Rating: P12 [CN: Thematik um Holocaust und Drittes Reich]
Nach dem Prompt „Garten-Fuchsschwanz [Tierische Herbstfärbungs-geschichten]“ der Gruppe „Crikey!“
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Sturmböen peitschten die Zedern, doch im Schutz der überhängenden Ranken, mit ihren großen Blättern und den violetten Trauben von Blüten, hatten Yashiro und seine Schwester Seki Schutz gefunden. Während der Herbststurm auf die Bergflanke prasselte, schwere Tropfen und Hagelkörner auf das dunkle Gestein warf, zupfte Seki am Ärmel von Yashiros Robe.
"Yashi ... Da ist jemand."
So trafen sie Kianto zum ersten Mal.
Damals, an dem Tag im Herbst, an dem der Sturm sie drei überrascht hatte, war Kianto ein blasses Mädchen mit hellblauem Haar, von zierlicher Gestalt, weil sie so mager war. Seki lächelte und streckte die Hand mit einem Haferkeks aus, dem Kianto unmöglich widerstehen konnte, während Sekis Bruder die Fremde misstrauisch beobachtete. In ihrem kleinen Dorf kannte jeder jeden, und Kianto war niemand von ihnen.
Doch Seki kümmerte das nicht. Sie sah nur ein anderes Kind in Not und wollte helfen.
Wie Seki und Yashiro etwas später erfuhren, nachdem ihre Freundschaft einige Wochen zaghaft erblüht war, war Kianto gar kein Elfenmädchen, sondern ein Fuchs. Eine der neunschwänzigen Kitsune - wenngleich sie noch nicht die Macht der neun Schweife besaß -, wandlerische Fuchswesen, die eigentlich im Verborgenen lebten, weshalb sich die Freunde auch immer nur im Schutz des Amaranths trafen, von den großen Blättern und Blüten verborgen. Kianto konnte aussehen wie ein Elf, und zwar sowohl wie ein Junge als auch ein Mädchen. Ihre wahre Gestalt war jedoch ein weißer Schneefuchs mit einem buschigen Schwanz, kaum mehr als ein Welpe. Ihre Familie hatte sie in einem Schneesturm verloren. Der Pass zu ihrem Heimattal war nun verschüttet, vor der Schneeschmelze im Frühjahr würde Kianto nicht heimkehren können. Verzweifelt hatte sie sich ein Versteck im Amaranth gesucht, der auch Fuchsschwanz genannt wurde, und gewartet.
Seki hatte sofort eine Idee: Kianto sollte sich als zahmes Füchschen tarnen und mit den Kindern kommen. Yashiro war sich zwar sicher, dass ihre Eltern das nicht erlauben würden, doch sie wollten es trotzdem versuchen.
Dann fielen die Blätter und die Erinnerung des Amaranths riss ab, um ein Jahr später, im nächsten Herbst, zurückzukehren.
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Wieder waren da die drei Kinder. Seki und Yashiro waren ein Stück größer geworden, doch die größte Entwicklung hatte die kleine Kianto vollbracht, die nun großgewachsen war und nicht länger ein viel jüngeres Kind. In ihrer tierischen Gestalt besaß sie einen weiteren, flauschigen Schweif, der ihre wachsende Macht verdeutlichte. Füchse altern anders als Elfen, doch der Freundschaft der drei tat das keinen Abbruch. Obwohl Kianto zu ihrer Familie hatte heimkehren können, besuchte sie ihre elfischen Freunde gerne und oft.
Allerdings war Kiantos Mutter streng dagegen, denn sie misstraute den Elfen. Kianto ließ sich davon nicht von ihren Freunden abbringen, doch sie musste sich aus dem Haus schleichen. Oft und lange saßen sie unter der Hecke und spielten, doch wann immer andere Elfen vorbeikamen, verstummten die drei, voller Furcht, dass Kianto entdeckt werden könnte ...
