Alxis schlenderte durch die Gassen von Ranaria. Glatte Steinfassaden aus weißem Marmor erhoben sich neben ihm, schienen das Licht des Mondes einzufangen und tauchten seinen Weg in ein surreales Licht. Ein Mohnblutkater huschte vor ihm über das Pflaster, das orange leuchtende Fell hinterließ für einen Augenblick einen blassen Lichtstreifen in der Luft. Wie glühende Dampfschwaden, vom Nachtwind langsam aufgelöst.
Was er tat, war verboten. In seinem Orden wurde es nicht geduldet, der König würde ihn vermutlich hinrichten lassen, sollte er es erfahren. Doch es gab Dinge, gegen die man sich nicht wehren konnte.
Alxis schlüpfte in einen Hinterhof, der an die Palastmauer grenzte. Er sah sich nach den Wachen um, erblickte jedoch keine zwischen den Zinnen patrouillierenden Speerspitzen. Nach einem Blick über die Schulter, schob er einige Efeuranken beiseite und schlüpfte durch ein Loch in der Mauer, das diese verdeckt hielten. In den Palastgärten duckte er sich sogleich in Büsche, die fein zurechtgeschnitten den Sandweg säumten.
Der Mond erhellte die Szenerie nur spärlich, besprenkelte die Blüten der Klisterbäume mit blassem Licht. Trotzdem drückte Alxis sich in die Schatten der Mauer, als er zwischen den Büschen auf das Holzspalier zu schlich, das zu einem Fenster aus buntem Glas führte, zwei Stockwerke über dem Boden.
Das Fenster stand offen, sie erwartete ihn bereits.
Alxis zögerte. Er hielt die Schattenperle, die er in der sagenumwobenen Stadt Telanor erstanden hatte, zwischen den Fingern, betrachtete die dunklen Schlieren, die sich darin kräuselten. Auf der ganzen Welt gab es nur noch eine Handvoll dieser Perlen.
»Was ist los?«, fragte der Mann. »Sie müssen sich beeilen.«
Alxis blickte den Kapitän an, nickte. In seinem Inneren fühlte es sich an, als hätte etwas einen Weinschlauch angestochen, der nun langsam eine dunkelrote Flüssigkeit ausblutete – lang vergessene Gefühle, von denen er nicht einmal gewusst hatte, dass er sie noch besaß.
Er schob die Erinnerungen beiseite, knurrte. »Tretet zurück.«
Der Mann nickte, die Mannschaft wich an den Rand des Rumpfes und schaffte ihm den notwendigen Freiraum.
Alxis steckte die Perle in die dafür vorgesehene Fassung des Armreifs.
Pranus war ein alter, in sich zusammengefallener Mann, dem man nie eine der Führungsrollen des Ordens zugetraut hätte. Dennoch verbarg dieses runzlige Gesicht einen Attentäter, der dutzende – hunderte – Personen in die Schatten geschickt hatte.
»Ah, Alxis. Wie schön.«
»Sie wollten mich sehen, Meister?«
»In der Tat. Ich habe einen Auftrag, den ich dir anvertrauen möchte. Er ist wichtig, er wird Wellen schlagen. Doch sag mir zuerst, was dir auf dem Herzen liegt. Mir ist zu Ohren gekommen, dass dich etwas beschäftigt? Bedrückt?«
Alxis ließ sich auf der Bank nieder, die in das Pflaster des Marktplatzes geschraubt war. Seine Hände schwitzten, er musste sich dazu zwingen, die Worte hervorzuwürgen. »Ich… ich glaube, ich habe mich verliebt.«
Alxis hatte Wut erwartet. Einen finsteren Blick oder einen enttäuscht geschüttelten Kopf. Stattdessen runzelte Pranus die Stirn. »Du glaubst es?«
»Ich… ja, ich weiß es nicht. Wie fühlt es sich an?«
»Normalerweise nicht so, dass man nachfragen muss«, sagte Pranus mit einem Seufzen. »Aber jeder ist einmal verliebt, mach dir keinen zu großen Kopf darum.«
»Ich dachte, der Orden verbietet es.«
»Streng genommen nicht, nein. Der Orden unterstützt es nur nicht. Es kann bei der Arbeit behindern, glaub mir, ich spreche aus Erfahrung. Wenn jemand diesen Weg beschreiten möchte, ist das seine Wahl, es führt in der Regel nur zu einem weniger professionellen Attentäter und damit zu weniger professionellen Aufträgen.«
Alxis dachte einen Moment über diese Worte nach und nickte dann.
