Die Abdrücke seiner schweren Stiefel – Schuhgröße 45 und mit dem markanten Logo des Sicherheitskorps – zeichneten sich deutlich erkennbar im Schnee ab.
'Wir sehen alles!'
Das war die Botschaft, die es vermittelte.
Nur den Schneefall in den frühen Morgenstunden hatten sie nicht vorausgesehen.
Er stapfte an einem Mann vorbei, der ungläubig in den Himmel starrte, den dicken Flocken entgegen, die auf ihn herabrieselten. Die zwei Jungs hinter ihm überwanden gerade ihr Staunen. Sie sausten und rutschten über die bedeckte Straße und hinterließen lang gezogene Schneisen in diesem neuartigen Element.
Es war das erste Mal, dass es schneite, seitdem die Menschen die Tore der Zitadelle aufgeworfen und sich ins Unbekannte gewagt hatten. In den Dschungel, der die Zitadelle umgab. Sergeant Torochew staunte immer wieder, dass das Leben so kurz nach einer Eiszeit wieder in diesem Maß florierte. Doch sonst störte sich kaum jemand daran. So wenige erinnerten sich überhaupt, wie es damals hier draußen ausgesehen hatte. Er war ein verkehrtes Spiegelbild der Menschen auf dieser Straße. Der Schnee war für ihn ein weitaus vertrauterer Anblick als violette Alienpflanzen.
Die Tür des Bürokomplexes glitt mit einem monotonen Surren auf und auch auf dem Weg in seine Abteilung hinterließ er Spuren. Die sollten nur einige Sekunden überleben. Kaum hatte er zwei Schritte getan, schon rollte ein flacher, blauer Reinigungsroboter aus einer Luke neben der Tür. Mit schmatzenden Sauggeräuschen ließ er Torochews Abdrücke aus geschmolzenem Schnee und Dreck verschwinden. Er verfolgte ihn erbarmungslos, bis seine Stiefel auch den letzten widerspenstigen Tropfen Wasser abgeschüttelt hatten.
Medienpanels mit Propaganda des Sicherheitskorps flankierten seinen Weg durch das metallisch weiße Innenleben des Korridors. Sie zeigten, wie seine Kameraden die Bürger vor den Monstern der Außenwelt und den Verbrechern im Inneren beschützten. Er schnaubte. Das waren sicher nicht seine Kameraden, sondern makellose jugendliche Schauspieler. Auf der Straße begegneten den Menschen stattdessen grimmige Kerle in schwarzen Uniformen. Doch der PR-Abteilung war egal, dass ihre Illusion schon den Weg aus den Empfangshallen nicht überstanden.
Ja, das Sicherheitskorps war sein Arbeitgeber, dennoch blieb er immer kritisch und vorsichtig. Das Sicherheitskorps tat weit mehr, als die Werbevideos preisgaben. Nichts blieb im Verborgenen und dass außer Maschinen niemand das meiste der gesammelten Daten zu Gesicht bekam, war nur ein schwacher Trost. Innerhalb der Zitadelle und der Stadtringe, die sie umgaben, war die Überwachung total. In der Außenwelt konnte man ihr entgehen. Dafür setzte man dort sein Leben aufs Spiel. Keiner konnte das besser bezeugen als die Außenweltabteilung des Sicherheitskorps.
Er war der einzige Überlebende seiner Einheit, die damals ihre Ausbildung in der Wildnis absolviert hatte. Einer von sechs Kameraden. Die reguläre Quote direkt nachdem die Tore geöffnet wurden. Selbst diejenigen, die zurückkehrten, waren selten unversehrt. Ein fehlender Arm oder ein Bein waren keine Seltenheit – Torochew hatte sein linkes Auge eingebüßt. Von den Kollegen, die ihm im Gang begegneten, gab es kaum einen, der nicht ein großes Stück Metall an seinem Körper trug. Damit meinte er nicht die Dienstwaffen.
Fensterfronten lösten die Medienpanels ab und gaben den Blick auf bisher spärlich gefüllte Räume frei. Vorbei an seinem Büro. Sein primäres Ziel vor Beginn der Arbeit war nicht der Schreibtisch, sondern der Nahrungssynth. Ohne eine Dosis Koffein ging nichts.