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Einige Jahre später, als das Laub sich erneut verfärbte, spielten die Kinder jedoch auf der Wiese vor dem Fuchschwanz-Gebüsch, zusammen mit den anderen Kindern des Dorfes. Sie tobten über die Wiesen, die der Kälte noch nicht gewichen waren, Gelächter hallte von den schneegekränzten Gipfeln wieder. Dann erhob sich Geschrei, weil Kianto beim Fangen in die Fuchsgestalt gewechselt war: Ein Schneefuchs mit drei Schweifen, der natürlich viel schneller war als alle Elfenkinder.
Doch bald verebbte der Ärger, als Kianto das nächste Kind fing und als Mädchen davonsprang. Sie war kaum gealtert, während Seki und Yashiro nun deutlich älter aussahen. Tatsächlich erschienen die drei nun gleich alt. Kinder, deren unbeschwerte Jugend bald enden würden.
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Etwas später herrschte fast unheimliche Stille über dem Dorf. Nur der Regen fiel, dieses Mal in dichten, sanften Strömen. Die drei Freunde, nun älter, saßen mit ihren Schulaufgaben im Schutz des Amaranths, wo es trocken war.
Schweigend beugten sie sich über verschiedene Schulaufgaben.
"Ganz ehrlich, wer braucht Mathematik schon?", schimpfte Yashiro nach einer Weile und warf die Schreibfeder zur Seite.
"Yashi!", mahnte Seki und hob das Schreibutensil auf.
"Ist doch wahr! Ich werde später sicherlich niemals Bruchrechnen müssen!"
"Man kann nie wissen", erwiderte Kianto. Er bevorzugte nun eine männliche Gestalt, war jedoch noch ebenso blass wie zuvor. Seine Stimme war merklich tiefer geworden. "Vielleicht wirst du mal von einem Zwerg überfallen und musst dich mit Mathe verteidigen!"
"Kianto!", rief Seki, entsetzt, weil sie geglaubt hatte, er würde sie unterstützen. Der vierschweifige Fuchs grinste nur und eine zarte Röte huschte über Sekis Wangen. Dann riss sie sich jedoch zusammen und drückte Yashiro die Schreibfeder wieder in die Hand. "Mathe ist sehr wichtig. Und es gibt viele Stellen, an denen man Bruchrechnung benötigt. Nicht zuletzt beim Backen, aber auch ..."
"Backen? Das ist doch Frauenarbeit", sagte Yashiro.
"Genau, Frauenarbeit!", stimmte Kianto ein.
Seki pustete die Wangen auf und funkelte die Jungen an. "Ihr seid unmöglich!" Damit packte sie ihre Sachen und stürmte davon, verfolgt von Yashiros Ruf: "Viel Spaß beim Bruchrechnen!"
⁂
Es ging wohl auf das Abschlussjahr zu, in diesem Herbst, als die Erinnerung des Amaranths zurückkehrte. Es war trocken, doch ein stürmischer Wind jagte durch die Zedern und ließ die Blätter des Fuchsschwanzes rascheln.
Nur Seki und Kianto saßen im Sonnenschein vor ihrem alten Versteck. Der Fuchs, nun mit fünf Schweifen, sah sich um. "Kommt Yashiro nicht?"
"Die Lehrer sagen, dass er vielleicht sitzen bleiben wird", erklärte Seki leise. "Also haben meine Eltern ihn zur Nachhilfe geschickt. Dort ist er jetzt die meisten Nachmittage, bis ..."
"Bis was?"
Die junge Elfe zuckte die Schultern. "Bis er nicht mehr sitzen bleiben wird? Ich weiß es nicht, Ki!"
Der Fuchs seufzte. Noch immer war er in männlicher Gestalt unterwegs, allerdings ließ er sich das Haar länger wachsen. "Wir haben doch immer zusammen gelernt!"
