Es war wieder einer dieser Tage, den, wenn ich im Urlaub im Süden wäre, genossen hätte. Aber so war es einfach nur unerträglich heiß mit einer Luftfeuchtigkeit, die gefühlt bei 500% lag, die mich zum wiederholten Male daran erinnerte, warum ich bis dato keinen Urlaub in Florida gebucht hatte. Mein T-Shirt, das heute schon das dritte war, klebte unangenehm am Rücken und war schon längst nicht mehr in der Lage, den rinnenden Schweiß aufzunehmen. An einer roten Ampel hatte ich Zeit, mir den Inhalt meines Kofferraums zu visualisieren. Ja, die Tasche mit den Badesachen war noch in der hintersten Ecke. So stand der Entschluss fest, dass ich noch schnell zum Strandbad führe, um mich dort in die kühlenden Fluten des Sees zu werfen. Voller Vorfreude schien mir die Hitze nun auch weniger auszumachen, und ich änderte mein Fahrtziel ab, damit mein Navi nicht an jeder Kreuzung motzte, damit ich ja bloß wendete.
Als ich am Strandbad ankam, war der Parkplatz verdächtig leer, aber unter der Woche konnte dies schon manchmal vorkommen. Oder war heute ein Fußballspiel im TV, dass es die meisten nach Hause oder zum Public Viewing trieb? Bei diesem Ausdruck musste ich unweigerlich grinsen. Durch meine Aufenthalte in den USA brachte ich diesen Begriff nicht unbedingt mit einer öffentlichen Lustbarkeit oder gar Sportveranstaltung in Verbindung. Aber so waren die Deutschen, die konnten tatsächlich englische Begriffe erfinden, die von englischsprachigen Menschen nicht wirklich verstanden wurden, so wie Showmaster oder gar Handy. Innerlich lachte ich mich schlapp, während ich mein Fahrzeug abstellte und mir meine Tasche mit den Schwimmsachen aus dem Kofferraum schnappte. Beschwingt ob der zu erwartenden Abkühlung strebte ich dem Eingang zu und – stand vor verschlossener Türe. Wie konnte das denn sein? Es war doch in den letzten Jahren sommertags immer bis 21 Uhr geöffnet und nun war es gerade mal 18 Uhr, also zur besten Primetime für die arbeitende Bevölkerung.
Völlig sinnentleert griff ich an die Klinke und rappelte daran, als wenn ich es tatsächlich fühlen musste, dass verschlossen war und sich nur durch meine Handlung trotzdem magisch öffnete. Das wäre doch was.
„Aftah ya samsam“, murmelte ich möglichst mystisch, nachdem ich mich vergewissert hatte, dass mich niemand beobachtete. Aber wer sollte es schon, wie es schien, war ich alleine auf weiter Flur. Na ja, die grüne weite Flur mit dem kühlenden Nass lag eher hinter dem verschlossenen Kassenhäuschen, dass ein jeder, der sich erfrischen wollte, unweigerlich gegen klingende Münze passieren musste.
Da dachte ich an meine Jugend zurück, als wir von unseren Eltern Geld für das Strandbad bekamen, dass entweder für den Eintritt oder für eine Portion Pommes ausreichte. So hatten wir die Stelle am Zaun entdeckt, die es uns erlaubte, so wohl ungesehen als auch unbezahlt das Areal zu betreten. Wir hielten es damals für einen großen Spaß und wir glaubten, dass es uns zustünde. Selbstverständlich wurden wir nie erwischt, so war es jedenfalls in meiner Erinnerung und irgendwie beschlich mich das Gefühl, das dies nicht der ganzen Wahrheit entsprach. Mein Vater hatte dies kurz vor seinem Tod angedeutet, aber in der Situation hielt ich es für das Gefasel eines Patienten im Delirium.
Kurz bevor ich die Stelle im Zaun erreicht, begann mein Handy zu vibrieren, es war wohl immer noch auf stumm geschaltet. Ein schneller Blick zeigte mir, dass es Giselmar war.