»Einmal ist keinmal«, sagte Pranus. »Du kannst dich selbst entscheiden. Du kannst sie vergessen oder den Weg beschreiten, auf den sie dich führen wird. Nur die Götter wissen, wo er endet.«
»Ich werde… ich werde den Weg nicht beschreiten.«
»Hm. Nicht so voreilig. Aber wenn du dir nicht einmal sicher bist, ob du sie liebst, wird das wohl das Beste sein.«
Die beiden Männer beobachteten die Sogspatzen, die über den Platz schossen und Händlern ihre Waren aus den Ständen stahlen.
»Sie haben einen Auftrag für mich?«, fragte Alxis schließlich.
Pranus reichte ihm eine kleine Pergamentrolle und erhob sich. Die Knochen ächzten, doch in der Haltung des Mannes lag immer noch etwas Bedrohliches. »Es steht alles darin. Viel Glück.«
Während sein Meister zwischen den Menschen verschwand, rollte Alxis die Pergamentrolle auseinander. Ein dünnes Kettchen aus Goldgliedern fiel ihm in die Hand.
Alxis blieb der Atem weg, als er das Ziel sah. Ein leichtes Zittern befiel seine Glieder.
Lyra Kaaden, Prinzessin Kadaniens. Ausführung soll auf einen Laien hinweisen, die beigefügte Kette muss blutbesudelt am Tatort zurückgelassen werden.
Die Prinzessin. Er schnappte nach Luft, besaß dennoch die Geistesgegenwertigkeit, das Pergament zusammenzurollen und mit der Kette einzustecken. Mit schnellen Schritten entfernte er sich vom Marktplatz und tauchte in das Gassengewirr ein.
Die Prinzessin.
Die Frau, für die er Gefühle entwickelt hatte.
Mit dem einrastenden Klicken der Perle erschienen um ihn herum die Schatten.
Dutzende unförmige Gestalten – Männer, Frauen, das ein oder andere Kind und sogar Tiere – füllten den Rumpf. Durchscheinende Wesen auf Rauch und Schatten, schwarz und undefiniert. Lediglich die, die ihm am nächsten standen, konnte er identifizieren. Er konnte Gesichter erkennen, die Wunden, die er ihnen zugefügt hatte.
Alle Personen der letzten zwei Generationen, die sein Blut teilten, alle Personen deren Leben er eigenhändig genommen hatte. Er könnte sie erlösen. Er könnte sie in die ewige Leere schicken, die jenseits der Schatten lag und in die sie übergehen würden, sobald die Erinnerung an sie gestorben war.
Doch er durfte sich nicht damit aufhalten. Er war nur hier, um eine Person vorzeitig in die Leere zu befördern. Eine Person, die er auch schon vorzeitig in die Schatten befördert hatte.
»Warum?« Ein Mann war an ihn herangetreten, er glitt wie ein Geist über die Planken des Zwischendecks, ohne diese zu berühren. Er deutete auf seinen zerschmetterten Brustkorb. »Warum? Was habe ich dir getan?«
»Du Bastard!«, schrie ein anderer.
Alxis drehte sich im Kreis, hielt nach seiner Zielperson Ausschau. In einer Hand hielt er seinen Dolch, mit der anderen bedeckte er den Armreif, um zu vermeiden, dass er ohne seinen Willen von einem der Schatten benutzt wurde.
Er tat einige Schritte durch die Menge. Immer mehr Schattengestalten drängten an ihn heran, schrien ihm ihre Fragen entgegen. Beschimpfen und verfluchten ihn.
»Wer war es? Wer hat den Auftrag gegeben?«
Alxis warf der Frau nur einen kurzen Blick zu.
»War es mein Mann? Es war mein Mann, ja? Nimmst du auch Aufträge von Toten an? Tötest du meinen Mann?«
»Es war deine Tochter.«
Die Schattenfrau verstummte, in ihrem Gesicht verrutschte etwas und sie blieb zurück, als Alxis sich weiter durch die Menge schob.
Durch die Schatten hindurch, konnte er die Crew sehen, die den größtmöglichen Abstand zu ihm hielt. Er schritt weiter zwischen den unförmigen Gestalten entlang. Der Matrose mit nur einem Ohr, den er erst vor wenigen Minuten auf dem Deck getötet hatte, trat auf ihn zu. Er sagte kein Wort, der Schädel war auf eine Art zertrümmert, die ihn nicht mehr sprechen ließ. Doch in dem Blick des einen, verbliebenen Auges, lag die gleiche Frage, die ihm von allen Seiten zugeschrien wurde. Wieso?
