Groenwalds Wohnung war unerwartet groß – und exotisch ausgestattet.
In der Oberwelt bewohnten manche Personen alleine kompletten Wohnkomplexe. Auf dieser Etage reichte der Wohlstand dafür zwar nicht, aber von den vier Stockwerken des Komplexes füllte sein Domizil zumindest eines vollständig aus.
Echte Fenster auf der Vorderseite zeigten die Straßen, beleuchtet von einer virtuellen Sonne, die über die himmelblaue Decke der Etage ihre Bahn zog. Ein Junge schlenderte vorbei und starrte ihn vorwurfsvoll an – Er musste instinktiv bemerkt haben, dass Torochew ihn beobachtete. Zu Recht! Er sollte sich besser um seine Arbeit kümmern und nicht von dieser Illusion gefangen nehmen zu lassen. Auch wenn es aus diesem Himmel niemals regnete, die wahre Welt war die einzige, für die er lebte.
Eine Wiese aus sattem, grünen Gras bedeckte den Boden des Raumes. Ein programmierbarer Synthetik-Teppich, der je nach Laune seines Besitzers Farbe und Beschaffenheit ändern konnte. Die Halme waren ungeschnitten und wuchsen wild. Eingerahmt wurde die Wiese von knorrigen Bäumen. In Wirklichkeit Medienpanels, die mit der Darstellung eines dreidimensionalen Waldes seine Sinne einlullen wollten. Der Teppich raschelte unter seinen Schritten. Ob Groenwald es gemocht hatte, barfuß hindurchzulaufen, während das Gras seine Fußsohlen kitzelte? Sollte er seine Stiefel auszuziehen und es selber zu probieren?
Bettys energisches Räuspern erinnerte ihn nun endgültig daran, dass er nicht zum Vergnügen hier war. "Sergeant Torochew, Sie scheinen zu träumen. Darf ich Sie daran erinnern, dass wir einen Fall bearbeiten?"
"Mach dich mal locker, Betty. Stellst du dir nicht auch ab und zu mal vor, dass deine Ladestation ein klein bisschen komfortabler sein könnte?" Er hob demonstrativ seinen Arm und zeigte zwischen Daumen und Zeigefinger, wie viel bisschen ihm reichen würde.
"Ich weiß nicht, wovon Sie da sprechen, Sergeant."
Langweilte ihn Bettys Emotionslosigkeit? Manchmal vielleicht. Andererseits war sie ein gutes Zeichen. Sie würde niemals eine Roboterrebellion anzetteln, nur weil ihr die Farbe ihres Lacks nicht gefiel oder das Leuchten ihrer Scheinwerfer.
Er ließ den Arm sinken und sah sich um. Groenwalds Wohnung stand in einem krassen Kontrast zu seiner Arbeit, von der hier keine Spur zu entdecken war. Er war weder Gärtner noch Förster, wie Wiese und Wald vermuten lassen konnten. Nein, er war Administrator des internen Datennetzwerkes der Firma Niveum-Kybernetik. Natürlich hatte auch das Klischee der Hacker, die daheim im Keller der Mutter sitzen und vor sich hin werkelten, die Eiszeit nicht überlebt. Aber hier gab es keinen einzigen Hinweis, womit er seinen Lebensunterhalt verdiente.
Aber ... sah man denn seinem eigenen Zuhause an, welchem Beruf er nachging? Er hatte keinen geheimen Raum, dessen Wände er mit Bildern und Hinweisen gepflastert hatte. Auch keine Bindfäden, die den Zusammenhang zwischen den Verbrechen in der Zitadelle anzeigten. Nein, das gab es nur noch in den alten Filmen. Torochew verwendete dafür ein wandfüllendes Medienpanel, das in ihrem Esszimmer hing. Mit einer Handbewegung konnte er die Informationen verstecken, damit sie ihn nicht, wie eine der Filmfiguren, in den Wahnsinn trieben.
Außerdem konnte Katharina das Medienpanel so auch dazu verwenden, um ihre Nahrungszusammensetzung zu dokumentieren.
Katharina. Jetzt wusste er wieder, warum er sich wirklich so schlecht auf seine Arbeit konzentrieren konnte und seine Gedanken in die unterschiedlichsten Richtungen flüchteten. In der nächsten Pause würde er versuchen, sie auf dem ComNet zu erreichen. Damit beruhigte er sein nagendes Gewissen und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Tatort.