„Sanfte Grüße“, sprach ich in das Gerät.
„Was machst du gerade?“ Fragte er. Bevor ich eine meiner gefürchteten Antworten geben konnte, spezifizierte er seine Frage: „Außer telefonieren natürlich.“
Ich musste lachen.
„Du kennst mich wahrlich gut“, erwiderte ich. „Eigentlich wollte ich schwimmen gehen.“
„Und uneigentlich“, unterbrach er mich.
„Uneigentlich ist das Strandbad geschlossen“, gab ich ihm Auskunft. „Aber ich bin schon fast an unserem geheimen Zugang. Wenn es ihn noch gibt.“
„Du weißt schon, dass es dann Hausfriedensbruch ist?“ Ulkte er zurück. „Und außerdem war der Zugang gar nicht so geheim, wie wir immer dachten. Hast du denn schon unsere geheime Formel ausprobiert?“
„Selbstverständlich“, ich spielte Entrüstung, „aber sie hilft nicht. Hatte sie das eigentlich jemals?“
Am anderen Ende der Leitung konnte ich Giselmar quasi denken hören.
„Ich glaube“, sagte er schließlich, „das letzte mal als wir fünf waren, oder so ähnlich.“
Er lachte, ehe er wieder ernst wurde.
„Warte auf mich, ich bin gleich da.“ Dann wurde die Verbindung still.
Ok, dann warte ich auf meinen Kumpel aus Schulzeiten und freute mich, dass wir trotz unseres Alters doch noch kleine Jungs oder auch Kindsköpfe waren. Es dauerte wahrlich nur eine kurze Spanne, bis Giselmar an unserer ach so geheimen Einstiegsstelle unserer Kindheit angelangt war. Irritiert blickte er auf den Zaun.
„War der früher auch schon so hoch?“ Fragte er erstaunt.
„Relativ gesehen, war er vermutlich früher höher“, deduzierte ich, „absolut hat er sich wohl eher weniger verändert. Aber wahrscheinlich kommen wir überhaupt nicht rüber, da ich für meinen Teil die letzten Zäune irgendwann im letzten Jahrtausend erfolgreich bezwungen habe.“
Wie zu erwarten war, bekam Giselmar einen mittleren Lachanfall, ehe er sich wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte.
„Du solltest öfter mit uns zum Kletterpark gehen. Dann klappt das auch mit so einem Zaun.“
Kaum hatte er es ausgesprochen, machte er ein paar schnelle Schritte Richtung Zaun, lief dann am Zaun hoch, griff die obere Kante, schwang sich rüber und landete sicher auf der anderen Seite. Mit offenem Mund starrte ich der Aktion hinterher, denn so viel Körperbeherrschung hatte ich ihm gar nicht zugetraut.
„So, nun du“, forderte er mich grinsend auf.
Also warf ich meine Tasche rüber und hoffte, nur halb so elegant über den Zaun zu gelangen, wie mir vorher gezeigt worden war. Unter gutgemeinten und äußerst überflüssigen Ratschlägen mit reichlich begleitetem Gelächter wuchtete ich meinen, etwas aus der Form geratenen, Astralkörper über den Zaun. Prustend und schnaufend erreichte ich die andere Seite, und wenn mein Hemd schon vorher schweißnass war, dann lief ich nun quasi aus. Mir graute davor, dass ich über diesen Zaun ja auch wieder zurückmusste, dann wäre die abkühlende Erfrischung schlagartig wieder zum Herrn. Freundschaftlich klopfte mir Giselmar auf die Schulter und führte mich dann an den von uns seit jeher bevorzugten Platz auf der Wiese. Schnell hatten wir uns unserer klammen Kleidung entledigt und durch die Badesachen ausgetauscht, dass wir uns endlich in die kühlenden Fluten des Sees werfen konnten. Oh ja, dass tat gut und ich wusste wieder um den Gedanken, dass es mir zustand. OK, wahrscheinlich überlegte ich heute Abend zu Hause, wie ich dann doch noch meinen Obolus an den Betreiber des Freibades werde entrichten können, da mir die nicht Rechtmäßigkeit meines Handels durchaus bewusst war. Aber das hatte Zeit bis später, nun wollte ich mich nur noch abkühlen und die Zeit hier genießen. Es gelang mir sogar noch, auf dem Wasser wie ein toter Mann zu treiben. So ließ ich mich sanft auf den Rücken liegend durch die Wellen schaukeln.
