Rating: P12
Nach dem Prompt „Turteltaube“ der Gruppe „Crikey!“
--------------------------------------------------------------------------------------------------------------
Lysa konnte kaum fassen, wie schön der verträumte Garten aussah. Im dichten Geäst hatte sich eine natürliche Höhle gebildet, umgeben von rankenden, weißen Rosen, deren Blüten auch das dunkle Gras bedeckten. In ihrem hellen Kleid fröstelte sie leicht, obwohl der Sommertag warm war. Eine Gänsehaut kroch über ihren Rücken und die Arme, als sie Caya am Altar stehen sah, in einem ganz ähnlichen Kleid in weiß und beige mit einigen dunkelgrauen Akzenten.
Der Weg durch das Spalier der Gäste schien Lysa unendlich lang. Schließlich stand sie endlich neben ihrer Freundin. Ihr Herz flatterte wie ein gefangener Vogel.
Die Hohepriesterin musterte sie beide mit einem warmen Lächeln.
"Liebe Freunde. Wir haben uns hier versammelt, weil diese beiden jungen Frauen ein Versprechen abgeben wollen. Einen Schwur der Liebe. Einen heiligen Pakt der Einheit ..."
Die vertrauten Worte, die sie im Vorfeld tausendmal durchgegangen war, plätscherten vorbei wie Wasser in einem Bach. Sie sah immer wieder zu Caya. Täuschte sie sich, oder war ihre Verlobte an diesem Tag schöner als je zuvor?
"Willst du, Lysa Haven, die hier anwesende Caya ehelichen, sie lieben in guten wie in schlechten Tagen?"
Lysa hielt den Atem an. "Ja. Ja, ich will!"
Keine Minute später stimmte Caya zu und sie umarmten einander zu ihrem ersten Kuss als Ehefrauen.
"Herzlichen Glückwunsch, ihr beiden." Cayas Vater lächelte, ehe er etwas hervorzog. Unter dem weißen Tuch malte sich der Umriss eines Vogelkäfigs ab. Cayas Vater zog das Tuch ab und offenbarte zwei hübsche Tauben hinter dessen Gittern.
"Die sind für euch. Es sind zwei Weibchen."
"Sie sind wunderschön!", hauchte Lysa ergriffen.
"Turteltauben. Sie sollen euch immer an eure Liebe erinnern."
"Bist du eigentlich noch bei Trost?", fauchte Lysa. "Du kannst ja mal den ganzen Tag Haushalt machen, kochen und putzen und dann noch an den Garten denken!"
"Nein, kann ich nicht! Weil ich arbeiten gehe, damit wir Essen auf dem Tisch haben", brüllte Caya mit aller Kraft zurück. "Während du nur zuhause sitzt! Geld, von dem du deine ganzen Setzlinge kaufst, ohne mich zu fragen!"
"Weil du nie Zeit hast, wenn ich mit dir reden will."
Die Tauben schlugen in ihrem Käfig unruhig mit den Flügeln, während Caya und Lysa einander anfunkelten. Lysa fragte sich, wie sie sich so sehr in Caya hatte täuschen können. Aber in den Jahren seit ihrer Hochzeit war immer deutlicher geworden, dass sie eben doch nicht füreinander bestimmt waren. Es klappte an allen Ecken und Enden nicht.
Weinend trug Lysa den Käfig aus dem Haus, das sich auch nach all den Monaten noch immer viel zu leer anfühlte. Sie hatte sich nicht daran gewöhnt, dass Caya fort war. Manchmal wurde sie nachts wach, weil sie glaubte, ihr Lachen zu hören oder ihre sanfte Hand zu spüren.
Aber es waren nur Träume. Vielleicht würde es ihrem gebrochenen Herzen helfen, wenn sie die Vögel freiließ, diese ewige Erinnerung.
Lysa öffnete die Käfigtüre und trat zurück.
Die Turteltauben zögerten nicht einmal, streckten ihre Schwingen und flogen in den grauen Himmel. Lysa atmete durch. Auf eine verrückte Weise fühlte sie sich tatsächlich befreit.
Lange sah sie den beiden Vögeln zu, die über ihrem Haus kreisten. Bis sie ein Geräusch hinter sich hörte.
"Lysa?"
Sie drehte sich um, mit einem kaum fähig, zu atmen. Caya stand hinter ihr, den Blick zum Boden gesenkt.
"Können wir reden?"
Der Garten blühte und gedieh. Bevor Caya zur Arbeit ging, saßen sie oft an dem kleinen Tisch inmitten der Blumen, und genossen einen Tee oder ein gutes Frühstück. So auch heute.
"Was hast du heute vor?"
"Ich wollte den Küchenschrank mal aufräumen." Lysa lachte. Das sagte sie jeden Tag.
"Nimm dir ein Regal vor", schlug Caya vor. "Stück für Stück."
"Mal sehen, wie viel Zeit ich habe. Was macht die Arbeit?"
"Momentan ist es ruhig. Soll ich noch einkaufen?"
"Puh, ich weiß gar nicht, was alles fehlt ..."
So ging es weiter, bis die Sonne über die Bäume schien und Caya aufbrechen musste.
Auf einem nahen Baum saßen zwei Turteltauben im höchsten Geäst und putzten sich gegenseitig das Gefieder. Dann stießen sie sich beide ab und kreisten frei unter den Wolken.