugen vermochten. „Nun denn, ihr Narren! Es ist das Fremde, das euch ängstigt. Und ja, die Natur vermag uns in Angst zu versetzen! Und doch müssen wir ihren lebendigen Schöpfungen mit Respekt und Ehrfurcht begegnen. Ihr, die ihr der Lust am Schrecklichen wegen hier versammelt seid, habt dieses eherne Gebot mit Füßen getreten. Empfanget euren gerechten Lohn!“ Lianna sah, wie ein blauer Lichtblitz auf den Alten niederschlug. Im nächsten Moment war er verschwunden und mit ihm die schaulustige Menge. Das Geschöpf lag noch immer im Sand, der sich langsam mit Blut vollsog. Als sich der Staub legte fiel eine Horde dieser Kreaturen über den Kadaver her.