„Jetzt noch ne Pommes, ganz so wie früher“, riss mich Giselmar aus meinen Träumen.
„Willst du jetzt noch in den Grill einbrechen“, fragte ich entsetzt und blickte auf. Da bemerkte ich eine Gestalt am Ufer, die uns genau zu betrachten schien. Giselmar folgte meinem Blick, doch anstatt erschreckt zu sein, grinste er nur breit.
„Was hast du wieder angestellt“, wollte ich nur von ihm wissen, da ich wieder einen seiner berühmten Scherze vor Augen hatte. Doch mein Freund seit Jugendzeiten ignorierte mich und strebte mit kräftigen Schwimmzügen dem Ufer zu. Dann schaute er doch noch einmal zurück.
„Pommes?“ Er lachte ob meines reichlich blöden Gesichtsausdruckes, den ich wohl immer noch mein Eigen nannte. Den Fluch, den ich auf den Lippen hatte, schluckte ich herunter und folge Giselmar zum Ufer. In Gedanken ging ich vorsorglich schon einmal durch, was ich der Security, um die handelte es sich in diesem Falle ganz gewiss, als vernünftige Erklärung für unsere unerlaubte Anwesenheit im Strandbad anbieten wollte.
Giselmar war natürlich lange vor mir am Ufer und ich wunderte mich, das diese Person ihm ein Handtuch reichte, aber seltsamerweise nicht in eine ob der aktuellen Situation zu erwartende hitzige Diskussion verstrickte. Eigentlich sollte ich nach all den Jahren, da ich ihn kannte, wissen, dass nichts, was mit Giselmar zu tun hatte, tatsächlich so war, wie es schien bzw. anmutete, sondern sich als etwas gänzlich anderes entpuppte. Wie auch immer, diese Tatsache beruhigte mich in keinerlei Weise, denn dann kam das dicke Ende ja noch und ich ahnte nicht einmal, was mir blühen könnte. Doch dann schalt ich mich selbst Lüge, da ich mich ja recht kurzfristig dazu entschlossen hatte, hier her zu fahren, so konnte er doch nichts geplant haben. Oder doch? Giselmar war gewiss gut, um nicht zu sagen brillant, aber das konnte selbst er nicht vollbringen, es sei denn, er verfügte seit neuestem über die Fähigkeit der Hellsichtigkeit oder aber die Manipulation von Gedanken.
Als ich ans Ufer stieg, wehte mir der Duft nach frittiertem Gemüse, wie es für golden in siedendem Fett ausgebackene Erdäpfel typisch ist, in die Nase. Sollte er tatsächlich veranlasst haben, dass nur für uns zwei der Grill geöffnet wurde? Es war nun doch schon reichlich absurd, was hier geschah, dennoch folgte ich Giselmar zum Imbiss. Giselmar strahlte über das ganze Gesicht, als er sich seine ersten Pommes Frittes, selbstverständlich mit Mayonnaise wie er es seit je her bevorzugte, in den Mund schob. Mhmm, mir lief schon das Wasser im Mund zusammen, als ich einen seltsamen Piepton vernahm. Irritiert schaute ich mich um.
„Hörst du das auch?“ Fragte ich Giselmar.
„Was denn?“ Er blickte erstaunt und mampfte aber genüsslich weiter.
„Dieses penetrante Piepen, das musst du doch hören.“ Blaffte ich ihn an. „Das kann man nicht nicht hören.“ Giselmar hielt im Essen kurz inne und lauschte, um dann verständnislos den Kopf zu schütteln.
