Hall gab seinen Bodyguards ein Zeichen. Sie erhoben sich schwerfällig und der Unterdruck, den sein Nebensitzer erzeugte, zog auch Torochew von seinem Platz. Vielleicht war es aber auch der feste Griff um seinen Oberarm. Der Tisch hob sich mitsamt dem Bereich, der ihn umgab, ein Stück in die Höhe. Thronte nun auf einem kleinen Podest. Hinter ihm die Außenwand der Zitadelle, vor ihm die versammelte Menge. Wie von einer kleinen Bühne aus konnte man von dort die uniform gekleideten Menschen mit Leichtigkeit überblicken. Im Gegenzug stand Torochew nun auf dem Präsentierteller. Eigentlich ein lächerlicher Gedanke, dass er sich verstecken wollte, immerhin vertrat er hier Recht und Ordnung. Ein Raunen ging durch die Menge. Einer nach dem anderen drehten sich die Anwesenden um und bei allen erkannte Torochew dasselbe Bild. Ehrfurcht, als sie Hall sahen, eine Mischung aller vorstellbaren negativen Reaktionen, wenn ihr Blick auf Torochew fiel. Mürrisches Gemurmel. Flüche. Zischlaute. Ja, alle seine Sinne sagten ihm, dass Hall die absolute Autorität im Saal war und er selbst nicht mehr als ein Störfaktor.
Rufus Hall, Oberster Technokrat – was auch immer das genau bedeuten mochte – hob in einer besänftigenden Geste die Hand und das Gemurmel verstummte. Für was für eine Person Torochew ihn gehalten hatte, als er ihn im Ring predigen hörte oder ihn danach verfolge, er hatte sich auf alle Fälle getäuscht.
"Brüder und Schwestern, ich grüße euch", schwang seine feste Stimme durch den Saal.
"Oberster Technokrat, wir grüßen dich!" Im Gleichklang erschallte die Antwort aller Anwesenden.
"Ich muss euch berichten, dass unsere Brüder Tamachi und Groenwald von uns gegangen sind." Einfach und direkt, ohne große Umschweife kam er zum Punkt.
Torochew erwartete verwirrtes Gemurmel, wenigstens etwas Verwunderung, doch die Menge blieb stumm. Sie hing schweigend an den Lippen des Mannes, warteten darauf, dass er weitersprach. Manche schielten dabei misstrauisch zu Torochew hinüber. Erwarteten sie, dass Hall gleich auf ihn zeigte, und verkündete, er sei der Schuldige?
"Sie sind ermordet worden. Von jemandem dort draußen, der unsere Art zu leben nicht versteht. Jemand, der unsere Vision verdammt."
Wusste Hall bereits, wer der Täter war? Für einen Moment war Torochew versucht, diesem Gedankengang nachzugehen. Nein, das war es nicht. Er durchschaute den Trick. Hall wollte die Menschen 'hier drinnen' gegen die Leute 'dort draußen' zusammenzuschweißen.
"Dieser Mann ist Sergeant Torochew. Ich weiß, dass nicht jeder von euch positive Erfahrungen mit dem Sicherheitskorps gemacht haben. Er ist jedoch fest entschlossen, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Er wird nicht ruhen, bis er den wahren Mörder der beiden gefunden hat. Keine Vertuschung. Keine falschen Schuldigen, die durch konstruierte Beweise überführt wurden."
Torochew seufzte. Er hatte nicht erwartet, dass auch die Oberwelt so eine Sicht vom Sicherheitskorps hatte. Oder nur die Anwesenden? Es schien so, als ob keiner von ihnen etwas vom Tod der beiden Männer gewusst hatte. Oder von den anderen Fällen, die er Hall gegenüber noch nicht erwähnt hatte. Wie isoliert waren sie? Wie sehr von Halls Meinung beeinflusst?
"Er wird euch Fragen stellen müssen. Bitte beantwortet sie mit ehrlichem Herzen."
Zustimmendes Nicken und Schulterzucken war die Antwort. Die Menge entspannte sich. Verachtung und Misstrauen wichen, bis die Anzahl der Personen überwog, die Torochew lediglich abschätzend anblickte. Halls Blick hingegen war herausfordernd. "Nun, Sergeant, Sie sind an der Reihe."
