Er schloss die Augen und stellte sich vor, wie diese Szene wohl damals ausgesehen hätte.
Gelbes Absperrband, das Unbefugte vom Ort des Geschehens fernhielt. Menschen in weißen Ganzkörperkondomen, die emsig jedes Haar, jeden Fingerabdruck und alles andere katalogisierten, sei es nun verdächtig oder einfach nur da. Ihn würde man hineinlassen und mit gedämpfter Stimme darüber aufklären, was geschehen war. Wer der tote Körper vor seinem Dahinscheiden gewesen sein mochte und was es bereits für Hinweise gab. Er würde Gegenfragen stellen, mit seiner gesammelten Erfahrung und seiner ausgeprägten Kombinatorik glänzen. Den Täter zu finden, wenn es sich denn um einen Mord handelte, wäre nur noch Formsache.
Er öffnete die Augen und die Illusion verblasste. Diese Art der Ermittlung lag Jahrzehnte zurück. Vielleicht auch Jahrhunderte, da war sich niemand genau sicher. Die Welt befand sich inzwischen in der postarktischen Epoche und der Fortschritt hatte – einmal mehr – die Handarbeit ganzer Berufsgruppen überflüssig gemacht. So begrüßte ihn lediglich Betty mit süß säuselnder Stimme.
"Guten Tag, Sergeant Torochew."
Betty war kein Mensch, sie war seine private Multifunktionsdrohne. Für sie war jeder Tag ein guter. Ihr machte es nichts aus, um drei Uhr nachts aus dem Bett geholt zu werden, weil das Gesetz, dem Verbrechen gleich, niemals ruhen durfte. Doch er beschwerte sich nicht. Das hier war sein Job – und wenigstens den hatte noch kein Roboter übernommen.
Den Tatort hatte Betty bereits mit einem Kraftfeld abgeschirmt. Torochew tippte es mit dem Zeigefinger an, eine Welle breitete sich träge vom Punkt der Berührung aus und in seinem Kopf tauchte ein Bild des Wackelpuddings auf, den es in seiner Kindheit so oft zum Nachtisch gegeben hatte. Er trat hindurch. Statt Kirschgeschmack legte sich ein elektrisierendes Kribbeln auf seine Zunge.
Die Absperrung war nicht mehr als Routine, Schaulustige mussten sie keine vertreiben. Hier in der Unterwelt der Zitadellenstadt interessierte sich niemand für einen Toten. Die wenigen Leute, die um diese Zeit noch unterwegs waren, schlurften mit getrübtem Blick an ihm vorbei. Konzentriert auf ihre Arbeit oder in Gedanken im nächtlichen Unterhaltungsprogramm versunken. Den Tod des Mannes hatte keiner von ihnen gemeldet – aus denselben Gründen. Er war keinem aufgefallen. Stattdessen war diese Meldung ganz automatisch im Büro des Sicherheitskorps eingegangen.
Jeder Bürger der Stadt trug einen winzigen ID-Chip in seinem Kopf, der ihm Türen öffnete und Zugang zu Waren oder Essensrationen verschaffte, die von den Synths künstlich hergestellt wurden. Die Chips waren mit den Datenbanken der Stadt und ihrer Abteilungen verknüpft und fütterte sie neben dem Bewegungsprofil des Trägers auch mit seinen Gesundheitszustand. Jetzt zeigte sich wieder einmal, wie unfehlbar diese Informationen waren.
Torochew fokussierte den leblosen Körper mit seinem Optikimplantat und schon schoben sich bunte Notizzettel in sein Sichtfeld. Schwebten unwirklich über der Leiche, zeigten aktuelle Biowerte, Temperatur und Puls. Letzterer – eine blaue Linie auf schwarz-weiß-gerastertem Untergrund – war nichtexistent. Die hellrot verblassende Körperwärme wies darauf hin, wie lang der Mann inzwischen tot war: 23 Minuten und 17 Sekunden. Die Zahl stieg in unregelmäßigen Schritten an, war sie doch mehr eine Schätzung als ein Fakt. Die Datierung seiner aussetzenden Lebensfunktionen, mit der ihn das Zitadellennetzwerk hierhergelockt hatte, war überhaupt mit Vorsicht zu genießen. Grund dafür war die Todesursache.
