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Nach dem Prompt „Erdkröte/Krötenwanderung“ der Gruppe „Crikey!“
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Die Luft war erfüllt von einem merkwürdigen Gefühl. Gelächter scholl über den Platz am See, Jubel und Gesang, doch trotzdem war die Wehmut spürbar. Die Maturanten nahmen Abschied.
Kira hatte ihre Taschen sogar bereits gepackt. Als Klassenbeste hatte sie bereits direkt nach der Prüfung eine Anstellung gefunden. Sie würde bei einer bekannten Heilerin in die Lehre gehen, der großen Vanda Ribbeck. Eine unfassbare Ehre und eine gewaltige Change. Ihren Aufbruch nach Raaken hatte sie nur lange genug verschoben, um an dieser Abschlussfeier teilzunehmen.
Ihre Mitschüler trugen noch die traditionellen Seemannstrachten. In Schilfsied, ihrem kleinen Dorf zwischen dem Aakenwald und der Küste, gehörten gelbe Akzente zu den Anzügen und Kleidern. Auch die Jahresbändchen, auf denen das Jahr ihres Abschlusses stand, waren gelb. Kira hatte jedoch zu praktischer Reisekleidung gewechselt. Sie würde noch heute Abend aufbrechen. Ihren Abschluss hatte sie ja nun, da brauchte sie nicht fürchten, durchzufallen, weil sie das Band ablegte. Dieses befand sich in ihrer Tasche, zusammen mit Nahrung für den Weg, ein paar Erinnerungsstücken und ihren Medizinbüchern.
"Willst du nicht tanzen?" Ihr Vater beugte sich zu ihr herüber.
"Ich bin doch kein Kind mehr", brummte sie leise und sah zu ihren ausgelassenen Kameraden. Ehemaligen Kameraden. Schon morgen wäre ihre Gemeinschaft nichts weiter als Erinnerung.
"Genieße diesen Abend. Dafür bist du doch hiergeblieben." Ihr Vater strich ihr über das Haar.
"Schon ..." Sie brachte es nicht über sich, von der Bank aufzustehen.
"Zieh doch nicht so ein Gesicht." Ihr Vater drückte sie an sich. "Du wirst bald die klügste neue Heilerin von ganz Solevary sein!"
Nun musste sie doch lachen. "Ich denke nicht, dass ich Meisterin Ribbeck so schnell übertreffen werde!"
"Wer weiß?" Er stupste sie sanft in den Rücken. "Tanz jetzt, mein Kind."
Als Kira aufbrach, war die Sonne bereits dicht über dem Horizont. Ein paar ihrer ehemaligen Mitschüler und ihr Vater begleiteten sie zur Dorfgrenze. Als sie ihre Freunde umarmte, fragte sie sich, wann sie einander wiedersehen würden. Raaken war nur anderthalb Tagesreisen entfernt, trotzdem war sie erst zweimal dort gewesen. Wenn ihre Freunde nun arbeiten mussten, würden sie vielleicht keine Zeit für die Reise haben.
Sie versprachen einander natürlich, immer Freunde zu bleiben. Doch als sich Kira mit vom tanzen wunden Füßen auf den Weg in die Felder machte, kam ihr das Versprechen bereits hohl vor. Ihre Mutter hatte ihr auch versprochen, immer an ihrer Seite zu bleiben. Aber Menschen änderten sich (und Elfen und Zwerge sowieso). Ein Versprechen war leicht gebrochen.
Sie wusste, dass sie spät dran war. Am übernächsten Morgen erwartete ihre Lehrmeisterin sie in Raaken. Sie durfte nicht zu spät kommen - eine Heilerin wie Vanda Ribbeck ließ man nicht warten.
Den Weg hatte ihr Vater ihr oft erklärt. Zunächst musste sie dem Aakenwald den Rücken zukehren und sich auf die offenen Wiesen begeben, zwischen Bächen und Flussläufen hindurch.
"Am besten gehst du auf die Küste zu und folgst ihr dann bis Raaken. Das ist zwar weiter, aber so verläufst du dich nicht", hatte er ihr geraten.
Kira hielt sich etwas östlicher. Sie konnte die Küste zwar nicht erkennen, aber dennoch schräg auf sie zuhalten. Dass sie zu weit nach Osten gehen konnte, befürchtete sie nicht. Dort würden die Tapkan beginnen, ein kleines Gebirge. Wenn sie Berge vor sich sähe, wüsste sie, dass sie nach Süden musste.