Wie gnädig. Oder auch nicht. Sollte er die Befragung etwa hier durchführte? Er würde nie im Leben eine ehrliche Antwort erhalten, wenn alle anderen zuhörten.
"Ich denke, wir sollten die Leute essen lassen. Ich werde eine Weile für die Befragungen brauchen. Da wäre es falsch, wenn sie solange hungern müssten. Wie wäre es, wenn Sie mir solange einen Crashkurs über ihre ..." Torochew zögerte und suchte nach der richtigen Bezeichnung für das, was er hier vor sich hatte. War es eine Privatarmee oder eine Sekte? "... Gemeinschaft geben?"
Ein Grinsen schlich sich auf Halls Gesicht. Er wusste genau, was in Torochews Kopf vorging. "Natürlich." Er winkte einem jungen Mann zu, der an einem der Tische saß, die ihnen am nächsten standen. "Thomas, komm doch mal her."
Der Mann erhob sich, ohne zu zögern, und ließ seine halb verspeiste Mahlzeit zurück, von der sich immer noch schwache Dampffäden in die Höhe zogen.
"Sergeant Torochew scheint sich auf unbekanntem Terrain unwohl zu fühlen. Mach ihn doch bitte mit Omega vertraut."
Thomas nickte enthusiastisch, dann setzte er zu einer Frage an. Hall kam seiner Frage zuvor. "Nur mit den Grundzügen. Ich denke nicht, dass sich der Sergeant uns bereits anschließen möchte."
Erneut nickte der Mann. "Ah, wollen Sie sich vielleicht zu uns an den Tisch setzen, Sergeant? Wir können noch eine Portion für Sie bestellen."
"Danke für das Angebot, aber ich habe bereits gegessen." Das war eine Lüge. Je nachdem, wie lange er brauchte, würde es sich über das Ausschlagen des Angebots bestimmt noch ärgern. Aber er wollte raus aus dem Mittelpunkt der Aufmerksamkeit – und aus der Hörweite Halls. "Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich lieber ein Stück laufen."
Thomas warf einen zögernden Blick auf den Obersten Technokraten, einen auf seinen halb leeren Teller und einen letzten auf Torochew. Er setzte ein Lächeln auf. "Natürlich, kein Problem. Folgen Sie mir bitte." Ja, auch Thomas würde die verpasste Mahlzeit bereuen. Tapfer führte er den Sergeant aus dem Raum, verfolgt von den argwöhnischen Blicken der anderen.
Die Tür war in einen mit altertümlichen Glyphen verzierten Rahmen eingefasst, öffnete und schloss sich lautlos. Torochew fand sich in einem Gang wieder. Weiße, raue Wände, an deren Boden und Decke sich Ornamentleisten entlangzogen. Er versuchte, dem Muster verschlungener Linien zu folgen, doch es war so verworren, dass er schon bald den Faden verlor.
"Omega. Ich muss gestehen, dass ich eigentlich gar nichts darüber weiß. Selbst bei den vielen Gruppierungen, die in der Zitadelle beheimatet sind, hätte mir eine Organisation mit einer so verheerenden Botschaft eigentlich auffallen müssen." Er wählte einen bewusst provokanten Einstieg in ihr Gespräch. Vielleicht redete sich Thomas ja in Rage und verriet ihm Details, die er eigentlich zurückhalten sollte. Selbst, wenn das nicht der Fall war, würde es dem Lügendetektor leichter fallen, Ungereimtheiten in seinen Reaktionen zu entdecken, wenn Torochew ihn etwas aus der Balance brachte.
Thomas schnaubte. "Verheerend? Nun, die Wahrheit hatte diese Wirkung schon immer. An der sind Sie doch interessiert Sergeant, oder nicht?"
"Die Wahrheit ans Licht zu bringen ist mein Job. Dann lüften Sie mal die Geheimnisse Ihrer Gemeinschaft."
Der Mann wies nach links, wo der Gang sich bald hinter einer Kurve verlor, faltete die Hände hinter seinem Rücken und schritt bedächtig voran. Torochew folgte ihm und verbannte das Rätsel des Ornamentmusters endgültig aus seinen Gedanken.