"Hmmm", brummte er. So wie er die Arbeit verschwinden lassen konnte, die er mit nach Hause nahm, tat das vielleicht auch Groenwald. Hier gab es alles Mögliche, nur kein Platz, der sich für ein bequemes Arbeiten eignete.
Hätte er die Zeit dazu gehabt, die Wohnung gründlich zu durchsuchen, hätte er es sicher genossen, sie Stück für Stück auseinanderzunehmen. Wäre sie von einem Ende zum anderen abgelaufen, um ihre Maße zu schätzen. Dann dasselbe außerhalb. Doch er hatte schon genug getrödelt.
"Betty, zeig mir den Etagenumriss, im Vergleich mit dem der Zimmer, in denen wir waren."
"Schon geschehen, Sergeant Torochew", flötete seine elektronische Assistentin fröhlich.
Wie er erwartet hatte, sie stimmten nicht überein.
Torochew drehte sich in Richtung der verborgenen Kammer und schloss sein biologisches Auge. Die Illusion des Waldes war so gut, sie täuschte selbst das Optikimplantat. Das waren Medienpanels der besten Qualität. Er gab den Befehl, die dreidimensionalen Effekte herauszufiltern, und der Effekt verblasste.
Bäume zu seiner Linken und Rechten schoben sich höflich beiseite, wie um einem König Platz zumachen, der durch ihre Reihen schritt. Statt auf einen roten Teppich gaben sie den Blick auf einen braunen, ausgetretenen Pfad frei, der in den versteckten Raum führte. Torochew folgte ihm und erreichte den Waldrand.
Dahinter verbarg sich kein weiteres Trugbild, nur das nüchterne Standardgrau aller Bausegmente der Zitadelle, bevor sie verkleidet, bemalt oder beschriftet wurden.
Zwei deaktivierte Medienpanels über einem aufgeräumten Schreibtisch starrten ihn vorwurfsvoll an – wie die toten Augen ihres verstorbenen Besitzers. Anders als ihm würde er ihnen wieder Leben einhauchen können. Vielleicht lieferten sie ihm im Gegenzug einen brauchbaren Hinweis auf Groenwalds Grund, diese Welt zu verlassen.
Das Empfangssignal des ComNets ließ ihn innehalten. Neue Daten. Die Technikabteilung war seiner Anfrage nachgekommen und nun lag Groenwalds Bewegungsprofil zur Einsicht bereit.
Mit einem Gedanken waren die trüben Monitore vergessen und das Profil geöffnet.
Torochew fand sich sitzend in eben dem Raum wieder, in dem er gerade leibhaftig stand. Der Monitor war an, zeigte Diagramme, Tabellen und virtuelle Konsolen in denen Befehle und Statusinformationen von unten nach oben rasten.
Stille erfüllte den Raum.
Groenwald saß regungslos da. Doch der Schein trügte. In Wirklichkeit bediente er das Medienpanel über die Gedankenschnittstelle seiner Datenbrille. Und so störten weder rhythmisches Klappern einer antiken Tastatur noch Sprachbefehle die Ruhe der Aufzeichnung. Wenn man diesen Anblick nicht gewohnt war, war diese Ruhe verstörend. Doch er passte perfekt in das Leben in der Zitadelle. Teilnahmslosigkeit war in jeder Bevölkerungsschicht präsent, nur in verschiedenen Ausprägungen. Genau wie der Tod.
Der Mann verweilte nur noch kurz bei seiner Arbeit. Ein Alarm zeigte den bevorstehenden Besuch im MedCenter an. Der Bildschirm erlosch und er erhob sich.
Die Bilder seines Auges und der Aufzeichnung näherten sich einander an. Das Medienpanel des Optikimplantats blieb ein Stück weiter unten stehen und rund um seine Nase zog sich nun ein grotesker Riss durch das Display. Groenwald war wohl etwas kleiner als er.
Torochew widerstand dem Bedürfnis, sich gemeinsam mit Groenwald umzudrehen und seinem Schritt zu folgen. Stattdessen schloss er sein rechtes Auge erneut, um nur noch die Aufzeichnung zu sehen.
Das Zimmer, in dem sich jetzt ein Wald befand, war zum Zeitpunkt der Aufnahme zweckdienlicher eingerichtet. Eine kobaltblaue Küchenzeile mit eiförmigem Nahrungssynth, alles durchzogen von eingesunkenen, schwarzen Linien. Entsprach der aktuellen Oberwelt-Mode. Mittendrin standen – im absoluten Kontrast – ein schmuckloser, dunkelbrauner Tisch und ein einzelner Stuhl in gleicher Farbe.
Groenwald ließ den Nahrungssynth eine Mahlzeit zubereiten.
Diese Kreation eine Mahlzeit zu nennen, war eine maßlose Übertreibung. Während die meisten Bürger zumindest auf ein ansprechendes Äußeres ihrer Nahrung bestanden, gab sich dieser Mann mit einem grünen Nahrungsbrei und einem schwarzen Getränk zufrieden.
Beides platzierte er lieblos auf dem Tisch und verschlang es in kürzester Zeit.
Warum stand das im totalen Widerspruch zum ersten Bild, das Torochew von ihm gehabt hatte, als er den Wald sah? Jemand, der die Details liebte, auf seine Umgebung achtete, auch auf sich selbst. War er hier nur in Eile gewesen und dieses Verhalten unüblich für ihn?
Am Rand der Aufnahme tauchte eine blutrot blinkende Hinweismarkierung auf. Der Hinweis war von Dr. Mattheo aus der medizinischen Abteilung. Groenwald hatte an dieser Stelle eine ungewöhnliche hohe Menge schnellwirksamer Kohlenhydrate zu sich genommen.
Aus der schlichten Oberfläche des Tisches wuchsen drei Zettel perlweißen Papiers. Groenwald ignorierte sie. Klar. Tatsächlich waren sie für Torochew bestimmt. Einer zeigte die Nährstoffzusammensetzung, die sein behandelnder Med ihm nach Diagnose seiner Krankheit empfohlen hatte. Der Zweite die Zusammensetzung, die Groenwald stattdessen am Nahrungssynth von geordert hatte. Der Letzte, was er wirklich geliefert bekam.
Während sich die ersten beiden Tabellen immer noch ähnelten, fiel die dritte komplett aus dem Raster. Noch eine Fehlfunktion? Für einen einzelnen Tag waren das eindeutig zu viele. Hatte es jemand auf Groenwalds Leben abgesehen?
"Wie lange hätte er nach dieser Menge überlebt?", wandte sich Torochew an Dr. Mattheo, der sich immer noch im ComNet befand.
"Zwei Stunden, bis er in ein Koma gefallen wäre. Vielleicht drei."
"Danke, Dok."
Er hätte also noch rechtzeitig im MedCenter ankommen müssen. Dort hätten sie diesen Fehltritt in Windeseile korrigiert. Es musste noch mehr passiert sein.
Inzwischen war der Mann mit seiner Mahlzeit fertig und machte sich auf den Weg in die Druckluftdusche. Mit jeder Minute, die verstrich, verschlechterte sich sein Gesundheitszustand. Er wurde unsicherer – stieß beim Verlassen der Wohnung sogar gegen den Türrahmen. Auf der Straße hob er eine Hand vor das Gesicht. Bewegte sie näher heran, wieder weg und fluchte.
"Hier muss sein Sehvermögen durch den hohen Blutzucker bereits eingeschränkt gewesen sein", erklärte Dr. Mattheo aus dem Off. "Vielleicht nicht stark, aber doch ausreichend, dass er nicht mehr jeden Schriftzug deutlich erkennen konnte. Wahrscheinlich konnte er sich weiterhin nicht mehr auf alle seine Handlungen konzentrieren."
"Deswegen öffnet Groenwald jetzt sein Navi", murmelte Torochew zur Antwort. "Bei klarem Verstand hätte er den Weg sicher ohne Hilfe gefunden."
Was nun folgte, war kurz und tödlich. Das Navi steuerte ihn durch die Straßen, an Menschen vorbei, denen Groenwald auf Hinweis des Navis nur um Haaresbreite auswich, hin zu dem defekten Aufzug. Die Absperrung, die er durchbrach, wurde als Passant gekennzeichnet, mit dem er zusammenstieß.
Wie verwirrt musste Groenwald da schon gewesen sein, wenn er die nicht mehr erkannte und auch den Schacht in die Tiefe nicht?
"Aber warum ..."
Torochew sprang in der Aufzeichnung zurück, bis zu der Stelle, an der die Strecke berechnet wurde, die Groenwald genommen hatte.
Ihm war etwas aufgefallen.
Rechts oben in Groenwalds Brillenanzeige befand sich eine Miniaturkarte mit der ausgewählten Strecke. Diese entsprach kurz nach der Berechnung derselben, die auch Torochews Navi gewählt hatte. Sobald er aber losging, durchlief ein kaum merkliches Zucken die Karte.
Der grüne Pfeil der Route hatte sich um einen Bruchteil verschoben.
Vom funktionierenden Aufzug hin zum defekten.
"Hey Technikabteilung, habt ihr das gesehen?"
Ein bestätigendes 'Ja' tauchte im Kommunikationsverlauf auf. Die Typen hatten scheinbar keine Lust, mit ihm persönlich zu reden.
"Was ist da passiert?"
Eine Pause von zwei vielleicht drei Sekunden folgte, bis ein weiterer Text im Verlauf erschien.
'Fremdzugriff.'
Da war er, der Hinweis, den er brauchte. Der diesen vermeintlichen Unfall zu einem Mordfall machte.
"Könnt ihr mir auch verraten, wer das war?"
Ein virtueller Monitor wuchs aus der Wand über den beiden Aufzugstüren. Aus dem blickte ihn ein bekanntes Gesicht müde an. Ben Fischer, Mitte dreißig, Halbglatze, ledig. Letzteres war egal, wenigstens ihm, er lebte nur für seinen Job. "Hallo Elisa."
"Hallo Ben."
"Es tut mir leid, ich kann dir nicht sagen, wer auf Groenwalds Datenbrille zugegriffen hat."
"Und du erscheinst persönlich auf meinem Optikimplantat ..."
"... damit ich dir erklären kann, warum. Und du keinen Killer auf uns ansetzt", beendete Fischer den Satz trocken.
"Ich hätte erwartet, dass der Zugriff über mehrere Etagen verläuft, mit dem Versuch, unterwegs seine Herkunft zu verschleiern. Eigentlich nutzlos. Aber die kriminellen Kids, die das versuchen, sehen das jeden Tag in den Medienkanälen und glauben, dass es funktioniert."
"Und unser Unbekannter hat es tatsächlich geschafft?"
"Ja." Ben rollte mit den Augen. "Aber daran ist Groenwald selbst schuld. Seine Wohnung ist ins Alpha-Netz eingestöpselt."
"Ins Alpha-Netz?"
"Ja, das ursprüngliche Netz der Zitadelle. Du solltest echt mal deine Hausaufgaben machen, Elisa."
"Wozu denn? Dann wärt ihr Teks ja arbeitslos." Ein wenig wusste er trotzdem, aber er leistete sich lieber keinen Fehltritt mit seinem Halbwissen. "Was genau ist das Problem am Alpha-Netz?"
"Weil eigentlich keine wichtigen Systeme mehr damit verbunden sind, wird es nicht überwacht. Was auch nahezu unmöglich ist. Das Ding ist virenverseuchtes Sperrgebiet."
"Ihr habt also keine Daten für mich? Großartig." Torochew schnaubte enttäuscht.
"Ich wusste, dass dir das gefällt. Sieh es mal so: Jetzt bekommst du endlich wieder Gelegenheit, deinen Spürsinn unter Beweis zu stellen."
Torochew verzog das Gesicht.
"Wenn du Hilfe brauchst, kannst du dich aber jederzeit melden."
Damit verschwand Fischers Gesicht vom Monitor und der Monitor von der Wand. Letztendlich löste sich auch die auf, als Torochew das Bewegungsprofil beendete und beide Augen wieder auf das Medienpanel in Groenwalds Arbeitszimmer blickten.
Auf ein Gesicht, das ihn daraus anstarrte.
Wer war das? Wie eine ferne Erinnerung, die er mit geschlossenen Augen zum Leben zu erwecken versuchte, veränderten sich seine Formen jedes Mal, wenn er glaubte, es endlich erkennen zu können.
Dann verschwand es und nur ein großes bronzenfarbenes Symbol blieb zurück.
Ein Omega.
Das Symbol, das er bereits in der Segmentüberwachung gesehen hatte.