Ein blauer Hinweis mit einem Namen entfaltete sich knisternd auf der Anzeige seines Optikimplantats. Der Mann hieß Sai Tamachi. Er war Mitglied der Technikabteilung und an einem Stromschlag gestorben. Es konnte eine unbekannte Zeit vergangen sein, bis sich sein Körper von der Stromquelle gelöst hatte und der ID-Chip wieder ortbar war.
Ein Unfall? Nicht auszuschließen. Aber ...
Torochew runzelte die Stirn. Was war mit den Schutzmechanismen, die das verhindern sollten? Es gab Sicherungen am Verteilerpanel und Tamachi hatte isoliertes Werkzeug verwendet. Im Extremfall hätte sein Anzug den Strom abfangen und ableiten sollen. Von der Überwachungssoftware dieses Etagensegments mal ganz abgesehen.
Torochews Blick wanderte zum geöffneten Verteilerpanel und er brummte grimmig.
Ja, er befand sich hier eindeutig in der Unterwelt. Selten kümmerte sich einer der blassgrün uniformierten Teks um triviale Reparaturen. Stattdessen sorgten Bastler dafür, dass die Welt sich weiterdrehte. Es sprach sich herum, wie man gewisse Dinge am Laufen hielt. Mit etwas Glück machte sich dann ein Genie am Werk, das selbst mit Schrott ein Wunderwerk vollbringen konnte.
Das war hier nicht der Fall.
Ein grobschlächtiges Metallkonstrukt funkelte Torochew anstelle der Sicherung an. Warf ihm frech entgegen, dass es hier nicht mehr verschwinden würde, selbst wenn das Leben eines Mannes davon abhing. Diese provisorische Reparatur war bereits Monate alt. Wenn es sich um einen Mord handelte, dann um einen extrem langfristig geplanten.
Er ging in die Hocke und zupfte an der Kleidung des Toten. Das Stück, das er zwischen den Fingern hielt, zerbröselte zu schwarzen Krümeln. Die Werkzeuge und der Anzug des Technikers waren einfach verschmort, sein Gesicht hochrot.
Wie bei den Siks, so wurden die Mitarbeiter des Sicherheitskorps kurz genannt, schwankte auch die Qualität der Ausrüstung, mit der die Teks unterwegs waren. Arbeiteten sie in den Etagen der Oberwelt, war sie top. Je höher die Nummer der zugeteilten Unterweltebene wurde, je weiter man in die Tiefen der Zitadelle verbannt worden war, umso mieser wurde sie. Tamachis Werkzeuge hatten einen langen Gebrauchsweg hinter sich. Das verrieten ihm die Listen, die – nur sichtbar für sein linkes Auge – mit imaginären Fäden an ihnen befestigt waren. Von Second Hand konnte man hier schon lange nicht mehr sprechen. Kein Wunder, dass der arme Kerl gebraten wurde. Auch das hätte ein potenzieller Mörder gewusst haben müssen, als er das Verteilerpanel präparierte.
Torochew seufzte, nachdem er mit der Inspektion des Tatorts fertig war. Ach was. Was er hier sah, war alles andere, aber kein sorgsam vorbereiteter Tatort. Vor allem traurig. Der schludrige Stand der Technik, der in der Unterwelt vorherrschte. Wenn er jemanden verhaften wollte, dann den gesamten Verwaltungsapparat der Stadt. Aber das ging ja schlecht. Der nächstbeste Schuldige saß wohl in der Segmentüberwachung. Der würde er gleich noch einen Besuch abstatten. Wenn es einen Schuldigen gab, musste er entweder auch dort zugeschlagen haben oder sogar zu finden sein. Im schlimmsten Fall gab es dort einfach nur jemanden, dem er mal kräftig in den Hintern treten konnte.