"Die Zitadelle ist am Ende, Sergeant. In vielerlei Hinsicht. Die Substanz bröckelt und die Gesellschaft wird nur von den Lügen der Großen, der Ohnmacht der Kleinen und Bequemlichkeit aller anderen zusammengehalten. Wir alle hier arbeiten in den verschiedensten Bereich, in denen jeder von uns erfolgreich und gut positioniert ist. Wir alle erkennen die Zeichen, die auf das Ende hindeuten." Nach einer winzigen, abwägenden Pause fügte er hinzu: "Ich kann mir vorstellen, dass auch Sie es bereits bemerkt haben."
Vom Ende hätte Torochew nicht unbedingt gesprochen. Jeder, der nicht vollkommen blind durch die Welt lief, wusste, dass in der Zitadelle nicht alles glatt lief. Er zweifelte nach dieser Einleitung, dass er etwas Neues erfuhr. Trotzdem nickte er zustimmend.
"Wir wollen das aber nicht einfach hinnehmen. Hier drinnen suchen wir im Geheimen nach Möglichkeiten, dem Verfall zu entgehen. Den Verfall, den bisher jede Gesellschaft ereilt hat, wenn ihre Dekadenz ein unerträgliches Maß erreicht hatte. Und dort draußen", er untermalte seine Worte mit einer ausholenden Geste, "versuchen wir, so vielen Menschen die Augen zu öffnen, wie wir können."
"Ich habe den Obersten Technokraten bei der Arbeit beobachtet. Ich hatte ein wenig das Gefühl, dass eure Bemühungen, die Menschen zu erleuchten, in Aufständen und einem noch größeren Chaos für die Gesellschaft enden werden."
Thomas seufzte. "Ich verstehe, dass Sie als Sik auf die Stabilität achten müssen, auch wenn Sie wissen, dass die nicht mehr als eine Illusion ist."
"Ja, ja, es ist ein Dilemma, ich weiß. Danke für das Mitgefühl." Ein wenig Ironie konnte er sich nicht verkneifen. "Ich bin ehrlich: Ich will nichts lieber, als das Chaos vergessen, dass mich dort draußen erwartet. Vielleicht beruhigt es mich ein bisschen, wenn ich weiß, wie Omega hier drinnen das Ende verhindern will."
"Wir werden es nicht verhindern."
Okay. Die Antwort war eindeutig. Also arbeitete Omega doch auf einen Sturz der Zitadelle hin, oder versuchte wenigstens, ihn zu beschleunigen? Kam gleich der Moment, in dem Thomas ihn in eine Kammer führte und ihm offenbarte, dass er Omega mit diesem Wissen nicht mehr verlassen würde? "Nicht?", fragte er zögernd.
"Nein. Wir suchen nicht nach Möglichkeiten, das Ende zu verhindern. Das ist uns in diesem Stadium bereits unmöglich. Wir versuchen, ihm zu entgehen. Wir werden eine neue Ebene der Existenz erreichen und alle mitnehmen, die uns folgen wollen."
"Hmmm", antwortete Torochew. Innerlich triumphierte er bereits. Jetzt musste nur noch der eindeutige Beweis folgen, dass er es mit einer Sekte zu tun hatte. "Und wie erreicht Omega das? Trennt ihr euren Geist vom Körper ab und tretet in den Äther ein?"
"Was?" Thomas Augen weiteten sich. War das Entsetzen? Die Erkenntnis, dass der Sergeant ihr Geheimnis entdeckt hatte und ihr Plan gescheitert war? Doch dann schüttelte er langsam seinen Kopf und lachte verhalten. "So ein Quatsch."
Torochew hob seinen Hut und kratzte sich verlegen am Kopf.
"Haben Sie das wirklich geglaubt, Sergeant?"
Er zuckte nur unschuldig mit den Schultern. Er hatte schon Verrückteres erlebt.
"Haben Sie schon mal etwas von Raumfahrt gehört?"
Klar. Wer hatte das nicht? Plötzlich war die Angst um ein möglicherweise nahendes Ende seines Lebens und dem Entdecken schrecklicher Wahrheiten verflogen. Er hatte es sicher immer noch mit Spinnern zu tun ... aber nicht unbedingt mit der fanatischen und mordlustigen Sorte. "Wollen Sie auf den Mond fliegen?"