Alxis trat auf ihn zu, stieß ihm den Dolch in die Brust und mit einem traurigen Lächeln löste der Mann sich auf und betrat die Leere.
»Mich auch«, schluchzte jemand. »Mich auch, bitte.« Alxis tat ihm den Gefallen.
Er spürte Hände, die versuchten ihn festzuhalten, die versuchten, ihm den Armreif abzunehmen; Schläge, die er kaum wahrnahm, da die Fäuste zu Rauch zerstoben, sobald sie ihn trafen. Eine Gestalt warf sich in den Dolch, eine zweite tat es ihr gleich.
Um ihn herum schrien die Toten lauter. Warum? Warum? Warum? Bastard! Warum? Wer? Mistkerl! Du Mistkerl! Warum?
»Alxis?«
Einen Augenblick stand die Welt still, einen Augenblick verblassten die Stimmen um ihn herum.
»Alxis?«, fragte sie erneut.
Mit rasendem Herzen drehte er sich zu der Stimme um. Erblickte das rote Haar, das sich aus den Schatten schälte, als sie nähertrat.
Sie.
Es war das erste Mal, dass er sich mit einer Waffe in den Palast schlich. Ein langes, dünnes Messer mit einem Griff aus Buchsbaumholz. Er kletterte das Spalier hinauf, zog sich durch das Fenster der königlichen Bibliothek. Es stand offen. Einladend voller Vorfreude.
Sie saß auf einem Sessel, den Rücken zu ihm, neben ihr eine einzelne Kerze. Das Licht tauchte ihr Haar in einen flackernden Schein, es wirkte fast, als würde sie selbst brennen. Gedankenverloren blätterte Prinzessin Lyra Kaaden in einem Wälzer über Tedorische Kriegstaktiken.
Alxis zog das Messer aus der Lederscheide, die locker an seinem Gürtel hing. Er zögerte.
»Ich weiß, dass du da bist«, sagte sie, ohne aufzublicken. »Ich hab das Spalier knarzen hören. Irgendwann wird es unter deinem Gewicht einbrechen.«
»Und dabei habe ich mir solche Mühe gegeben.« Seine Stimme wirkte monoton. Verletzt.
»Was ist los?« Lyra klappte das Buch zu, drehte sich zu ihm um. In ihrem Gesicht lag ein Lächeln, die Augen funkelten glücklich. »Kann ich –.« Ihr Blick fiel auf das Messer in seiner Hand. Die Augen weiteten sich. »Was?«
Angst schwappte in ihm hoch. Kaum länger als den Flügelschlag eines Sogspatzen schwankte Alxis zwischen Angriff und Flucht. Dann übernahm seine Ausbildung. Unterdrückte die Gefühle, unterdrückte die Gedanken. Die Tränen.
Mit einem Satz war er bei ihr und stieß das Messer in ihre Brust. Es war unwirklich, wie ein Traum. Einmal, zweimal. Wie eine Trance. Dreimal. Viermal. Laienhaft.
Ein erstickter Schrei drang aus ihrer Kehle. Alxis fischte das kleine Kettchen aus seiner Tasche, zog es durch die Blutspritzer, die sich auf dem Bucheinband sammelten und ließ es neben den Sessel fallen. Lyras Hand krallte sich in seinen Unterarm, in ihren Augen lag eine Frage. Wieso?
Er riss sich los, als im Korridor Schritte ertönten, sprang aus dem Fenster und verschwand in der Nacht.
Die Gefühle kamen erst zurück, als er mit klopfendem Herzen an der Stadtmauer lehnte und aus der Ferne die panischen Lichter beobachtete, die den Palast erhellten. In seiner Brust tobte ein Schmerz, als wäre die Klinge in sein eigenes Fleisch gedrungen. Er erinnerte sich an das Lächeln. An all die schönen Treffen.
Eine Träne erreichte seine Lippen, sie schmeckte nach Salz und Trauer. Es war die erste Träne, die er nach einem Auftrag vergoss und er schwor sich, dass es nach dieser Nacht keine mehr geben würde. Einmal ist keinmal.
Im Palast läutenden die Glocken. Lyras Lächeln bohrte sich in Alxis Herz. Die Augen, der Blick. Wieso?