Nun, wenigstens musste er keinen Beileidsbesuch abhalten. Tamachi lebte allein und seine Abteilung erhielt, so wie zuvor er selbst, automatisch die Kunde seines Dahinscheidens. Bereits in einer halben Stunde würden die Teks seine Stelle neu besetzen – ohne eine Träne zu vergießen.
"Betty, gib der Medizinischen Abteilung Bescheid, sie sollen ein Team schicken."
"Wird gemacht, Sergeant", bestätigte seine Drohne hocherfreut.
Naja, viel würden die Meds auch nicht mehr machen können. Sie würden das Opfer abtransportieren, in der Kühlhalle zwischenlagern, später zerlegen und wieder dem Rohstoffkreislauf der Zitadelle hinzuzufügen. Stünde Tamachi weiter oben in der Nahrungskette, wären bereits vor 23 Minuten die Agenten der Hypothermieabteilung aufgetaucht. Schwarzgekleidete Meds, die ihn tiefkühlen und eine Sicherung seiner Erinnerungen durchführen würden. Leben und Wissen der High Society mussten schließlich geschützt und erhalten werden.
Doch es kam niemand. Keiner interessierte sich für ihn. Nicht hier unten, nicht oben in den Chefetagen. Und Torochew machte sich da keine Illusionen. Sobald er zurück in seinem Bett war, würde auch er ihn vergessen. Er musste nur noch den obligatorischen Besuch der Segmentüberwachung hinter sich bringen.
Er ließ den Mann in Bettys Obhut zurück, zog den Kragen seines Mantels höher und trat in die Nacht der Unterweltetage 127 hinaus. Die grauen Wände der Wohnkomplexe reflektierten diffus das künstliche Licht, das sich im Dunkelblau des virtuellen Nachthimmels verlor.
Jeden Moment musste die Sonne aufgehen.
Dieses Gefühl beschlich Torochew jedes Mal, wenn er durch die Straßen jener zog, die im falschen Körper geboren waren. Ein Trugschluss. Die Sonne ging nicht auf. Sie befanden sich tief unter der Erde und die Helligkeit der Lampen würde sich bei Tage nur um einige Nuancen erhöhen. Wer hier unten geboren war, blieb an diesen Ort gebunden, musste diesen Dämmerzustand für den Rest seines Lebens ertragen. Es gab Auswege – doch die Menschen in der Oberwelt waren auf die Arbeit der Unterwelt angewiesen und machten ihnen eine Flucht nicht leicht.
Während er über das Schicksal der Welt nachdachte, projizierte das integrierte Navigationsprogramm seines Implantats grüne Pfeile auf den Boden und wies ihm den Weg. Die Pfeile schienen einen Zentimeter über der Betonschicht zu schweben und wurden unter den Füßen jener, die sich darauf verirrten, zu Boden gedrückt. Um ein Ziel in den verwinkelten Gassen dieser gottverlassenen Etage zu finden, hatte er das Navi bitter nötig.
Ein Kerl in grauen Synthetikklamotten bog um eine Ecke und stieß mit Torochew zusammen. So heftig, dass sein schwarzer Borsalino nach vorne rutschte. Dunkelheit hüllte ihn ein, nur erleuchtet vom schimmernden Wegweiser auf dem künstlichen Auge. Er schob den Hut wieder an die richtige Stelle, drehte sich nach dem Mann um und hob die Faust, um ihm hinterherzufluchen.
"Pass doch auf, wo du hinläufst! Du ..."
Doch er war bereits um eine weitere Ecke gebogen. Der Sergeant ließ die Faust wieder sinken und schob sie die geräumige Tasche seines Mantels.
Der Kerl hatte sicher nicht mal mitbekommen, dass er mit Torochew kollidiert war. Einer der Trüben. Die Unterweltler, bei denen die Medienberieselung nicht mehr ausreichte, um sie ruhig zu halten. Dann wurden ihrer Nahrung emotionale Suppressoren beigefügt und sie schlurften teilnahmslos durch ihr Leben, nur noch in der Lage, stumpfsinnige Arbeiten zu verrichten. Aber davon gab es hier unten genug.