"Nicht unbedingt. Nur ins All. Oder wenigstens auf die andere Seite der Erde. Dem Einflussgebiet der Zitadelle entkommen. Die nächsten hundert Stadtringe wurden bereits zwischen den Familien aufgeteilt. Genauso, wie das umliegende Gebiet. "
Raumfahrt, also. Das erklärte, warum Omega seine Mitglieder aus einem weiten Spektrum der Bevölkerung rekrutierte. Normales Fußvolk, aber auch Experten – die ihre Erfahrung vielmals im Dienst der Familien gesammelt hatten. Plötzlich hatte er einen neuen Verdacht, wer für die Morde verantwortlich sein konnte. "Kann es sein, dass es den Familien nicht passt, wenn ihre Mitarbeiter Omega helfen und bald hinterm Horizont oder im All verschwinden?"
"Sie meinen, dass die Morde an Groenwald und Tamachi auf das Konto der Familien gehen?"
"Wäre nicht auszuschließen, oder?"
Auf Thomas Stirn bildeten sich ausgeprägte Denkerfalten, doch er schüttelte den Kopf. "Ich denke nicht. Am Ende profitieren die Firmen trotzdem von unserer Arbeit. Was kann in der Zitadelle schon geheim gehalten werden? Es ist nicht unmöglich, dass sie unsere Technologie kopieren und alles, was wir erreichen, nicht mehr als ein Vorsprung ist. Es hängt wohl davon ab, wie weit wir kommen und wann die Zitadelle über ihnen zusammenbricht."
Das Gegenargument überzeugte Torochew nicht. Die Morde konnten genauso ein Akt der Sabotage sein. Vielleicht wollten die Familien den Aufbruch von Omega hinauszögern und so lange wie möglich von ihren Forschungen profitieren.
"Wie wichtig war der Anteil der beiden Opfer an Ihrer Forschung?"
Thomas verzog seine Mundwinkel. "Sie waren gut auf ihrem Gebiet. Aber ich muss zugeben, dass der menschliche Verlust größer ist als der wissenschaftliche. Tamachi kannte ich nicht näher, aber Groenwald war mein Freund."
Das war gut. Jemand, der einem der Opfer nahe stand, war eine gute Quelle, um die Wahrheit herauszufinden. Falls nicht die Familien hinter den Morden steckten, und Omega im Ganzen ebenfalls nicht vom Tod der Leute profitieren, war es sehr wahrscheinlich, dass es persönliche Motive gab. Jemand, der trotzdem aus ihren Reihen stammte. Das Vorgeplänkel war beendet und Torochew würde sich nun intensiv auf den Lügendetektor konzentrieren, der bisher eher nebenbei für das Protokoll gelaufen war.
Wie aus dem Nichts tauchte eine Schar Kinder auf. Der Sergeant blieb stehen und riss erschrocken die Arme in die Luft, damit er mit keinem von zusammenstieß, als sie sich kichernd an ihm vorbeidrückten. Unbeeindruckt von Torochews tadelndem Blick liefen sie bis zum sichtbaren Ende des Ganges, wo sie hinter einer Kurve verschwanden. Eines der Kinder blieb vor der Kurve stehen und drehte sich um. Ein kleines Mädchen mit schwarzen Haaren und Topfschnitt. Es streckte ihm die Zunge heraus, dann huschte es davon.
"Stimmt etwas nicht, Sergeant Torochew?" Thomas hatte es erst nach einigen weiteren Schritten bemerkt, dass er ihm nicht mehr folgte.
"Es ist so selten, dass ich in der Zitadelle fröhliche Kinder zu sehen bekomme."
"Kinder? Wie kommen Sie jetzt darauf?"
Torochew zeigte in die Richtung, in der sie verschwunden waren, doch etwas machte ihn stutzig. Er hatte gerade noch ihr Gelächter gehört, doch nun war es absolut still. Hatte er sich das nur eingebildet?
"Nicht wichtig. Tut mir leid, ich war wohl etwas abgelenkt."
Das geschah die letzte Zeit öfter. Das Gefühl, das ihn immer wieder beschlich, dass etwas nicht stimmte. Dass er etwas vergessen hatte. Etwas Wichtiges übersah. Er musste sich wirklich besser auf seine Arbeit konzentrieren. Er atmete durch und ging zur eigentlichen Befragung über.
"Groenwald war ihr Freund? Was für ein Mensch war er?"