"Das jetzt ist eine Einrichtung des Militärs", erklärte Seki. "Sie sind dort strenger, als wir es jemals wären. Meine Eltern denken, dass er dort eher zur Vernunft kommt."
"Militär?" Kianto verzog das Gesicht.
"Er wird eh später zur Armee müssen", führte Seki leise aus. "Also kann er ja ... schon mal anfangen." Es tat ihr sichtlich weh, so von ihrem Bruder getrennt zu sein. Sie rieb sich über die Augen und straffte sich dann. "Egal! Lass uns loslegen, bevor sie mir noch etwas ähnliches antun!"
Kianto nickte und - veränderte sich. Seine Züge wurden weicher, die Gestalt kurviger, bis er zu einer Frau gewesen war. "Nur falls uns jemand sieht", erklärte er mit gedämpfter Stimme. "Bevor noch jemand denkt, ich wäre ein Junge, der den Mädchenunterricht kennt."
Seki nickte. Es waren mehr Fremde im Dorf als je zuvor. Wenn sie nicht begriffen, was Kianto war, könnte er für das Studium von Kochkunst, Haushalt und Handarbeiten ordentlich Ärger bekommen ...
"Hast du eigentlich von den neuen Gefängnissen gehört?", fragte sie leise.
Der fünfschweifige Fuchs hob die Hand, um sie zu unterbrechen. "Wir wollen deine Fächer lernen, keine Politik." Er schenkte ihr ein entschuldigendes Lächeln. "Erst die Arbeit, dann das Vergnügen."
Schweren Herzens stimmte Seki zu.
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"Ich werde mich nicht entschuldigen!", stellte Yashiro klar.
"Yashi!" Seki sah flehend zwischen ihm und Kianto hin und her.
Der Fuchs hatte alle sechs Schweife gesträubt und die Lippen von den Zähnen zurückgezogen. Obwohl er noch überwiegend menschlicher Gestalt war, blitzte tierischer Instinkt in seinen Augen.
"Du kennst ihn dein ganzes Leben lang", appellierte Seki.
"Natürlich, und Kianto ist natürlich anders. Und seine Familie", gab Yashiro durch die Zähne zu. Er trug eine Uniform, die ihm etwas zu groß war, Seki dagegen den Kimono einer braven Hausfrau. "Trotzdem, die meisten Anderlinge sind gefährlich. Ob Fuchs, Zwerg oder Landesverräter!"
Seki schüttelte den Kopf. "Du glaubst den Mist doch nicht, den sie erzählen, oder?"
"Wovon sprichst du?" Yashiro schüttelte den Kopf. "Seki, du gehörst doch nicht zu den Zweiflern?"
Entsetzt starrten die Geschwister einander an. Plötzlich war eine Kluft zwischen ihnen, eine entsetzliche Kluft, die ihnen Angst machte.
Seki tastete nach der Hand von Kianto, der hinter ihr stand. Yashiro folgte der Geste mit dem Blick und sein Ausdruck wurde noch eine Spur kälter.
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"Ich wünschte, es wäre wie früher", gestand Seki Kianto in diesem Jahr.
Die beiden Frauen saßen wieder in ihrem Versteck. Kianto trug wieder ein weibliches Gesicht, mit kurzem Haar und provokativ männlicher Kleidung, unter der die sieben Schweife hervorblitzten. Seki trug den Kimono, der ihr allmählich zu klein wurde. "Zuhause geht es nur noch um den Krieg, tagein, tagaus. Egal, ob ich bei meinen Eltern oder meinem Mann bin. Meine Eltern reden immerhin auch über Yashi, er schreibt regelmäßig ..." Sie seufzte. "Ich will nicht zu viel jammern. Bei euch ist es sicher schlimmer."
"Ein wenig", gestand Kianto leise. "Sie haben jetzt auch die letzten Geschäfte im Viertel geschlossen. Unter irgendwelchen Vorwänden, aber es ist ja schon verdächtig, dass es nur 'Anderlinge' trifft ... Jetzt müssen wir alles bei Elfenhändlern kaufen, die die Preise erhöhen."