„Da ist nichts, du spinnst“, meinte er schließlich. „Pommes?“
Was hatte er nur immer mit seinen Pommes? Doch als ich zum Tresen ging, stand da keine Portion für mich. Das wird es sein, glaubte ich den Scherz endlich durchschaut zu haben. Pommeseinladung ohne Pommes. Sehr witzig. Aber eigentlich war ich schon recht hungrig und das Schwimmen hatte dazu beigetragen, dass das Loch in meinem Magen größer geworden war. Beherzt wollte ich nach Giselmars Schale greifen, als mich ein Schwindel erfasste und mir hernach schwarz vor Augen wurde.
Ob ich stürzte und fiel, konnte ich nicht sagen, da meine Erinnerung zerfloss und nur noch alles, wie durch Watte an mein Ohr drang. Einzig dieses hartnäckige Piepen verstummte nicht. Das war wirklich absonderlich und noch etwas blieb, der Duft von frischen Pommes, wie es ihn nur beim Imbiss im Strandbad gab. Dann war da dieses Summen, wie hunderte Bienen oder waren es Stimmen? Langsam wurden sie deutlicher und ich glaubte, sie identifizieren zu können. Eine gehörte Giselmar, eigentlich klar, denn er war ja mit mir hier im Strandbad.
„Das ist unverantwortlich“, zeterte eine unbekannte Männerstimme.
„Sie sagten selbst, wir sollten alles erdenkliche probieren“, konterte Giselmar in seiner unverbesserlichen Art.
„Aber doch keine Lebensmittel auf der Station“, wurde ihm widersprochen.
Worum ging es da bloß? Mein Schädel dröhnte und der Streit sorgte nicht dafür, dass es weniger würde. Der Versuch, etwas zu sagen, scheiterte kläglich, denn es gelang mir nicht, einen Laut zu artikulieren. Dann werde ich eben etwas nach den Streithähnen werfen, entschied ich mich kurzentschlossen. Doch auch Bewegen der Arme oder wenigstens der Hände war mir nicht möglich. Enttäuscht seufzte ich.
Die Stimmen schwiegen abrupt und machten einer anderen Geschäftigkeit platz. Irgendwer leuchtete mir mit einem grellen Licht in die Augen, die ich daraufhin geblendet feste zukniff.
„Hören Sie mich?“
Was war das für eine Frage, unwillig grunzte ich, denn mir schien, dass ich immer noch nicht zu einer Antwort fähig war.
„Hey, du hast uns ganz schon in Atem gehalten“, Giselmar war in mein Gesichtsfeld getreten und grinste, als er sich weiter an seiner Portion Pommes gütlich tat. Dann schaute er zwischen mir und der Portion wissend hin und her.
„Spricht aus medizinischer Sicht etwas dagegen, wenn ich ihm etwas gebe?“ Fragte er dann diese andere Person, scheinbar handelte es sich um einen Arzt, was der auch immer bei mir machte.
„Vielleicht ein Stück“, erlaubte er dann mit gönnerhafter Stimme.
„Danke“, Giselmar Stimme klang zuckersüß, „vielleicht sollten Sie die Produkte des Imbisses für Ihre Apotheke ordern, denn wie mir dünkt, haben sie wahrlich Wunderkräfte, dass sie Todgeweihte wieder Leben einhauchen können.“
Was redet Giselmar für einen Unsinn? Doch je mehr ich meine Umwelt wahrnahm, erkannte ich, dass es sich nicht um Unfug handelte, denn ich lag in einem Krankenbett, war umgeben von allerhand Apparaturen, mit denen ich über Schläuche und Kabel verbunden war, und nun konnte ich auch das Piepen deuten, endlich. Aber warum war ich in einem Krankenhaus?
„Erinnerst du dich nicht?“ Wollte mein Freund von mir wissen, als er meine fragenden Augen sah. Als Antwort konnte ich nur mit dem Kopf schütteln. Doch statt mir eine Erklärung zu geben, schob er mir von seiner vortrefflichen Portion, deren Duft mich wieder ins wahre Leben geholt hatte, zwischen die Lippen.