Vor Anspannung schlug ihr Herz in einem stürmischen Rhythmus. Soerin befand sich zwischen den Männern, die auf dem Deck warteten, hatte sich mit ihnen zu Boden sinken lassen und die Füße zu einem Schneidersitz verknotet. Das Curry hatte ein leichtes Brennen in ihrer Kehle hinterlassen, die feuchte Watte hatte sie aus ihren Gehörgängen gekratzt und der Kanonendonner drang nun ungedämpft an ihre Ohren.
Sie konnte die Ungeduld der Anwesenden spüren, konnte sie zwischen all dem Rauch und Schweiß schmecken.
Ein Raunen ging durch die Menge. Ihr Blick zuckte zu dem Schiff mit den roten Segeln, zu dem zersplitterten Mast und den Leinen, die in den Wellen trieben. Ein Mann trat an Deck – der Mann. Selbst aus dieser Entfernung konnte sie erkennen, dass auf seinem tätowierten Oberkörper das Blut klebte.
Ein weiteres Raunen ging durch die Menge. Soerin folgte den Blicken der Mannschaft, entdeckte den König, der keine fünf Meter von ihr entfernt aus einer Tür schritt. Die Menge teilte sich vor ihm.
»Ein Pelzmantel?«, murmelte sie. »Bei diesem Wetter?«
»Er kann keine Hitze spüren.« Die Stimme – sie erinnerte Soerin an die kläglichen Geräusche eines sterbenden Raben – gehörte einem Mann mit nur noch halber Haarpracht. Eine zackige Narbe verunzierte seine linke Gesichtshälfte, spaltete seine Lippen und brach das Lächeln entzwei.
Hm. Sie hatte keine Zeit nachzudenken, denn die Blicke der Männer und Frauen, die um sie herum lungerten, schnellten wieder zurück zu den roten Segeln. Der tätowierte Mann stand einen Moment auf dem Deck, als wäre er festgewachsen, dann sprang er in die Luft. Ohne es kontrollieren zu können, bildete sich auf Soerins Lippen bei diesem Anblick ein Lächeln. Wie sich das wohl anfühlte? Wie die Welt wohl von oben aussah? Sie beobachtete, wie er durch die Luft flog und verspürte einen Stich von Eifersucht. Jedoch nur einen Augenblick, dann übernahm erneut die Aufregung.
Soerins Handflächen waren feucht vom Schweiß. Er ist an Bord. Wer ist Er? Hatte dieser Mann jemanden getötet? Dem Blut nach zu urteilen mit Sicherheit. Aber wenn es nur darum gegangen war, jemanden zu töten, warum hatte man dann nicht auf das Schiff geschossen?
Der blutbesudelte Mann schlug einen Salto, bremste irgendwie seinen Fall und landete mit einer geschmeidigen Rolle auf dem Deck. In einer fließenden Bewegung steckte er seine Dolche in die Futterale und zog eine kleine, hölzerne Schatulle hervor. Seine Rolle endete in einem Kniefall direkt vor dem König, die Schachtel hielt er ihm mit gesenktem Haupt entgegen.
»Da ist er, Majestät«, sagte der Mann. Er? Das da? Die Box?
Die Männer um sie herum sprangen auf, um einen Blick auf den mysteriösen Gegenstand zu erhalten, verdeckten ihr die Sicht, sodass Soerin sich unter dem Einsatz von Ellbogen und Fäusten wieder eine kleine Lücke schaffen musste.
Der Mann ließ den Deckel der Schatulle zurückklappen und enthüllte einen… Armreif? All das für etwas Schmuck?
Enttäuschung machte sich in ihr breit. Neben ihr murmelte die Rabenstimme etwas. »Es stimmt also.«
Sie wandte sich dem Mann zu. »Was ist das?«
In seinen Augen lag Ehrfurcht. »Der Armreif der Vinia. Ein Legende.«
»Was ist daran so besonders?«, fragte sie.
»Sagt dir der Schattenteich etwas?«
»Ja, ich glaube schon. Das ist diese Quelle, in der man tote Verwandte sehen kann, oder?«
»Genau«, krächzte er. »Es gibt mehrere Möglichkeiten in die Schatten zu blicken, der Teich ist die bekannteste. Verwandte sieht man jedes Mal.« Er räusperte sich. »Und mit diesem Armreif sieht man noch dazu diejenigen Personen, die man eigenhändig getötet hat. Der Träger kann sein Leben gegen das eines Toten eintauschen.«
»Wieso sollte das jemand machen?«, fragte Soerin.
