Erneut machte der Gang eine Kurve. Cassandra griff sich stöhnend an den Kopf. Jetzt befanden sie sich eigentlich direkt in dem zweiten Raum.
„Hey, was hast du?“ Chloe fing sie auf, als sie stolperte. „Stimmt was nicht?“
„Die Gänge, die Räume.“ Cassandra konnte es nicht richtig erklären, sie wusste nicht, wie. Ihre Freunde, die anderen Bibliothekare, sie wussten, was in ihrem Kopf vorging. Sie hatten gelernt, damit umzugehen. Jacob schaffte es jedes Mal, sie da rauszuholen. Wie sollte sie es diesen beiden Mädchen begreiflich machen?
„Lasst uns weiter.“ Hermine klang nervös. „Diese Gänge machen mir Angst. Ich hab das Gefühl, sie bewegen sich. Ich meine, ich kenne sich bewegende Treppen, aber das …“
Sie klang nicht wirklich danach, als würde sie scherzen. Cassandra nickte mit schmerzverzerrtem Gesicht. Sie musste hier raus, so schnell wie möglich. Chloe stützte sie. Alle drei waren spürbar erleichtert, als sie den nächsten Raum endlich erreichten und der Gang sich hinter ihnen verschloss.
„Geht es dir besser?“, wollte Chloe sofort wissen, nachdem sie ihr geholfen hatte, sich auf den Boden zu setzen.
Cassandra nickte. Der Raum lag theoretisch parallel zu dem Gang, der den ersten und den zweiten Rätselraum miteinander verbunden hatte. Ob er das wirklich tat, da war Cassandra sich allerdings nicht so sicher. Irgendwas stimmte hier nicht, und zwar ganz gewaltig.
„Hey seht mal“, meinte Chloe plötzlich. „Die Tür sieht anders aus. Fast wie von einem Aufzug. Und es gibt nur zwei Knöpfe. Einen grünen und einen roten.“
„Wie lautet denn das neue Rätsel?“, wollte Hermine wissen.
Sie und Chloe sahen sich aufmerksam um, aber sie konnten keine Buchstaben oder Ähnliches an der Wand entdecken. „Wie sollen wir denn ein Rätsel lösen, das wir nicht kennen?“, fragte Cassandra schwach und mit geschlossenen Augen. Inzwischen hatte sie sich hingelegt. Hermine wüsste zu gerne, was mir ihr los war, aber sie wollte nicht aufdringlich sein.
„Vielleicht übersehen wir was.“
„Oder wir müssen gar nichts sehen“, konterte Chloe sofort. Sie tastete mit den Händen an der Wand entlang, ihre Augen hielt sie jetzt ebenfalls geschlossen. Hermine seufzte, aber sie folgte ihrem Beispiel an der gegenüberliegenden Wand.
Irgendwann stießen sie aneinander, nur gefunden hatten sie nichts. „Wir können doch nicht einfach auf gut Glück einen der Knöpfe ausprobieren“, sagte Hermine verzweifelt. Es verstand sich von selbst, dass in einem Raum, in dem es nur zwei Antwortmöglichkeiten gab, nur ein Versuch vorgesehen war.
„Vielleicht habt ihr an der falschen Stelle gesucht“, mischte Cassandra sich plötzlich ein. „Seht mal da.“ Sie deutete nach oben. Chloe folgte dem Fingerzeig. Die gesamte Decke war mit kleinen Punkten in schwarz und weiß bemalt. Sie legte sich neben Cassandra. Aus den Augenwinkeln konnte sie sehen, dass Hermine ihrem Beispiel folgte.
„Das sind keine Sternbilder“, sagte Hermine nach kurzer Zeit.
„Nein, aber da steht etwas“, antwortete Chloe.
„Was?“ „Wie meinst du das?“
„Kennt ihr diese Bilder, in denen man ein Motiv erkennt, wenn man sie nur lange genug anschaut? Man muss da mehr oder weniger durch das Bild hindurchschauen, um das richtige Bild zu sehen.“ *
„Noch nie gehört“, gab Hermine zu.
„Ich schon. Aber ich hab da nie etwas gesehen“, fügte Cassandra hinzu.
„Wirklich nicht?“ Chloe war sehr überrascht. Sie selbst hatte mehrere Sammelbände mit solchen Bildern zuhause. Texte waren da allerdings nicht sehr oft zu entdecken. „Na ja, ist ja auch egal. Also, ich lese vor.“ Sie räusperte sich und konzentrierte sich auf die ballonförmigen Buchstaben. „Behauptung: ‚240-120 ist gleich 5!‘“
„So ein Quatsch“, war Hermines erster Einfall dazu. „Sollen wir hier richtig oder falsch entscheiden, oder?“
„Vermutlich“, stimmte Chloe zu.
„Dann ist das doch ganz einfach. Die Behauptung ist falsch.“ Hermine klang ziemlich überzeugt, aber Chloe fand das zu einfach.
„Da gibt es bestimmt einen Haken dabei“, meinte sie. „So wie bei dem Periodensystem.“
„Lies nochmal vor“, bat Cassandra, die ihre Augen wieder geschlossen hatte. „Inklusive der Satzzeichen.“
„Wieso das denn?“
„Bitte.“
Chloe seufzte. „Behauptung als Wort, Doppelpunkt, Anführungszeichen unten, Zweihundertvierzig als Zahl, minus als Strich, Hundertzwanzig als Zahl, ist gleich als Wörter, Fünf als Zahl, Ausrufezeichen, Anführungszeichen oben.“
Cassandra lachte leise. „Die Behauptung ist wahr“, erklärte sie dann völlig überzeugt. „Das heißt nicht Fünf Ausrufezeichen, sondern Fünf Fakultät. Und das steht für die Rechnung Fünf mal vier mal drei mal zwei mal eins. Das Ergebnis von Fünf Fakultät ist hundertzwanzig, genauso wie von der Rechnung. Die Behauptung ist also wahr.“
Es klang überzeugend, Chloe hatte außerdem auch schonmal von diesem Rechenoperator gehört. Ihr Mathelehrer hatte das mal erwähnt, aber so richtig aufgepasst hatte sie dabei nicht.
„Dann also der grüne Knopf?“, vergewisserte Hermine sich. Sie war bereits aufgestanden.
„Ich bin dafür“, meinte Chloe und rappelte sich ebenfalls wieder auf. Dann half sie Cassandra auf die Beine.
Die Aufzugtüren öffneten sich anstandslos, als Hermine den Knopf drückte und setzte sich sofort in Bewegung, als alle drei im Inneren waren. Es ging aufwärts.
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* Ein paar Beispiele dafür findet ihr hier:
Es gibt auch die Variante, dass die Bilder nicht in kleinen Punkten, sondern in verrückt gemusterten Bildern versteckt sind. Mir persönlich fällt diese Variante leichter. Beispiele dafür gibt es hier: