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Nach dem Prompt „Buckelwal / Liebliche Walgesänge“ der Gruppe „Crikey!“
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Ein klagender Ton ließ die Luft über den Hügeln erzittern. Er hing im Wind, schwoll an und ab, zog, wer ihn hörte, in seinen Bann.
Eine Walfamilie zog durch das Blau zwischen den Wolken. Geradezu träge schwebten die Himmelswale auf und ab, doch es war eine Täuschung durch die Größe der Tiere und ihre Entfernung. Die Schläge ihrer Fluken trugen Mutter und Kalb schnell voran, der Bulle hielt sich hinter ihnen und kreuzte die Bahn der Harpunen.
Mit gespannten Segeln jagte ein fliegendes Holzschiff ihnen nach. Wie Haie umschwärmten kleinere Jäger das große Schiff. Hier ein Reiter auf einem celeryschen Pegasus, dort ein Zwerg in einem mechanischen Gleiter, oder ein schnittiger, gaishitorischer Koi-Mißa, der an einen kleinen Zeppelin mit langen Rudern erinnerte. Wann immer die Mutter mit ihrem Kalb in den Wolken abtauchen wollte, folgten ihr die Späher. Der Bulle versuchte, das Holzschiff zu rammen und hatte die Galeonsfigur in Form einer geflügelten Frau wohl auch schon den nach vorne gestreckten Arm gekostet. Doch krachende Kanonenkugeln drängten ihn immer wieder zurück. Schon jetzt war das mächtige Tier sichtlich erschöpft, Blut umwölkte es, als befände es sich unter Wasser.
Am Boden bogen sich hohe, goldene Gräser unter dem Wind. Grüne Finger strichen über die fedrigen Halme und der stille Beobachter hob den Kopf in den Nacken, als die Jagd über ihm dahinzog.
Naspre Khreto hatte noch nie in ihrem Leben einen Himmelswal gesehen.
Sie trug einen weiten Rock aus Weidenzweigen und weiße Stoffbahnen über der Brust, nach Art der Mädchen ging sie barfuß. Aus gelben Augen beobachtete die Ogerin die Walfänger und bewegte zornig die Hauer.
Himmelswale waren selten geworden. Die langlebigen Giganten waren noch nie sehr zahlreich gewesen, und sie lebten weit, weit oben, wo man sie nur selten sah. Ob es mehr als vielleicht dreißig Familien gab, wusste niemand, und die meisten Informationen stammten aus alten Sagen und verlorenen Überlieferungen. Doch dann gab es noch Walfänger, Zwerge zumeist, die das Fett der Wale teuer verkaufen konnten, die Luftblasen als Magiequelle und das Blut als Lebenselixier. Sie waren Delikatessen, Heilmittel, Materialien für mächtige Zauberstäbe.
Naspre griff nach ihrem Horn, doch gleichzeitig wusste sie, dass ihr Ruf niemanden erreichen würde, und sie löste die Finger wieder. Sie hatte die Einsamkeit gesucht, um dem Spott ihrer Mitschüler zu entkommen, und nun ...
Nun war sie allein.
Eine Ogerin, die Magie erlernen wollte. Schon ihre Familie hatte nicht an sie geglaubt. Man hatte sie zum Schamanen geschickt, aber diese Art von Magie lag ihr nicht, und es war auch ein Amt für Männer. Naspres Macht lag in etwas anderem. In grauem Geröll fand sie Geoden und Mineralien, Kristalle und Metalle, und sie konnte sie dazu bringen, ihr zu gehorchen. Manch einen Nachmittag hatte sie mit Schmetterlingen aus Stahl getanzt und war dafür ausgelacht worden.
Nachdem sie weggerannt war, war sie im Menschenreich erst recht eine Außenseiterin gewesen. Es gab eine größere Schule, geleitet von einigen berühmten Magiern, die alle talentierten Kinder aufnahmen. Aber selbst dort war Naspre eine Außenseiterin gewesen.