Bei dem Gedanken bekam er eine Gänsehaut. Wäre Torochew in der Lage gewesen, etwas daran zu ändern, hätte er sicher nicht gezögert. Doch das war er nicht. Sein Job bestand darin, gegen die Kriminalität vorzugehen, nicht gegen die Gesellschaft. Und wen sollte er in dem Fall auch festnehmen?
Das war bei Verbrechen einfacher. Im Normalfall war der Übeltäter leicht gefunden. Wer sich zu welchem Zeitpunkt an welchem Ort befand, verrieten die Datenbanken. Falls hier drinnen Verbrechen geschahen, hatten meist die gesellschaftlichen Schutzmechanismen versagt und irgendjemand war durchgedreht. Hatte seine Kollegen angegriffen oder irgendjemand anderen, den er für sein trostloses Leben verantwortlich machte. Keine wirkliche Herausforderung für einen Mann seines Kalibers. Nur Unfälle waren langweiliger. Irgendwie sehnte er sich jetzt umso mehr nach der Außenwelt. Nach der Wildnis, die ihre Stadt umgab, in der es keine Grenzen zu geben schien.
Das Navigationsprogramm malte ein dickes Kreuz auf eine Tür und riss ihn aus seinen Gedanken. Das war der unscheinbar graue Eingang der Segmentüberwachung. Eigentlich sollte die Tür einen knallig gelben Hinweis darauf tragen, was sich hinter ihr verbarg. Aber es hatte sicher Gründe, warum der verantwortliche Angestellte auf Anonymität bedacht war. In einer Etage, in der Teks von einem überbrückten Verteilerpanel gegrillt wurden, lief sicher noch so einiges andere schief.
Torochew fokussierte den Eingang und die Türsteuerung scannte seinen Chip. Als Ermittler des Sicherheitskorps hatte er weitreichende Zugangsrechte. Im Prinzip kam er überall hinein, ausgenommen auf die Privatgrundstücke und Firmengelände der mächtigen Familien. Oder in bestimmte Abteilungen des Rates. Wenn er die Privaträume von Zeugen betrat, klopfte er in der Regel, hier gab es keinen Grund für unangebrachte Höflichkeit und er trat unangekündigt ein.
Das unwillkürliche Gefühl überkam ihn, dass die Wände voll mit Kabeln, Zählern und Kameramonitoren sein müssten, die ihn mit einer Flut flackernder Informationen und nervtötendem Gepiepse empfingen. Fragmente dieser Bilder hafteten seinem Geist an. War das eine Erinnerung, die er vergessen hatte? Aus seiner Vergangenheit vor dem Eis?
Die Wirklichkeit manifestierte sich in gigantischen Medienpanels, welche die Wände vollkommen ausfüllten. Diese Dinger fanden in vielen Bereichen Verwendung. Als Wiedergabegeräte für Filme und Musik, Grundfläche für digitalen Wandschmuck oder holografische Spielfelder. Gesteuert wurden sie per Berührung, Augenverfolgung oder mit gedankengelenkten Fernbedienungen, je nachdem, was sich seines Besitzer leisten konnte.
"Sergeant Elisa Torochew, Sicherheitskorps!", rief er in den Raum hinein. "Ich hätte da ein paar ..."
Er stockte.
Er war niemand hier und die Medienpanels zeigten lediglich den freundlichen Hinweis, dass auf die gewünschten Daten momentan nicht zugegriffen werden konnte.
Klasse, wenn sie bereits beim Tod Tamachis defekt gewesen waren, gab es hier keine Aufnahmen und Torochew konnte wieder umdrehen.
Allein die Beine, die unter dem Schreibtisch am anderen Ende des Raums hervorschauten, hielten ihn davon ab, frustriert den Heimweg in sein Bett anzutreten.