"Vielleicht", meinte Seki, "solltet ihr gehen. Weg aus Gai-Shitori."
Kianto schüttelte den Kopf. "Irgendwer muss gegen diesen Wahnsinn kämpfen!"
"Und wenn dir etwas passiert?"
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"Bitte, Ki, du musst gehen!" Tränen strömten über Sekis Gesicht. "Yashi hat gesagt, dass dein Viertel morgen dran ist! Verstehst du nicht? Sie werden dich töten! Sie werden euch alle töten!"
"Das ist Schwachsinn. Die Gefängnisse sind nur für Verbrecher und gefangene Soldaten und so." Kianto schüttelte den Kopf. "Das sind alles nur Verschwörungstheorien."
"Willst du es wirklich darauf ankommen lassen?"
Der Fuchs umfasste ihre Handgelenke sanft. Kianto hatte sich in einen jungen Mann verwandelt, wie immer, wenn er besonders mutig sein wollte. "Das ist unsere Heimat, Seki. Ja, es mag kein schönes Viertel sein, und die meisten leben nicht freiwillig dort, doch wir haben uns an den Ort gewöhnt. Das können wir nicht zurücklassen, nicht erneut. Wenn sie wirklich morgen kommen, dann werden wir vorbereitet sein!"
"Was willst du denn tun?"
"Ich warne alle. Wir werden kämpfen!"
"Ki ..."
"Bald erhalte ich meinen neunten Schweif! Als volle Kitsune bin ich mächtiger als sie alle zusammen. Und dann werde ich diesen Wahnsinn beenden." Er sah Seki tief in die Augen. "Du wirst schon sehen."
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Der neunte Ausschnitt zeigte das Amaranthgebüsch an der Mauer in strömendem Regen. Keine Sonne schien durch die dichten Wolken, es war ein grauer Tag.
Seki und Yashiro, nun sehr viel älter, gehörten zu der kleinen, dunkel gekleideten Gruppe, die sich um einen scheinbar simplen Pflasterstein versammelt hatte. Gerade hielt Seki noch ihre Hand auf den Stein, die Augen geschlossen. Zwei Kinder klammerten sich an ihren Rock und sahen staunend und schweigend zu. Sie waren nicht älter als Seki in der ersten Erinnerung gewesen war.
Yashiro trug eine Uniform voller Ehrenabzeichen, die er nach und nach abnahm. Sein Gesicht war eingefallen und grau, die Augen lagen tief in ihren Höhlen. Er zerbrach die Abzeichen, eines nach dem anderen, und der Regen zischte auf dem Metall, als die Magie darin freigesetzt wurde. Ein Magier in einem dunklen Kimono fing die Energie auf und leitete sie in den Stein, den Seki hielt.
Sie schluchzte leise, als sie die letzten Erinnerungen in den Echostein legte. Und nun, Jahre später, ist der Stein im Pflaster alles, was an Erinnerung geblieben ist. Eine ewige Erinnerung, die manch einen Vorbeigehenden zum Stolpern bringt. Wenn er sich dann bückt und den auffälligen Stein bemerkt, jenen Stein, in den der Name 'Kianto' eingraviert ist, mit zwei Daten, die viel zu nah zusammenliegen, und einigen stichwortartigen Ergänzungen, dann können diese Wanderer mit den Fingern über den Stein streichen und Sekis kostbare Erinnerungen sehen. Erinnerungen, klar und intensiv von der vielen Magie, die in den Echostein geflossen ist.
Wenn sie verblassen, die neun Szenen des Fuchses, ist es, als könnte man den Regen der letzten Vision noch auf den Wangen spüren.
Illustration von Lyzian: https://ibb.co/VQpMzdF
Danke, Lyz!