„Ha! Har-har!“ (Pass auf, da ist es gefährlich), schrie Lu.
„Š.“ (Komm wieder hier her), mahnte Niki und wedelte mit der Hand.
Nur noch dieses kleine Stück, etwas mehr, diese Winzigkeit noch. Niš streckte ihren Arm, machte sich so lang sie konnte und bekam den Zweig zu fassen. Vorsichtig zog sie ihn zu sich heran, bog ihn und hielt ihn fest, damit sie mit der anderen Hand an die Beeren herankam. Dabei balancierte sie auf ihren Zehen, unanständig nah am Abgrund der Felskante. Unter ihr Geröll, ein paar Pflanzen und viel Nichts und Tod. Erbauliche Aussichten. Sie warf einen Blick zurück, die anderen sahen ihr zu. Die älteren von ihnen zupften noch an den Büschen. Die jüngeren waren entweder sehr neugierig oder kniffen ängstlich die Augen zusammen. Sie sah wie die meistens versuchten die spärliche Ausbeute in den alten, zerschlissenen Lederbeuteln zu verstauen. Erbärmlich traf ihren Zustand noch am ehesten. Doch das Kleinwild war rar geworden und die Jäger seit etlichen Monden nicht zurückgekehrt. Wahrscheinlich hatten sie nicht überlebt. So etwas kam vor. Selten, aber es bedeutete praktisch immer den Tod eines gesamten Stammes.
Nicht ihr Stamm, die sich die Šaeš - Volk des Himmelsfeuers (Sonne) nannten. Oh nein, nicht wenn Niš es verhindern konnte und selbst wenn sie abstürzte, dann gab es eben einen Bauch weniger zu füttern, auch gut. In jedem Fall ein Gewinn für ihre Leute. Entweder sie pflückte die reifen, vollen, schwarzen Beeren, oder irgendjemand würde sterben. Sie klammerte sich mit den Zehen in den Dreck und streifte mit ihren Fingern alle reifen Beeren von den Rispen. Sie fielen regelrecht von alleine herab, bei dem bloßen Kontakt. Die noch etwas saureren zierten sich und die kleinen grünen, die noch ganz unreif und auch unverdaulich waren, gingen gar nicht erst ab. Da hätte sie schon richtig Kraft aufwenden müssen. Ihre Hände waren von den kleinen mit Widerhaken bestückten Zweigen des Busches schon ganz zerstochen. Die ungewohnte Sammelarbeit, das Graben nach Wurzeln und das Knacken von Nüssen hatte Spuren hinterlassen.
Sie wäre lieber bei den Grasflechtern. Die schlitzen sich zwar auch andauernd die Finger auf, aber sie mussten sich nicht mit dem ganzen Körper am Rand einer Klippe in einem Dornbusch winden. Ihr Schurz blieb ständig hängen, die Blattschneider und Läusefresser krabbelten ihr über die Beine und bissen ebenfalls zu. Vor allem im Fall der riesigen Zangen-Insekten war dies sehr schmerzvoll, denn dann konnte man auch gleich zur Heilerin gehen und sich die Haut versorgen lassen mit Salben aus Kräutern und Speichel. Das sauer riechende Kraut brannte, aber wenigstens entzündete sich dann keine der fiesen Bisswunden. In anderen Fällen, wenn Jäger verletzt wurden oder jemandem beim Werkzeug herstellen der Obsidian um die Ohren flog und schnitt, konnten die Beisswerkzeuge der Insekten auch als Klammern benutzt werden. Wenn man denn grad welche zur Hand hatte.
Sie spürte, wie sie langsam den Halt verlor mit ihrem Fuß. Doch der noch immer vollhängende Ast war so verführerisch. Ihre Ausbeute war meistens ohnehin nur mittelmäßig, sie konnte auf keinen Fall die guten, dicken Beeren zurück lassen. Zu den blutigen Schnitten an ihren Händen gesellten sich der lilafarbene Saft der Beeren und ein paar gelbliche Kerne, die daran kleben blieben. Im Gegensatz zu ihren Zehen, die nicht am Grund klebten. Sie zog die Hand zurück und entleerte ihre sie in dem kleinen Beutel, der um ihren Hals hing an einem Lederstreifen. Umständlich zog sie die Hand wieder heraus, mehr Saft klebte an dem alten Leder als noch in den Beeren war. Sie musste umsichtiger sein, durfte die Finger nicht so fest zusammenpressen. Die anderen schrien noch immer nach ihr.