Diesmal machte der Gang einen scharfen Knick nach links und dann gleich noch einen. Doch als sie den nächsten Raum erreichten, bekam Cassandra mal wieder ziemlich üble Kopfschmerzen. Etwas stimmte hier ganz und gar nicht. Wenn ihr Gefühl sie nicht täuschte, und das tat es in solchen Dingen nie, dann befand sich dieser Raum halb in dem letzten. Nur, was konnte das bedeuten? Im schlimmsten Fall befanden sie sich in einem mehrdimensionalen Labyrinth wie damals in dieser Firma. Im besten Fall … nun, das würde heißen, dass sie sich irrte, und was solche Dinge betraf, irrte sie sich nicht. Sie konnte nur hoffen, dass es hier irgendwo einen Weg raus gab, der nicht von einem Monster bewacht wurde.
Im neuen Raum lag wieder ein Stapel Papier, aber er war nur spärlich beleuchtet. Beinahe schien es Hermine, als müssten sie sich das Licht erst wieder verdienen. Die Buchstaben über der Tür gegenüber waren dennoch gut zu lesen. „Eiffelturm Strich 33FRCDG, Kolosseum Strich Fragezeichen“, las sie vor. „Was soll das denn?“
„Hey, die Abkürzung kenne ich!“, rief Chloe aufgeregt. „CDG steht für den Charles-de-Gaulle Flughafen in Paris.“
„Woher weißt du das denn?“, wollte Hermine ganz verblüfft wissen.
„Ach“, Chloe zuckte mit den Schultern. „Ne Freundin und ich haben rumgesponnen, dass wir in den Ferien nach Europa wollen. Und Lana ist ganz versessen von Paris. Ich würde ja lieber nach Spanien oder Italien.“
„Kannst du da die Abkürzungen auch von den Flughäfen? Das Kolosseum steht in Rom, gibt es da einen Flughafen?“ Cassandra hatte mit sowas keine Erfahrung. Dank der Tür musste sie sich um so etwas wie Flüge nicht kümmern und vor ihrer Zeit in der Bibliothek war die Gehirntraube einer langen Reise im Weg gestanden.
„Ähm“, Chloe lief in dem Raum auf und ab, während sie überlegte. „Der von Barcelona ist BCN“, fiel ihr als Erstes ein. „Das lässt sich so leicht herleiten. Der von Rom war merkwürdiger, der Flughafen hat so einen komischen Namen.“
„Denk nach“, beschwor Hermine sie. „Wir kümmern uns in der Zeit um den Rest. Wenn FR für Frankreich stehe, ist Italien dann IT?“
Cassandra nickte. „Nur was bedeutet die Zahl?“ Es war etwas ärgerlich, dass ausgerechnet sie nichts mit einer Zahl anfangen konnte.
„Vielleicht die Höhe vom Eiffelturm?“
„Nein, der ist über dreihundert Meter hoch. Das Gewicht kann es auch nicht sein. Vielleicht…“
„Ich hab’s“, rief Chloe dazwischen. „FCO, der Flughafen in Rom heißt Fucino* oder so und der Code ist FCO!“
Sofort schrieb Hermine den Code mit auf. Jetzt fehlte ihnen nur noch die Zahl vor den Buchstaben.
Nachdenklich sah Hermine auf das Blatt vor sich. Irgendwie kam ihr die Nummer in Verbindung mit Frankreich bekannt vor. Wenn sie nur wüsste, woher.
„Denken Sie dran, die 0033 vorneweg zu wählen“, hallte das Echo einer Erinnerung in ihren Gedanken. Der Urlaub, vorletzte Sommerferien. Sie hatte mit ihren Eltern in die Provence gewollt, ganz im Süden von Frankreich. Die Frau an der Rezeption von dem Campingplatz hatte das damals in ihren Antwortbrief auf die Reservierung geschrieben. „Wenn Sie noch kurzfristig was brauchen, dann rufen Sie einfach an. Aber denken Sie dran, die 0033 vorneweg zu wählen.“
Sie wiederholte den Satz für Cassandra und Chloe.
