Der Weg des Verräters lag vor ihm, so, wie der Weg des Attentäters in seiner Jugend vor ihm gelegen hatte. Den Weg des Attentäters hatte er beschrittene und mittlerweile war dieser Pfad sein Zuhause. Und nun war er kurz davor, auch den Weg des Verräters zu beschreiten.
Alxis blickte auf seine Unterarme, auf die Tätowierungen; die schwarzen Linien, Dornen, Zähne und Opferzahlen, die sich um seine Haut rankten. Auf das eingebrannte Motto, nach dem sein Orden lebte.
Einmal ist keinmal. Und zweimal ist einmal zu wenig.
Einmal konnte verziehen werden, einmal war unbedeutend. Ein Fehltritt. Ein Test. Der erste Mord, nach dem ein Rekrut sich entschied, ob er diese Richtung auch wirklich einschlagen wollte. Der erste Fehler in der professionellen Laufbahn.
Nach dem ersten Schritt konnte man umdrehen, doch nach dem zweiten ging man immer weiter.
Ein Verrat war verzeihbar. Ein Test. Doch Alxis war kurz davor den zweiten zu begehen. Den größeren. Den notwendigen.
Er zog die Dolche aus seinem Gürtel, hielt die Klingen nach hinten, hob sie an die Lippen und küsste sie. Von links und rechts spürte er neugierige Blicke. Die Crew, die sehen wollte, wie er sprang, die sich jedoch im Hintergrund hielt, um ihm bloß nicht in die Quere zu kommen.
Aus dem Augenwinkel nahm er Yorick war, der ihm einen misstrauischen Blick zuwarf.
Alxis packte die Dolche fester, schob seine Füße ein wenig auseinander, bis er schulterbreit auf dem Deck stand.
In beiden Dolchen war am Knauf ein kleiner Knopf eingelassen. Er atmete tief durch – und drückte sie gleichzeitig nach unten.
Aus seinen Schuhen schnappten Krallen seitlich heraus, bohrten sich in die Planken. Die Sohlen luden sich auf, übten Druck auf das Holz aus, versuchen ihn fortzustoßen, doch die Krallen hielten ihn auf dem Boden.
Alxis Blick streifte die kleine Spannbotin, die aus der Menge der Schaulustigen lugte und – wie alle – darauf wartete, dass er das gegnerische Schiff versenkte. Ihre Stiefel funktionierten auf eine ähnliche, und doch vollkommen unterschiedliche Art und Weise.
Er wartete, bis eine große Welle das Schiff leicht neigte, das Deck in Richtung der roten Segel kippte – und ließ die Knöpfe los.
Die Krallen zogen sich zurück, der Druck, der sich unter seinen Sohlen aufgebaut hatte, schleuderte ihn in die Luft. Alxis konnte sich gut an die ersten Sprünge erinnern, an die unsanften Landungen, die mehrfach gebrochene Nase. Mittlerweile war er besser, der Himmel gehörte ihm.
Wie ein Pfeil flog er durch die Luft auf die roten Segel zu. Die Phantom blieb hinter ihm zurück, das Wasser unter ihm brodelte von der Schlacht. Splitter und Leichen trübten die See.
Für einen kurzen Moment erreichte Alxis eine Höhe, in der er frische Luft schnappen konnte, bevor er in die Rauchschwaden zurückfiel. Er schlug einen Salto, richtete sich so aus, dass er mit Füßen voran auf das gegnerische Schiff zusteuerte.
Die roten Segel kamen schnell näher. Alxis drückte die Knöpfe erneut, die Krallen bohrten sich ergebnislos in die Luft, der Druck, der gegen seine Sohlen presste, bremste den Fall ein wenig.
Dennoch war der Aufprall hart. Kurz bevor er das Deck erreichte, ließ er die Knöpfe los. Die Krallen fuhren wieder in seine Schuhe zurück, mit einer Wucht, die seine Knie knacksen ließ, traf er auf dem Schiff auf. Alxis rollte sich ächzend ab, achtete darauf, sich nicht selbst die Klingen in die Brust zu rammen.
Unter ihm knackten die Planken. Er sprang auf die Beine, ließ die Knaufknöpfe los und drückte stattdessen auf zwei kleinere, auf Höhe der Parierstange gelegene Knöpfe. Eine silbrig glitzernde Schicht umhüllte die Klingen. Druck – purer Druck.
Ein Matrose kam auf ihn zugeeilt. Ein Mann mit meersalzverkrustetem Hemd und nur einem Ohr. Auf seinem Gesicht lag ein freundliches Lächeln. Armer Narr.
Alxis rannte zu ihm, hob den Dolch und stieß die Druckklinge in den Schädel des Matrosen. Sie schnitt nicht, der silbrige Film drückte. Der Knochen zerbrach wie eine Kokosnuss, die von einem Riesen zerstampft wird. Purer Druck. Tausendfach verstärkt.
Um das Schauspiel vollkommen zu machen, tippte er mit der Spitze des Dolchs gegen den Hauptmast. Ein dunkles Knacken ertönte, als der Druck das Holz spaltete. Der dicke Stamm klappte auseinander, krachte auf das Deck, zerschmetterte Teile der Reling und der anderen Masten. Zerfetzte die Segel. Roter Stoff flatterte durch die Luft. Ein Zittern lief durch den Rumpf. Alxis sprang über Trümmerstücke hinweg und verschwand durch eine Tür, die ihn in den Schiffsbauch führte.
Er schaltete die Druckklingen ab, steckte die Dolche ein.
Die Mannschaft erwartete ihn auf dem Zwischendeck. Ein bunter Haufen, Männer und Frauen gleichermaßen, mit Schweißbändern um die Stirn, und Hosen, die sie auf Knielänge gestutzt trugen. Die Gruppe verneigte sich vor ihm, als wäre er einer der neun Götter.
»Ich hoffe, Sie stehen zu ihrem Wort«, sagte der Kapitän, ein Mann mit so dreckigem Vollbart, dass er zweifarbig wirkte. »Sie sind die letzte Chance, die dieses Land hat.«
»Immer«, entgegnete Alxis und spürte sogleich den Stich des Widerspruchs in seinem Herzen. Verräter. »Wo ist er?«
Der Mann hob eine mit Ringen besetzte Hand, eine Frau löste sich aus der Menge. Vor sich hielt sie eine hölzerne Schatulle und darin den Gegenstand, der den Grund für die mit Leichen gespickten Wellen darstellte. Ein Armreif aus ziseliertem Silber, gebetet auf roten Samt.
»Haben Sie die Schattenperle?«, fragte der Kapitän.
»Habe ich«, antwortete Alxis. Er griff nach dem Armreif und legte ihn um sein Handgelenk. Verräter.
Einmal ist keinmal. Aber das war Nummer zwei.