Gelehrt wurde Feuer-, Wind- oder Wassermagie. Erdmagie galt als schwach, grob, steif, als dreckig und unflexibel und minderwertig.
Sie war nirgendwo erwünscht. Das ließ man sie deutlich spüren. Aber Naspre war wie ihre Magie. Sie war stark und stur. Unbeirrt biss sie sich durch.
In ihren gelben Augen spiegelte sich der Himmel, dunkel zogen die Flecken der Walfamilie vorbei. Sie sah die großen, dreieckig zulaufenden Köpfe, als die Tiere abtauchten.
Doch viel tiefer konnten sie nicht gehen, ohne zu stranden. Die Jäger hatten ihre Beute in die Enge getrieben.
Naspre ballte die Fäuste. Ihr Element war die Erde, dort oben im Himmel hätte sie keine Macht. Aber trotzdem war sie nicht bereit, aufzugeben. Sie musste helfen.
Die Erde vibrierte. Der Boden erzitterte und dem Schlag unzähliger Hufe. Hier draußen, wo verwilderte Rinder Herden bildeten, fühlte Naspre sich wohl. Anders als Erdwesen fragten Tiere sie keine spöttischen Fragen, die nur darauf abzielten, sie zu verletzen. Tiere lachten nicht über ihre Kleidung oder beschimpften ihre Magie.
Verfolgt von einer Staubwolke kamen die Rinder über die Hügelkuppe. Allen voran stürmte der großen, rote Stier. Aok nannte sie ihn. Aok war, in Ermangelung eines besseren Wortes, Naspres bester Freund.
Sie streckte die Finger. Magie prickelte über ihre Haut, als sie das Eisen aus der Tiefe rief. Ob weiche Erde, Pflanzen oder hartes Gestein, sie kannte alle Facetten ihres Elements. Als Aok bei ihr ankam, erhob sich ein Gestell aus Stahl und heftete sich an seine Seiten, während Naspre sich auf den Rücken ihres treuen Freundes schwang.
Flügel spreizten sich zu beiden Seiten. Jede Feder war ein Stück Metall, unendlich fein verziert, filigran trotz seiner Stärke. Riemen aus festen Pflanzenfasern verbanden sich mit den Schwingen und umschlossen Aoks Brust.
Obwohl ihn das merkwürdige Geschirr sicherlich irritierte, rannte er nur noch schneller, vertraute auf ihre Führung. Naspre beugte sich weit vor, als die Flügel schlugen und den Stier in die Höhe trugen.
Der Rest der Herde lief weiter, um ihre Botschaft zu übermitteln. Aber Aok stieg auf, höher und höher, und Naspre klammerte sich an die Riemen, die sie selbst erschaffen hatte. Je näher sie den Schiffen und Walen kamen, desto kleiner fühlte sie sich. Nicht nur, dass ihr das Land ihrer Wurzeln entzogen war und sie nicht wusste, was sie hier oben noch ausrichten wollte. Jäger und Gejagte bemerkten den Stier nicht einmal. Wie eine Fliege zwischen Elchen tauchten sie in den turbulenten Luftraum ein, in den Lärm krachender Kanonenkugeln, in das Gebrüll von Befehlen und die tiefen, klagenden Rufe der Wale, die verzweifelt nach einem Ausweg suchten.
Sie zog ihre Axt vom Rücken und hielt auf einen Pegasus zu. Mit einem Hieb der flachen Klinge konnte sie den Reiter aus dem Sattel stoßen. Das geflügelte Pferd wieherte überrascht, als es den Stier hinter sich bemerkte, dann tauchte es ab, um seinen Reiter zu retten.
Zwei weitere konnte Naspre überwinden, ehe man sie entdeckte. Der Kapitän brüllte Befehle und das Flaggschiff drehte bei. Mit geweiteten Augen sah sie auf die gähnenden Münder der Kanonen, und warf sich mit Aok nach vorne, als die Schüsse krachten.
