CN: Prothese, Verletzungen (offene Brüche erwähnt), Gefühlsausbrüche
Mika schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch. „Bitte. Versuch doch, es objektiv zu betrachten und –“
„Nein!“ Lian hörte sich den Satz nicht einmal bis zum Ende an. „Ich brauche keine Objektivität. Es geht hier um MICH! Also habe ich auch ein Recht auf Subjektivität!“
Angespannt, aber mit ruhiger Stimme, hielt Mika dagegen. „Meine Güte, Lian! Niemand würde merken, dass es eine Prothese ist! Es wäre das neueste Modell, mit Nervenkontakt und allem drum und dran! Überleg doch mal – drei Monate Heilung gegen wer weiß wie lange mit Schmerzen und Bewegungseinschränkungen!“ Ein Seufzen. „Ich will doch nur dein Bestes!“
„Dann akzeptiere, was ich will!“ Mit hochrotem Kopf starrte Lian Mika an. „Man muss nicht immer alles gleich ersetzen!“
Händeringend sah Mika zur Decke. „Lian! Alle, die etwas von Medizin verstehen, sagen, dass die Heilung ungewiss ist und mit lebenslangen Einschränkungen einhergehen könnte! Wir haben wirklich überall gefragt – bitte, zieh es doch wenigstens in Erwägung!“
„Hör auf!“ Lian schrie inzwischen fast. „Du unterschätzt, was der Körper alles heilen kann! Seit der Steinzeit haben die Leute offene Knochenbrüche überlebt, mit Schienen aus Ästen, Kräuterpasten gegen Entzündungen und Würmern, die totes Fleisch weggefressen haben! Und die Medizin wurde immer besser! Da werde ich ja wohl in einem sterilen Krankenhaus klar kommen!“ Er schluckte, holte tief Luft und atmete kontrolliert aus. „Früher ging es auch ohne technische Hilfe – ich will das versuchen. Es wird schon nicht so schlimm werden.“ Er sah Mika mit einem um Verständnis heischenden Lächeln an, doch er sah in ein finster dreinblickendes Gesicht.
„Du weißt ja nicht, wovon du redest.“
Sofort verschloss sich Lians Miene wieder. „Na und? Du doch auch nicht!“
„Von chronischen Schmerzen? Von der Angst, kein vollständiger Mensch mehr zu sein? Von der Sorge, von denen, die einem viel bedeuten, gemieden zu werden, wenn sie etwas bemerken?“ Mika wusste, dass es schlecht war, sich so in Rage zu reden, aber irgendwo tief im Innern war ein Damm gebrochen und die Flut an Worten, die so lange aufgestaut worden war, ließ sich nicht mehr aufhalten. „Verdammt, Lian, ich weiß das! Ich weiß das und will nicht, dass es dir so geht! Ich weiß, was gute Implantate können, und ich weiß, welches Leid sie dir ersparen! Glaub mir doch einfach! Hör doch einmal auf mich und nicht auf die Geschichte! Ein verdammtes Mal!!! Versuch dir doch mal vorzustellen, wie ich mich dabei fühle, wenn ich dich hier so liegen sehe! Lian, du sollst das nicht durchmachen müssen, was ich –“ der Stuhl, auf dem Mika neben Lians Bett gesessen hatte, kippte hintenüber und schlug krachend auf dem Boden auf, als Mika den Satz abrupt abbrach, aufsprang und aufgewühlt aus dem Zimmer lief.
Betroffen sah Lian hinterher. Noch nie war er Zeuge dessen geworden, dass Mika die Beherrschung verlor. Mika war normalerweise die Ruhe in Person. Besonnen. Fokussiert. Mit einer Ausstrahlung natürlicher Autorität, die vermutlich schon vor der Ernennung zum Captain da gewesen war. Eine Führungspersönlichkeit, die sich stets unter Kontrolle hatte.
Das, was Lian soeben beobachtet hatte, war eine plötzliche, unerwartete Verwandlung. Als sei das wahre Ich des Menschen, den er bisher zu kennen geglaubt hatte und der sich in den letzten Wochen immer mehr in sich zurückgezogen hatte, auf einmal mit Macht hervorgebrochen. Wie ein Schmetterling, der den Kokon, den er als Larve gesponnen hatte, zerriss und als völlig neues Wesen in Erscheinung trat.
Und was hatten die Worte, der abgebrochene Satz, zu bedeuten? Litt Mika unter andauernden Schmerzen und wenn ja, wie lange schon? Was war geschehen? War Mika etwas implantiert worden, das dagegen half? Und woher kam diese plötzliche Offenheit?
Mit einem Mal schlug Lians Herz ein wenig schneller. Bedeutete dieser Blick in die Seele, dass Mika doch mehr für ihn empfand, als bisher angenommen? Er wagte kaum, zu hoffen. Aber falls dies der Fall war: Was hatte er getan, um diese Einsicht in Mikas Gefühlswelt zu verdienen? Hatte er die Verbindung, die sie seit einigen Monaten zueinander hatten, mit diesem Einblick zerstört oder war er eine Einladung, mehr zu entdecken?
Er lehnte sich im Bett zurück und dachte nach. Und zum ersten Mal seit Wochen ging es dabei nicht um seine linke Hand, sondern um etwas, das ihm noch wichtiger schien.