Schwitzend rannte Soerin über das Meer.
Das Wasser unter ihr war uneben, die Stiefel hingen an ihren Füßen wie Bleigewichte.
Nicht auf das Schiff mit den roten Segeln schießen.
Der Viermaster ragte am Horizont inmitten der feindlichen Flotte auf. Nicht darauf schießen.
Sie sprang über eine kleine Welle, die von der Seite herangerollt kam und eilte weiter.
Ihre Schuhe trugen sie über das Wasser, um die Schiffe herum, die sich für die nächste Schlacht bereitmachten. Um die zersplitterten Reste ihrer Vorgänger, die in den Wellen versanken.
In der Luft hingen Schreie. Rauch. Er setzte sich in ihrer Nase fest, in den Atemwegen. Brannte darin wie ein kleines Feuer, vermischte sich mit dem Salzwasser, das ihr hin und wieder ins Gesicht spritzte.
Soerin wich einigen Planken aus, setzte über zwei Fässer hinweg. Neben ihr trieb ein verkohltes Hemd in den Wellen. Ihr Blick glitt hinab ins Wasser. Folgte den Lichtstrahlen, die sich zwischen Holzsplittern einen Weg hinunter in die Dunkelheit suchten.
Ein Schauer krabbelte über ihren Rücken, Unbehagen stieg in ihr auf. Sie war es nicht gewohnt über das Meer zu laufen. Sie wusste nicht, wie es funktionierte. Es sollte eigentlich nicht funktionieren, es war unnatürlich.
Zinar hatte ihr nicht viel darüber erzählt. Er hatte ausweichende Antworten gegeben, hatte ihr versichert, dass ihre Stiefel sie tragen würden. Sie waren angeblich dafür gemacht, konzentrierten die Oberflächenspannung des Wassers unter ihr, sodass sie darauf stehen konnte. Laufen.
Soerin hatte es nicht verstanden. Sie hatte sich lediglich gemerkt, dass sie nicht stolpern durfte. Sollte sie stolpern – sollten ihre Spannungsstiefel unter Wasser geraten – würde sie sinken.
Wie ein Stein.
Unter ihr zog eine Spiegelschlange durch die Tiefen. Sie riss die Augen los, suchte nach dem Schiff, das sie erreichen musste. Da vorne. Nicht schießen. Rote Segel - nicht schießen.
In der Ferne donnerte eine Kanone, Soerin bekämpfte den Drang, sich zu Boden zu werfen. Es gab keinen Boden.
Sie rannte weiter. An dem Heck eines Schiffes vorbei. Eine Welle baute sich neben ihr auf, mit einer uneleganten Bewegung sprang sie darüber hinweg.
Die nächste war größer. Höher. Soerin nutzte einige Wrackteile, die um sie herum im Ozean trieben; setzte eine Holzkiste ein, um höher zu springen.
Mit den Armen rudernd, landete sie auf dem Wellenkamm, hüpfte reflexartig hinter ihm hinab.
Ihr Ziel lag unmittelbar vor ihr. Zwanzig Meter.
Von hier unten wirkte das Schiff um einiges größer, als es ihr normalerweise vorkam. Es ragte wie ein Haus in die Höhe, die Masten schienen sich in die Rauchwolken zu bohren.
Aufgeregte Rufe drangen an ihre Ohren. Befehle. Schreie.
Neben der Schiffswand schwammen einige Holzfetzen. Soerin sprang über zwei hinweg, balancierte über den dritten. Trat auf das Wasser zwischen ihnen. Ihre Finger berührten gerade die Schiffswand, als eine Welle neben ihr brach.
Das Wasser begrub den ersten Stiefel unter sich, der augenblicklich die Fähigkeit verlor sie zu tragen. Er sackte ab, zog sie nach unten. Soerin krallte sich in die Planken – in die schmalen Lücken zwischen ihnen – als der zweite Stiefel ebenfalls sank. Wie zwei Klötze zerrten sie an ihr.
»Nur nicht stolpern«, hörte sie Zinars Stimme in ihrem Kopf. »Wenn die Dinger keine Spannung mehr aufbauen können, sind sie nutzlos. Schlimmer als nutzlos. Sie wirken dann in die entgegengesetzte Richtung, ziehen dich hinab. Du wärst schneller am Grund als du sie aufbinden könntest.«
Soerin schrie auf, krallte sich in den Schiffsrumpf. Salzwasser brannte in ihren Augen, drang in ihre Nase ein. Die Stiefel schienen ihren Körper auseinanderzureißen, ihre Arme brannten.
Zitterten.
Mit jeder Welle schwappte Panik über sie hinweg.
Neben ihr platschte ein Tau ins Wasser. Hektisch griff sie danach, blickte hinauf. Einige Männer zogen sie in die Höhe, haarige Arme wuchteten sie über die Reling und aufs Deck.
Soerin hustete Salzwasser auf die Planken. Dankbar blickte sie auf, begegnete einem Blick aus schwarzen Augen, der sie erstarren ließ.
»Eine Spannbotin? Was gibt es?« Die Stimme klang dunkel, kratzig.
Soerin rappelte sich auf, wischte sich einige Haarsträhnen hinter die Ohren, die auf ihrem Gesicht klebten.
An den Mann vor ihr würde sie sich nie gewöhnen. Breite Schultern, Arme, die aussahen, als könnten sie Schädel wie Walnüsse knacken. Seine Schneidezähne waren vergoldet, eine lange Pfeife hing zwischen ihnen. Er knurrte, als sie nicht direkt antwortete.
»Das Schiff«, keuchte sie, »mit den roten Segeln.« Soerin deutete auf die feindliche Flotte. »Nicht schießen.«
Der Mann runzelte die Stirn. »Wieso nicht?«
»Keine Ahnung. Einfach nicht schießen.«
»Ja, verstanden.« Er brummte etwas Unverständliches, tauschte mit einem schmächtigen Offizier, der neben ihm wie ein Ast neben einem Baumstamm wirkte, einige Worte. »Geh zurück«, sagte er schließlich. »Ich will eine Begründung.«
Soerin seufzte, nickte aber.
Jemand drückte ihr das Tau wieder in die Hand.
Sie kletterte über die Reling, ließ sich langsam hinab. Mit ihren Spannungsstiefeln landete sie auf dem Ozean und rannte los.
Nur nicht stolpern.