„Du meinst, das ist die Ländervorwahl“, vergewisserte Chloe sich. „Das wäre schon möglich. Von euch kennt nicht zufällig jemand die für Italien?“
Hermine musste zugeben, dass sie nicht einmal die für Großbritannien kannte. Aber seit sie in Hogwarts war, telefonierte sie sowieso kaum noch. Wen hätte sie auch anrufen sollen? Harry durfte nicht telefonieren, Ron konnte es nicht und mehr Freunde hatte sie nicht. Und dank der Eulenpost ging Briefe schreiben sowieso fast genauso schnell.
„Nein“, sagte auch Cassandra, griff aber plötzlich mit schmerzverzerrtem Gesicht an ihre Schläfe. „Doch“, verbesserte sie sich völlig perplex. „39. Die Vorwahl für Italien ist 39.“
„Bist du dir sicher?“, hakte Chloe nach.
„Ich weiß nicht. Ich hab die Zahl einfach plötzlich vor mir gesehen.“
„Wir können es ja ausprobieren“, schlug Hermine vor. „Wenn es falsch ist, haben wir immer noch einen zweiten Versuch. Also, 39 IT FCO“, las sie die fertige Kombination nochmal vor. „Nur wie sollen wir das eingeben? Auf den Tasten stehen doch nur Zahlen.“
Chloe ging hinüber zur Tür. „Vielleicht wie bei einer SMS“, schlug sie vor.
„Einer was?“ Hermine konnte mit dem Wort nichts anfangen. **
Chloe und Cassandra sahen sie beide so an, als käme sie von einem anderen Planeten. Zugegeben, manchmal hatte Hermine auch das Gefühl, meist in den Wochen, die sie bei ihren Eltern war. Die magische Welt war in vielen Dingen doch ganz anders als die der Muggel.
„Hast du kein Handy?“, wollte Chloe wissen. Sie klang völlig entsetzt.
Hermine schüttelte den Kopf, sie wollte nicht zugeben, dass sie auch mit diesem Wort kaum etwas anfangen konnte.
„Du Ärmste!“
Ehe Hermine es sich versah, hatte Chloe sie in eine Umarmung gezogen, scheinbar um sie zu trösten, weil sie nicht so ein Ding hatte. Hermine war vollends verwirrt. „Weißt du, was wir eingeben müssen?“, lenkte sie das Gespräch wieder auf wichtigere Themen.
„Warte kurz.“ Chloe nahm sich einen der Stifte und ein Blatt Papier und zeichnete, aufmerksam beobachtet von Hermine, ein Quadrat, das sie in drei auf drei Felder aufteilte. In die einzelnen Felder schrieb sie die Zahlen von eins bis neun und dann mal drei, mal vier Buchstaben dazu. Sie folgte allerdings nicht dem arithmantischen Schema, das Hermine kannte, was die junge Hexe vollends verwirrte. „Ok“, meinte Chloe schließlich. „I ist die 4, T die 8, F liegt auf der 3, C auf der 2 und O auf der 6.“ Sie ging erneut hinüber zu dem Zahlenfeld. „Soll ich?“
Cassandra nickte sofort, Hermine war noch etwas skeptisch. Sie hätte es ja eher mit Arithmantik versucht, aber die anderen beiden waren recht überzeugt von der SMS-Sache. Da musste sie unbedingt mal ihre Eltern fragen, was das war.
Chloe tippte die Zahlen ein und drückte auf bestätigen.
Die Tür schwang lautlos auf.
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* Der richtige Name des Flughafens in Rom ist Fiumicino, aber sich das zu merken, wäre doch etwas viel verlangt, denkt ihr nicht auch?
** Hermine befindet sich in ihrer Geschichte gerade im Schuljahr 1994/1995. Die erste SMS wurde im Dezember 1992 verschickt, da befand Hermine sich in Hogwarts, hat also nichts davon mitbekommen. Ihre ganzen Freunde sind magisch, sie halten also per Eulenpost Kontakt. Eventuell nutzen Hermines Eltern untereinander bereits SMS, aber Hermine selbst hat kein Handy und braucht auch keines, da sie den Großteil des Jahres ja im stromlosen Hogwarts ist. Außerdem war Hermine seit Dezember 1992 kaum Zuhause. Hermines Eltern werden in den wenigen Wochen, die sie ihre Tochter sehen, vermutlich besseres zu tun haben, als ihr von den neuen technischen Errungenschaften zu berichten, die Hermine aufgrund der Magie vermutlich eh nicht verwenden kann.