Der Weg dorthin wurde ihm von Harold und Max versperrt, zwei Veteranen, die einige Jahre mehr auf dem Buckel hatten als er selbst.
Harolds rechtes Bein wurde von einer Vetianischen Riesenechse als Zwischenmahlzeit vernascht. Seine Kameraden hatten ihn unter Verlust des halben Trupps nach Hause geschleppt. Dank dieses Vorfalls wusste das Sicherheitskorps, dass man besser schweres Geschütz mitnahm, wenn man sich in den Dschungel traute. Wenn man die Geschichte nicht kannte, fiel einem seine Prothese nicht auf. Er war so leistungsfähig wie jeder andere Sik.
Auch Max sah man die künstliche Haut, die sein Gesicht fast vollständig überzog, nur an, wenn das Licht im richtigen Winkel darauf fiel.
"Guten Morgen Elisa!", rief ihm Harold zu.
"Morgen", grummelte Torochews kaum verständlich. Seine Kommunikationsbereitschaft nach dieser viel zu kurzen Nacht ging gegen null.
"Du siehst ja blendend aus!", stellte Max mit einem Hauch Ironie fest. "Hattest einen Einsatz heut Nacht?"
"Tek, Tod durch Stromschlag." Mit diesen Worten schob sich Torochew zwischen den beiden durch und ließ den Nahrungssysnth einen dicken Becher schwarzen Kaffee ausspucken.
Die Maschine stellte sowohl den Becher als auch seinen dampfenden Inhalt selbst her. Aus Ressourcen, die in einem niemals versiegenden Strom durch die Leitungen der Zitadelle gepumpt wurden. Hatte er sein Getränk geleert, würde er den Becher in einem der weißen Metallzylinder entsorgen. Dort würde er erneut in seine Bestandteile zerlegt und wieder ins System fließen. Ein Kreislauf, der die Zitadelle seit Ewigkeiten am Leben hielt. Besonders als die Kälte so schlimm wurde, dass niemand mehr ihr Habitat verlassen durfte.
Mit dem heißen Getränk in den Händen gesellte sich Torochew zu seinen Kollegen.
"Unfall, ja?", fragte Harold.
"Sieht so aus. Auch wenn sehr viel Zufall im Spiel war."
Max lachte trocken. "Wir Alten werden wohl nur noch mit Unfällen abgespeist."
Torochew zog die Augenbraue über seinem biologischen Auge nach oben und blickte die beiden fragend an.
"Ich hatte gestern auch einen", beantwortete Max den Blick. "Ein Jugendlicher, der von seiner Datenbrille gegrillt wurde. Danach musste ich eine Hausfrau vom Boden aufkratzen, deren Haushaltsroboter nach einer Überhitzung explodiert ist." Er warf dem Reinigungsroboter einen argwöhnischen Blick hinterher.
"Muss an den neuen Ressourcen liegen", mutmaßte Harold. "Die Familienkonzerne bekommen sie jetzt billig aus der Außenwelt. Um irgendwie die steigenden Bedürfnisse stillen zu können."
"Wirklich?", hakte Torochew nach. "Was sagt denn der Major dazu?"
"Nichts. Ist eine ganz frische Theorie. Oder …", Harold kniff verschmitzt die Augen zusammen, "Es gibt einen Aufstand der Haushaltsgegenstände. Nicht mehr lange und die Maschinen herrschen über uns!"
Torochew prustete und verteilte seinen Kaffee über den Boden. Aus der Ferne ertönte das empörte Piepen des Reinigungsroboters. "Leute, ich glaube, wir müssen noch einmal über unseren Medienkonsum reden."
Als Ermittler des Sicherheitskorps hatten sie Zugriff auf fast alle Datenbanken. Auch antikes Filmmaterial. Er sah sich am liebsten voreiszeitliche Kriminalserien an. Katharina fand das schräg. Warum sah er sich so Zeug an, wenn er die Realität doch jeden Tag bei der Arbeit hatte?
Harold zuckte mit den Schultern. "Wenigstens wissen wir so, dass die Zukunft noch viel düsterer aussehen könnte als der Mist, mit dem wir uns jeden Tag rumschlagen müssen."