Es fühlte sich an wie Verrat. Sein erster.
Doch einmal war keinmal.
»Lyra.«
»Möchtest du es mir erklären?«, fragte sie.
»Es… war ein Auftrag.«
»Das alles? All die Male?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Nur der letzte Abend.«
Neben ihm warf ihm ein vierschrötiger Schattenmann ein Schimpfwort an den Kopf.
»Du bist alt geworden. Aber du lebst noch, oder?«
Alxis gab sich alle Mühe, nicht auf die Wunden in ihrem Brustkorb zu schauen.
»Ja. Ich lebe noch.«
»Das bedeutet…«
Alxis hob die Hand leicht an, die er über den silbernen Armreif gelegt hatte, verdeckte ihn aber sofort wieder.
»Der Armreif von Vinia, der Göttin der Reue.« In ihrem Gesicht leuchtete etwas auf. »Um unumkehrbare Taten umkehrbar zu machen. Ich habe darüber gelesen, habe jedoch nicht gedacht, dass es ihn tatsächlich gibt. Du… Alxis, du bist nicht hier, um meinen Platz in den Schatten einzunehmen, oder? Du weißt –.«
»Nein«, sagte er und schluckte. Seine Kehle war wie ausgetrocknet. »Bin ich nicht. Dein Vater möchte es. Er will dich zurückholen.«
»Das darf er nicht! Göttliches… königliches Blut darf nicht von den Toten zurückkommen. Das weiß er!«
»Er weiß es. Aber ein einfaches Verbot… eine einfache Prophezeiung kommt nicht gegen die Trauer eines Vaters an. Er hat den halben Kontinent niedergebrannt, um herauszufinden, wo sich der Armreif befindet.«
»Die Folgen…« Sie verstummte. »Deswegen bist du da. Und nicht er.«
Alxis nickte.
»Du wirst mich in die Leere schicken.«
Alxis nickte erneut. »Nur so kann er dich nicht zurückholen.«
Lyra blickte zu Boden. »Dann… tu es. Ich will nur, dass du eines weißt: ich vergebe dir nicht.«
»Ich weiß.« Alxis rammte ihr den Dolch in das Herz und zerstieß sie zu Schatten.
Den Armreif riss er sich vom Handgelenk, die Schatten der Toten verblassten.
Tränen kamen keine. Nie wieder.
Der König lungerte auf seinem Thron, als hätte er sämtliche Kraft verloren, doch in seinen Augen lag glühende Wut. »Du bist dieser Spion, richtig?«
»Attentäter, Majestät«, antwortete Alxis.
»Attentäter. Hm. Du würdest auch einen lausigen Spion abgeben. Weißt du, wer mir gesagt hat, wie ich dich kontaktieren kann? Mein Hofnarr. Und so, wie du mit deinen Fähigkeiten prahlst…«
»Mein Orden hält nicht viel von Geheimnistuerei, eure Hoheit. Die Schatten gehören nicht uns, sie gehören den Toten.«
»Den Toten, hm? Sag mir Attentäter, wie entzieht ihr euch der Hinrichtung, wenn ihr öffentlich Morde begeht?«
»Man kann Verträge eingehen, Majestät. Man kann sich absichern. Und Vertrauen zu den Auftragsgebern wäre ebenfalls ein wichtiger Punkt. Solange man nicht gesehen wird... Natürlich könnten Sie uns hinrichten lassen, doch ohne Beweise, worauf würde diese Hinrichtung fußen? Auf Prahlereien?«
Der König schnaubte. »Ich will dich nicht hinrichten lassen. Sag mir… siehst du in mir einen vertrauenswürdigen Auftraggeber?«
»Sie haben eine ganze Armee, Majestät. Wozu brauchen Sie einen Attentäter?«
Der König deutete nur auf die Druckschuhe an Alxis‘ Füßen. »Meine Soldaten können mit diesen Dingern nicht umgehen. Und in manchen Situationen ist ein Attentäter… effizienter. Und mein Hofnarr hat gesagt, du seist der Beste.«
Alxis nickte. »Worin besteht Ihr Auftrag, Majestät?«
»Zuerst«, der König zog das dünne Goldkettchen aus seiner Robe und warf es Alxis vor die Füße, »bring mir den Besitzer dieser Kette. Fabian Olora. Töte seine Männer. Alle. Und dann…«, sagte er mit einem Seufzen, »holen wir uns einen Armreif.«