Gartenschauen, wie sie gemeinhin gerne veranstaltete werden, waren nicht unbedingt die Objekte meines obersten Interesses. Für mich war es lediglich eine Ansammlung vermeintlich heimischer Flora, die in mitunter monströs anmutenden Arrangements auf immer gleiche Weise dargeboten wurde. Meine Eltern nahmen mich vor Jahren mehrmals zu solchen Schauen mit, da ich mich nicht hatte dagegen wehren können. Zum Glück wurde ich, als ich älter war, auch nicht mehr gebeten, diesen Lustbarkeiten beizuwohnen. Deshalb irritierte mich die Unruhe, die mich befiel, wenn es um diesen besonderen abgeschotteten Teil der Ausstellung ging, über alle Maßen. Niemand wusste so recht, was es damit genau auf sich hatte, und auch in den Medien wurden unzählige Theorien verbreitet, die meine Neugierde nur noch weiter schürten. Diese Neugierde wollte nun endlich befriedigt werden. So erwischte ich mich immer öfter dabei, wie sich wie automatisch meine Füße dorthin bewegten, wenn ich nur annähernd in die Umgebung des Geländes kam.
Wie soll ich sagen, am Abend vor der Eröffnung passierte es mir schon wieder. Doch diesmal stand das Tor, das sonst immer fest verschlossen war, zu meiner Verwunderung offen. Sollte ich einfach einen Blick wagen und das Gelände betreten? Noch bevor sich mein Gewissen regen konnte, nahmen meine Füße ihren Weg durch die Absperrung. Wenn ich noch außerhalb der hohen Umzäunung den allgegenwärtigen Straßenlärm und den Trubel der Stadt hörte, so vernahm ich hier drinnen nichts von dem, auch wenn es alles andere als still war. Innerhalb des Gartens waren es die natürlichen Geräusche, die ich vernehmen konnte. Der Gesang der unterschiedlichen Vögel, summen von Insekten, zirpen der Grillen, irgendwo quakten Frösche. Doch dann schaltete sich mein Verstand ein, wie konnte es diese Geräusche schon so früh im Jahr geben? Es war immerhin erst Anfang März, es hatte zwar schon einige warme Tage gegeben, aber das konnte doch noch nicht sein. Es musste vom Band kommen, nur so konnte das möglich sein. Aber gut gemacht, musste ich den Veranstalter loben.
Langsam ging ich weiter, meine Schritte knirschten auf dem Kiesweg. Wie er sich wohl anfühlte? Kurzentschlossen zog ich Schuhe und Strümpfe aus, stopfte die Socken vorne in die Schuhe, band die Senkel zusammen, warf sie mir über die Schultern und ging barfuß weiter. Anfangs war es ungewohnt, doch dann fühlte ich mich leicht und frei, wie ich erst zögerlich doch dann mutig zügiger zwischen den bunten Blumenrabatten voranschritt. Irgendwann änderte sich die Struktur des Weges, es waren nun Holzbohlen, die ihn markierten. Ich war wohl auf den Holzweg, musste ich über meinen Gedanken schmunzeln. Gemeinsam mit dem Weg veränderte sich auch die Vegetation, die nun aus kleinwüchsigen Büschen und Bäumen, die gewiss bald zu blühen begannen, bestand.
Der Weg führte mich zu einem Bach, der lustig über große Steine plätscherte, und unvermittelt unter einer Brücke, die so auch in einem japanischen Garten hätte stehen können, hindurchfloss. Oh, so käme ich auf die andere Seite, ohne dass meine Füße nass würden. In der Mitte der Brücke blieb ich stehen und genoss den Ausblick, der sich mir bot. Der Bach schlängelte sich lustig hüpfend weiter, ehe er sich in einen Teich, der ihn leise murmelnd in sich kräuselnden Wellen verschlang, ergoss. So bemerkte ich auch nicht, wie die Dämmerung hereinbrach und die Landschaft mit Teich in ein unwirkliches Zwielicht tauchte, ehe es gänzlich dunkel wurde.
Zuerst wollte eine Panik, die sich im hintersten Winkel meiner Gedanken regte, in mir aufsteigen, doch wurde dieses anfängliche Gefühl von neugieriger Zuversicht verdrängt. Dieser seltsame Ort faszinierte mich über alle Maßen, ein Garten offensichtlich künstlich angelegt, aber dennoch von einer solchen ungezwungenen Natürlichkeit. Schließlich wurde mir dann doch mulmig zu Mute, da die sich ausbreitende Dunkelheit irgendwie nicht so war, wie sie hätte unter normalen Voraussetzungen sein sollen. Sie war nicht wirklich dunkel, jedenfalls nicht so, wie ich es bis jetzt immer erlebt hatte. Weiterhin waren die Konturen des Weges, des Baches ja sogar der unterschiedlichen Vegetation für mich gut erkennbar. Nun denn, ich war nie wirklich nachtblind gewesen, aber so gut konnte ich im Dunkeln auch nicht sehen, das, was hier gerade passierte, war über die Maßen seltsam.