Während sie durch das hohe Gras lief, den Beutel über der Schulter, hatte sie Zeit, ihren Gedanken nachzuhängen. Alles, was sie nun noch besaß, war in diesem Beutel. Vieles war zuhause zurückgeblieben. Ihr Bett, ihre Kissen, ihre Bücher. Das Zimmer in Schilfsied war nicht weg, doch es würde für eine ganze Weile unerreichbar sein.
Als sie die Zusage der berühmten Heilerin erhalten hatte, hatte sich alles anders angefühlt. Sie war glücklich gewesen, stolz natürlich, dass sie ausgewählt worden war, und neugierig auf das Wissen, dass sie erlernen würde. Die Heilkunst hatte ihr schon immer viel Spaß gemacht und es war ein großes Glück, dass sie sich diesem Handwerk verschreiben konnte.
Jetzt, da sie im hohen Gras unterwegs war und sich vorsichtig ihren Weg durch das sumpfige Land suchte, fühlte sie sich verloren. Es war dunkel und kalt. Der Vollmond strahlte, klares, weißes Licht. Sie war nach dem durchtanzten Abend gleichzeitig müde und ruhelos. Schlafen könnte sie nicht, selbst wenn die Eile sie nicht vorwärtsdrängte. In ihrem Kopf kreisten alle möglichen Bilder vom vergangenen Abend, Augenblicke, die sie niemals vergessen wollte.
Der Abschlusstanz. Hier und dort ein scheuer Kuss. Tränen von Freundinnen, die nun getrennte Wege gehen mussten.
Sie hatte geglaubt, außer dem Lernen nichts zu brauchen, aber selbst Kira brauchte wohl ab und zu einen Freund an ihrer Seite. Wäre sie überhaupt gut genug, um den Ansprüchen der Heilerin zu genügen? Würde sie es schaffen, Leben zu retten?
Sie merkte, dass ihre Schritte langsamer wurden. Etwas hatte sie irritiert. Wachsam richtete sie ihre Sinne wieder nach außen.
Ja ... da war ein Geräusch, nicht weit entfernt.
Das Umland von Schilfsied war recht ungefährlich, größere Tiere als Füchse gab es hier selten. Doch auch Wölfe oder Bären könnten sich aus dem Aakenwald hierher verirren. Und selbst vor einem Marder oder Waschbären musste man sich in Acht nehmen, denn ihre Bisse konnten sich entzünden. Hinzu kamen einige Giftschlangen, an die sich Kira nun allzu deutlich erinnerte.
Als Kind hatte sie in diesen Gräsern gespielt, doch nun fühlte sie sich wie ein Eindringling. Schutzlos.
Sie versuchte, im Mondlicht Genaueres zu erkennen. Das dumpfe, leicht platschende Geräusch erklang erneut, sogar immer wieder. Sein Ursprung lag vor ihr. Auf gewisse Weise erinnerte es sie an das Summen eines Bienenstocks - es waren sicherlich viele kleine Wesen.
Sie ging in die Hocke und strich das lange Gras zur Seite. Im Mondlicht schien sich der Boden darunter zu bewegen. Vor und neben ihr wimmelte die Erde in einem stetigen Auf und Ab.
Kira lächelte erleichtert. Erdkröten! Sie wäre beinahe in eine Wanderung hineingelaufen, doch zum Glück hatte sie die Tiere noch rechtzeitig gehört.
Ein Abstrich vom Rücken der Erdkröte war außerdem ein gutes Mittel gegen Migräne. Ohne lange zu zögern griff sie in ihre Tasche und zog das kleine Probenfläschchen hervor. Sie machte einen Schritt vor - vorsichtig, um nicht auf eine Kröte zu treten - und schnappte sich ein großes Weibchen. Mit dem Wattestäbchen strich sie mehrmals über den Rücken der Kröte, ehe sie das Tier entließ und die Probe sorgsam verschloss.
So würde sie nicht mit leeren Händen vor Vanda Ribbeck treten.
Nachdem sie ihre Hände am Gras gereinigt hatte - das Krötengift war zwar schwach, aber sie sollte trotzdem nicht unvorsichtig sein - erhob sie sich und atmete tief durch. Der Nachtwind hatte das warme Echo des Tages verloren.
Langsamer nun folgte Kira den Kröten. Sie merkte, dass ihr Herz, das bis eben noch viel zu schnell geschlagen hatte, nun zur Ruhe kam. Etwas am vertrauten Quaken der Frösche beruhigte sie. Vor ihrem Fenster zuhause war ein Gehölz, in dem die Erdkröten lebten, sodass ihre Rufe ihr durchaus vertraut waren. Nun fühlte es sich an, als würde ein Teil ihrer Heimat ihr folgen, wortwörtlich fast, da der Boden selbst mit ihr zu hüpfen schien.
Schilfsied lag noch gar nicht wirklich hinter ihr.