"Du wärst der Erste, der sich mit einem Grinsen seine Schrotflinte schnappen würde, um gegen die Maschinen in den Krieg zu ziehen", stellte Torochew trocken fest – und bereute es gleich wieder. Auch wenn sie hier nur rumalberten, kamen ihm nun ganz eigene Bilder in den Sinn. Ein Schlachtfeld im Inneren der Zitadelle. Verbranntes Fleisch. Schreie. Verschmorte Elektronik. "Ehrlich, ich hab das mit den Robotern schon hinter mir. Das ist kein Spaß. Die Viecher draußen haben wenigstens Instinkte und laufen weg, wenn es schlecht für sie aussieht. Roboter?" Er biss die Zähne zusammen. "Denen ist das egal. Schieß ihnen ins Bein und sie humpeln weiter auf dich zu. Zucken nicht mal mit der Wimper und brechen dir dann den Hals."
"Woah, Elisa. Du bist heute aber finster drauf." Max legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm.
Er schüttelte die Hand ab, so wie er es mit der Erinnerung versuchte. Die Zeit vor der Toröffnung war eine stürmische gewesen. Die Ratsentscheidungen zu dem Thema umstritten. Eine Revolte fanatischer Regierungsgegner hatte es geschafft, unter dem Radar des Sicherheitskorps eine Roboterarmee aufzubauen. Danach lag die Etage, auf der sich damals der Rat und das Hauptquartier des Sicherheitskorps befanden, in Schutt und Asche.
Um ein Haar wäre auch Torochew gestorben. Nur dem Major, seinem heutigen Boss hatte er es zu verdanken, dass er den Aufstand überlebt hatte. Danach war er ihm in die Außenwelt gefolgt und stand ihm auch heute noch treu zur seit. Trotzte mit ihm gemeinsam allen Widerständen und der Kritik der Mächtigen. Er und seine Kollegen, sie waren unbequem. Verfolgten selbst die großen Familien, wenn sie sich nicht an die Gesetzte hielten. Prangerten die Misstände in den anderen Abteilungen an.
"Tut mir leid, wenn ich alte Erinnerungen aufgewirbelt habe", entschuldigte sich Harold.
Torochew schüttelte den Kopf und atmete durch. "Ach was, du hast nichts getan. Ich glaub, ich brauch nur wieder einen richtigen Fall. Ein Erfolgserlebnis. Nicht nur Unfälle oder Kleinkriminelle in den Ruinen."
"Du könntest mit diesem Wunsch mehr Glück haben als wir. Stehst ja noch nicht mit einem Fuß auf dem Abstellgleis." Harold klopfte bedeutungsvoll gegen die Seite seiner Prothese und zwinkerte ihm zu.
Das ComNet piepte, Torochew zeigte entschuldigend auf sein Ohr und machte sich auf dem Weg zu seinem Büro.
"Katharina?", fragte er hoffnungsvoll und erntete einen Moment voller Schweigen.
"Wer? Tut mir leid. Weisz hier. Ist ihre Datenbrille abgeschaltet, Sergeant Torochew?"
Die meisten Siks trugen inzwischen Datenbrillen, die ihnen den Status ihre Ausrüstung und Umgebungsinformationen, sowie Karten und Kommunikation anzeigten. Bei Torochew erfüllte das Optikimplantat diese Aufgabe. Bis eben war er außer Dienst gewesen, und bis auf die Umgebungswahrnehmung nichts aktiv. Einen Gedanken später füllte sich seine linke Sichthälfte mit Informationen, unter anderem auch dem Gesprächsverlauf mit Kommunikations-Sergeant Weisz.
Nach all den Jahren gab es immer noch eigene Sprachen, Dialekte und Akzente in der Zitadelle. Die Worte und Gedanken der Beteiligten direkt in Text umwandelte, sollte Missverständnisse vermeiden. Außerdem gab es eine Vielzahl an Szenarien, in denen nicht gesprochen werden konnte oder durfte.
"Habe gerade erst den Dienst aufgenommen. Sprechen Sie, Sergeant Weisz."
"Sie haben einen neuen Auftrag. Ich sende Ihnen die Koordinaten."
Mit einem melodischen Empfangston gingen die Informationen ein und Weisz fügte hinzu: "Ich hoffe, Sie haben noch nicht gefrühstückt."