Doch statt zurückzugehen, wollte ich diesem Weg weiter folgen, nur um zu sehen, wohin er mich führte. Mir war es, als wenn mich eine unbekannte Macht zog, als wenn mich eine leise Stimme lockte. Anfangs begleitete der Weg den Bachlauf zum Teich hin, doch dann änderte er seine Richtung und er bog ab. Unter meinen nackten Sohlen konnte ich spüren, wie sich die Struktur erneut änderte. Holz wurde zu Stein, welcher sich seltsam warm und kurioser weise weich anfühlte. Stein war hart, das war eine unumstößliche Tatsache, aber es kam mir nicht so vor. Der Himmel wurde immer dunkler und die ersten Sterne begannen geisterhaft zu funkeln. Am Horizont ging der Mond auf und tauchte die Umgebung in sein milchiges Licht, das vom steinernen Pfad reflektiert zu werden schien.
Das Leuchten des Pfades schien heller zu werden und auch die Vegetation umgab ein Flimmern. Es war, als wenn glühende Partikel aus den sich öffnenden Blüten aufstiegen, aber Blüten, die sich nächtens erst öffneten und leuchteten, gab es so etwas wirklich? Irritiert schaute ich auf das sich mir darbietende Schauspiel, dass mich an Szenen aus einem Film erinnerte, den ich vor Jahren im Kino gesehen hatte. Förmlich erwartete ich, dass sich mir nun auch Tiere präsentierten, die in diese seltsam veränderte Welt passten. War es noch der Park oder war ich schon in einer Traumwelt? Hatte ich mich irgendwo auf eine Bank gesetzt, war eingeschlafen und Orpheus schickte mir diese vortrefflichen, schönen Nachtalben und Traumbilder? Ich kramte gewissenhaft in meinen Erinnerungen und konnte aber nicht diese eine von Bedeutung, die alles erklärte, finden, also war ich nicht eingeschlafen und dies alles hier war nun real. Der Griff an meine Schulter bestätigte mir, dass sich dort immer noch meine Schuhe befanden, gerade so, wie ich es memoriert hatte. Ja, ich war immer noch barfuß und ich empfand es als angenehm, aber Anfang März, irgendetwas konnte hier ganz und gar nicht stimmen. Da ich mit meinen Gedanken beschäftigt war, bemerkte ich nicht, dass mich meine Füße immer weiter trugen, bis ich zu einem sanft erhellten Areal kam. Hier war ein Summen und Raunen wie von Stimmen zu hören, doch konnte ich nicht erkennen, wer oder was es verursachte. Vorsichtig ging ich näher und mir war es, als wenn ich in den Schemen Gestalten oder Personen wahrnehmen konnte. Es war mir fremd und dennoch seltsam vertraut, so dass ich keinerlei Angst, sondern vielmehr inneren Frieden verspürte.
Dann trat ich zwischen die Schemen, die ich immer noch nicht richtig erkennen konnte, obwohl ich direkt bei ihnen stand. Sie wirkten durchscheinend und wabernd wie Rauch, so dass ich mich auf einmal wie ein Fremdkörper fühlte, der hier nicht hätte sein sollen. Ehe dieses ungute Gefühl noch mehr Besitz von mir ergreifen konnte, spürte ich eine Bewegung hinter mir, Hände strichen über meine Hüfte und ich wurde von Armen sanft umschlungen. Samtige Lippen hauchten einen Kuss, der mir schier den Verstand raubte und alles vergessen ließ, an meinen Hals. Oh ja, diesen Effekt kannte ich bereits und hatte ihn hier jedoch nicht erwartet, aber es tat so gut.
„Du solltest hier nicht sein.“ Drangen diese leisen Worte an mein Ohr oder waren sie nur in meinem Kopf. Ach, egal, ich wollte nur dieser Stimme folgen auch dann noch, wenn ich nicht hier sein sollte.
„Ich bringe dich Heim.“ Raunte mir die Stimme, die mir so vertraut war, ins Bewusstsein.
Ich wollte etwas erwidern, doch mein Mund wurde mit einem Kuss zum Schweigen gebracht. Da war wieder dieser metallische Geschmack, den ich so liebte, ich lächelte, dann musste das hier alles real sein. Meine Wahrnehmung wurde jäh durcheinander gewirbelt und es war mir, als wenn ich schwebte. Wurde ich tatsächlich von kräftigen Armen emporgehoben und durch die Luft getragen? Ach was, das konnte nicht sein, das war völlig absurd. Aber dennoch, dieses indifferente Gefühl blieb und hielt solange an, bis ich mich dem Schlummer nahe in meine Kissen mummelte.
„Schlaf, mein Herz“, murmelten sanfte Lippen, ehe sie meine Augen gänzlich mit Küssen verschlossen und mich in den Traum entließen.