»Reue, mein Kind. Dafür ist er da. Eigentlich. Aber dadurch, dass man auch hier die Verwandten sehen kann, benutzen ihn die meisten, um solche zurückzuholen. Gerade Eltern, die ihre Kinder verloren haben.«
»Oh... das bedeutet… die Prinzessin?«
»Genau«, krächzte der Mann. »Er wird die Prinzessin zurückholen.« In seiner Rabenstimme schwang etwas Trauriges mit und einen Augenblick später wurde Soerin bewusst, warum das so war.
»Aber es gibt doch die Prophezeiung.« Sie dachte an die Geschichte, die ihre Mutter ihr vor Jahren erzählt hatte. Ein Mitglied der Königsfamilie, mit dem von Göttern geküssten Blut, das von den Toten zurückkehrt. Die Prophezeiung besagte, dass, sollte so ein Fall eintreffen, diese Person das Gleichgewicht zwischen Leben und Tod stören würde. Sie würde die Schatten in die Welt der Menschen ziehen. Eine untote Person, die Schatten in sich trägt und deren Berührung tötet. Die ganze Ländereien vernichten kann. Nicht gut.
Der Mann krächzte zustimmend.
»Ist sie wahr? Das alles wird passieren?« In Soerins Stimme schwang Panik mit. Ein angsterfülltes Zittern lief durch ihren Körper.
»Wir werden sehen. Wir werden sehen…«
Ein haariges Bein versperrte Soerin für einen Moment die Sicht und als sie es wieder beiseitegestoßen hatte, hielt der König den Armreif bereits in der Hand. Er ließ ihn um sein Handgelenk schnappen, griff in seinen Mantel und zog eine kleine, schwarze Kugel heraus. Gebannt beobachtete Soerin die Bewegungen, sah zu, wie der König mit einem Seufzen die Perle in eine Fassung des Armreifs steckte.
Seine Sicht schien zu verschwimmen, desorientiert hastete sein Blick über das Deck. Die Mannschaft wich vor ihm zurück, drängte sich an die Reling. Soerin musste sich erneut gegen ein störendes Bein wehren, bemerkte dabei den blutbesudelten Mann, der den Vorgang mit angespanntem Gesichtsausdruck beobachtete. Geistesabwesend rieb er sich sein Handgelenk.
Der König taumelte über die Planken. Er schien Dinge zu sehen, die nicht wirklich da waren, bahnte sich mit seinen Händen einen Weg durch… die Schatten? Ein Schauer lief über Soerins Rücken.
Vereinzelte Sonnenstrahlen, die sich durch die Rauchschicht bohrten, brachten den Armreif zum Funkeln.
»Lyra?«, fragte der König. »Wo bist du? Lyra?«
Soerin bemerkte ein nervöses Zittern in ihren Fingern, dem Rest der Mannschaft schien es nicht besser zu gehen. Sie alle schienen verunsichert, wussten nicht, was sie von dem Anblick halten sollten.
»Lyra? Schatz. Lyra? Nein, nicht du.« Er stieß etwas zur Seite, das nur er sehen konnte. »Lyra?«
Plötzlich lief ein Krampf durch den Körper des Königs. Der Arm, an dem der Reif glänzte, war zur Seite ausgestreckt, die kleine, schwarze Kugel verströmte ein pulsierendes Licht, das widersprüchlich dunkel war. »Nein!«, stieß der König hervor. Mit seiner anderen Hand wollte er auf etwas einschlagen, doch noch bevor seine Faust das unsichtbare Wesen erreichte, ertönte ein ekelerregendes Geräusch. Eine dünne Linie formte sich um den Hals des Königs, als hätte ihm jemand den Kopf abgeschlagen und wieder aufgesetzt. Rauch und Schatten quollen daraus hervor. »Nein«, stieß er erneut hervor. »Nicht du.« Seine Stimme war kaum mehr als ein panisches Krächzen.
Soerin beobachtete mit offenem Mund, wie sich die erhobene Faust des Königs zu Schatten auflöste, wie der gesamte Körper nach und nach verschwand und eine unförmige, schwarze Wolke zurückließ. Der Armreif schwebte in der Luft und das Gemisch aus Schatten und Rauch wurde durch den schmalen Silberring gezogen.