Sie floh unter den Bauch des Schiffes. Aok stieß die Hörner nach oben in den Rumpf, sie schlug hinterher. Ähnlich wie auf dem Ozean durften auch Himmelsschiffe kein Leck schlagen, oder die Magie, die sie zwischen den Wolken hielt, sickerte hinaus. Der kleine Hieb, den sie dem Schiff zufügten, würde jedoch kaum etwas bewirken können ...
Jetzt kamen die wendigeren Jäger auf sie zu. Naspre und Aok mussten schnell lernen, die metallenen Schwingen gemeinsam zu nutzen. Sie spürte Schmerzen hinter ihre Stirn pochen, als ihre magischen Kräfte von der neuen Schöpfung verschlungen wurden. Aok flitzte durch die Luft, und sie musste die Flügel zu jeder Wendung steuern. Auf einem intuitiven Level wussten Stier und Ogerin, wie sie zusammenarbeiten mussten.
Zischend fuhr Luft aus der Hülle eines Koi-Mißa, als sie das Segeltuch durchtrennte. Den nächsten Feind, der sich näherte, traf die Fluke des Walbullen mit der vollen Breitseite.
Nur einen Moment sah Naspre in die Augen des verletzten Tieres und spürte seine Angst.
Wut flackerte in ihr auf. Sie wirbelte mit Aok herum und streckte trotz aller Müdigkeit die mentalen Fühler aus. Irgendeine Möglichkeit musste es geben, diesen Kampf zu beenden. Niemand konnte ihr helfen, und wenn sie nichts tat, würden die Walfänger die kleine Familie bald einholen.
Dann spürte sie etwas, das sie sich gedanklich immer als Haken vorstellte. Einen Ansatz für ihre Magie. Auf der Erde gab es unzählige davon, aber hier oben spürte sie nur einen, der vom Boden herauf reichte.
Sie packte zu und zerrte. Im nächsten Moment explodierte Schmerz in ihrem Gesicht, als hätte sie einen Hieb auf die Nase bekommen. Ein ohrenbetäubendes Krachen folgte und blinzelnd erkannte Naspre, dass ein Blitz mitten durch das Schiff fuhr. Holz splitterte, Zwerge schrien, die Segel fingen Feuer.
Blut tropfte aus ihrer Nase. Sie sah, wie die Flügel zu Aoks Seiten flackerten. Ihre Magie versiegte und sie hatte panische Angst. Einen Blitz hatte sie noch nie beschworen, geschweige denn, einen so mächtigen. War das bereits die Chaosmagie, die sich manifestierte, weil ihr Widerstand gegen den Sog der Macht fast aufgebraucht war? Ihre Lehrer hatten sie immer davor gewarnt, zu viel Magie freizusetzen.
Sie musste Aok nach unten bringen. Zum Glück spürte er, wie fragil die Schwingen in diesem Moment wurden, und ging tiefer. Die Walfänger hatten jetzt ganz andere Sorgen als einen kleinen Störenfried. Das Schiff brach auseinander. Die Luftmagier hatten alle Hände voll zu tun, die Splitter zusammenzuhalten, bis alle Überlebenden die Rettungsfallschirme angelegt hatten.
Währenddessen gingen Aok und Naspre wieder nach unten. Sie hielt auf den Wald zu, unter dessen Kronen sie sich verstecken könnte, falls die Waljäger sich noch rächen wollten.
Die Himmelswale stiegen wieder auf, höher und höher über das sinkende Schiff, und waren bald nicht mehr als drei Punkte im Blau. Ein letztes Mal hörte Naspre den klagenden Ruf.
Als die Verstärkung, von ihr gewarnt, eintraf, zeugten nur noch Trümmer von der Luftschlacht.
Illustration von Lyzian: https://ibb.co/8XcmdHY