Auf der anderen Seite des Reifs flossen die Schatten zusammen, formten einen Arm, einen Oberkörper, ein erstes Bein. Eine ganze Person – einen Mann. Er hatte gebräunte Haut, trug eine rote Jacke von der Art, wie sie vor einigen Jahren modisch gewesen war. Sein Kopf ruhte abgetrennt auf dem Hals, doch die Schatten flossen in die Wunde und versiegelten sie hinter sich.
»Das ist nicht die Prinzessin«, sagte Soerin.
»Richtig«, krächzte der Mann neben ihr.
Auf dem Deck war alles still. Niemand wusste, wie er sich verhalten sollte. Die Mannschaft hatte eine Prinzessin erwartet, hatte sich darauf vorbereitet, niederzuknien. Manche taten es, andere standen unschlüssig herum, auf ihren Gesichtern lagen fragende Ausdrücke.
Der Fremde Mann mit der roten Jacke riss sich den Armreif vom Handgelenk – die schwarze Perle war geplatzt und hatte ihr dunkles Licht verloren – und schleuderte ihn mit einer achtlosen Bewegung über Bord. Das Schmuckstück versank in den Wellen.
»Mein Name –.« Die Stimme war ein Krächzen. Trocken und rau. Kurz dachte Soerin, der Kanonendonner hatte ihr Gehör beschädigt, da jeder zu krächzen schien, doch dann räusperte sich der Mann. Es klang wie das schleimige Husten einer alten Frau, das halb im Hals stecken bleibt. »Mein Name ist Fabian Olora «, sagte der Mann. »Der König ist tot.« Erneut ging ein Raunen durch die Menge. Eine Hand voll Matrosen fiel auf die Knie, eine andere stand dafür wieder auf. Die königliche Leibgarde griff unentschlossen nach ihren umgürteten Schwertern, zog sie jedoch nicht.
Soerin kauerte weiterhin in ihrem Schneidersitz auf dem Boden, ihre Erleichterung entließ sich in einem unterdrückten Kichern.
Das Meer war ruhiger. Der Rauch verzog sich und langsam erstrahlte die Sonne wieder stärker. Schweiß perlte von ihrer Stirn, als sie zu der weißen Flagge aufblickte, die an der Spitze des Masten flatterte, und gleichzeitig den Wellen lauschte, die beruhigend gegen den Rumpf plätscherten. Die Kanonen waren verstummt, die Mannschaft saß auf dem Deck verstreut. Unentschlossen. Verplant.
»Und das war es jetzt?«, fragte Soerin den Mann. Er hatte sich nicht fortbewegt und auch sie hatte keine Anstalten gemacht sich zu erheben.
»Das war es wohl. Nur die Götter wissen, was jetzt passiert. Der König ist tot und irgendein Typ, der die letzten Jahre in den Schatten herumgelungert hat, will sich auf den Thron setzen?« Er zuckte die Schultern, räusperte sich, doch das Krächzen blieb. »Wir werden sehen, was passiert. Aber vorerst gebe ich mich mit dem Sonnenschein zufrieden. Und damit, dass nicht mehr andauern die Kanonen donnern.«
»Ja«, pflichtete Soerin ihm bei.
Sie lehnte sich zurück, ließ sich mit dem Rücken aufs Deck sinken und wollte gerade die Augen schließen, als jemand nach ihr rief.
»Du. Spannbotin.«
Soerin schaute auf. Der neue König – oder was auch immer er war – kam auf sie zu. Neben ihm der tätowierte Kerl, der, den Göttern sei Dank, das Blut von seinem Oberkörper gewaschen hatte. Etwas ließ sie die Stirn runzeln. Kennen die sich?
»Ja?«
»Überbring diese Nachricht an die Besatzung des Schiffs mit den roten Segeln.« Er reichte ihr einen kleinen, hölzernen Zylinder, der dafür sorgte, dass die darin enthaltene Schriftrolle nicht nass wurde. Sie unterdrückte ein Seufzen, nahm die Botschaft entgegen und steuerte auf die Leiter zu. Blickte zu dem zersplitterten Mast und fragte sich, was für ein Anblick sie auf diesem Schiff erwartete.
Vorsichtig ließ sie sich zu den Wellen hinab, setzte einen Fuß auf das Wasser und atmete tief durch. Dann ließ sie die Sprossen los, wandte sich den roten Segeln zu und rannte schwitzend über das Meer.
Nur nicht stolpern.