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Nach dem Prompt „Hartwegs Stacheldaumenfrosch [Tiergeschichten mit Daumennagel]“ der Gruppe „Crikey!“
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Mit einem kräftigen Biss knipste Soraya ihren Daumennagel ab. Das war jetzt ihre beste Chance! Sie musste nur warten, bis ihre Häscher nicht hinsahen, bis der Fackelschein vom Schloss des Wagens wich, in dem sie eingesperrt war.
Der Moment der Unachtsamkeit kam. Sie sprang vor und schob den Daumennagel ins Schloss. Ein kurzes Drehen und es klickte - mit einem triumphierenden Lächeln sprang sie aus dem Käfig und huschte auf den Rand des Lagers zu. In der Nacht angekommen, wurde sie schneller.
Keiner der Soldaten bemerkte sie, als sie im Schutz der Dunkelheit untertauchte. Zum ersten Mal hatte sie etwas Glück!
Sobald sie sich sicher wähnte, sah Soraya sich atemlos um. Sie erkannte am Horizont die buckelige Silhouette des Berges, zu dem die Soldaten unterwegs waren. Und sie ebenfalls. Der riesige Froschberg - so genannt, weil seine Form an eine sitzende Kröte erinnerte, mit einem breiten Überhang auf einer Seite - wachte stumm unter dem Licht der Monde. Der Winter war fast um. Ihr blieb nicht mehr viel Zeit.
Sie lief vorwärts, während ihre Gedanken um Götter und Prophezeiungen kreisten.
Der tote Frosch im Keller. Damit hatte alles begonnen. Sie hatte ihn nicht töten wollen. Es war ein Unfall gewesen.
Das war im letzten Frühling passiert, beim Hausputz. Sie hatte einen Schrank umgeräumt, um dahinter abzustauben, und als sie die schwere Kommode zurück an ihren Platz gerückt hatte, war er da gewesen. Ganz platt.
Armer, kleiner Kerl. Was auch immer er in ihrem Haus gesucht hatte, er hatte ein besseres Schicksal verdient. Soraya grämte sich ehrlich um seinen Tod.
Aber dann waren die Unglücke gekommen. Ausbleibender Regen. Die froschköpfige Regenfrau hatte ihr den versehentlichen Mord wohl übel genommen. Es war nichts gewachsen. Dann kam die Sonnenfinsternis, genau an ihrem Geburtstag. Danach hatte sich ihre Haut verformt, war grün geworden wie die eines Frosches.
"Du bist verflucht", hatte die alte Schamanin gesagt. "Ein Froschfluch."
Es gab nur ein Heilmittel: Sie musste auf den Froschberg, wenn der Frühling begann.
"Wenn du das erste Froschquaken hörst, siehst du den letzten Frost." Und würde sie es nicht schaffen, den ersten Frosch im letzten Schnee aufzutreiben und den Wunsch einzufordern, den dieser erfüllen konnte, so würde sie ein weiteres Jahr verflucht sein. Sich vielleicht gar verwandeln.
Das durfte nicht geschehen!
Endlich, endlich kam der Berg näher. Hinter sich sah Soraya schon seit einer geraumen Weile Fackeln. Man hatte ihre Flucht bemerkt, folgte ihr.
Sie durfte sich nicht einfangen lassen. Die Soldaten aus Celyvar suchten die Frösche des Berges aus einem ganz anderen Grund.
Froschschenkel! Wie ekelig!
Und Soraya, die Froschfrau, sollte ihnen auch noch den Weg weisen.
"Niemals! Hoffentlich haben sie mir abgekauft, dass die Frösche oben auf dem Berg sind." Sie sah ein letztes Mal zurück, dann huschte sie unter den Felsvorhang.
Wo er auf den Boden traf, dort, wo bei einem Frosch das Herz sitzen würde, öffnete sich ein dunkles Loch. Soraya trat in die Höhle und lauschte.
Eine ganze Weile stand sie einfach nur da und horchte. Sah auf den letzten Rest Weiß auf dem Boden, sah wieder zu den Fackeln, die unaufhaltsam nahten. Sah zum Himmel, wo die Monde krochen.
"Quak doch endlich! Es geht nicht um mich, es geht um mein ganzes Dorf! Sie brauchen die Ernte."
Die Monde krochen. Die Fackeln nahten. Und dann ...
Ein Quaken!
Soraya wirbelte herum und stürmte in die Höhle. "Der erste Frosch!", jubelte sie und folgte den Gängen in die Tiefe. Hunderte Gänge gab es, doch das Echo wies ihr den richtigen. Sie stolperte bergab, bis sie eine von weißlichem Licht erhellte Höhle erreichte.
Eis bedeckte die Wände. Kristalle schimmerten blass aus verschiedenen Adern im Gestein. Soraya ließ den Blick über den Boden gleiten, wo schmelzendes Eis in Pfützen tropfte. Wo war der Frosch? Der erste Frosch, der ihr einen Wunsch erfüllen würde?
Weiße Schneeglöckchen wuchsen in der Höhle. Das Eis schmolz. Es wurde Frühling. Frühling!
Und sie musste den Frosch finden.
Soraya zuckte zusammen, als sie eine Bewegung bemerkte. Sie erstarrte.
Zu groß ... Viel zu groß!
Doch wieder bewegte sich, was sie im schlechten Licht für einen Felsen gehalten hatte.
"Jaaa, du hast mich gefunden", brummte eine tiefe Stimme. "Ich bin der erste Frosch. Was ist dein Wunsch, Kind?"
Er war größer als sie. Und viel breiter. Seine Augen schimmerten milchig und seine Haut war blass wie junges Frühlingsgrün. Sie starrte ihn an.
"Beeil dich, Kind. Die Sonne geht bald auf, dann ist Frühling. Du willst doch deinen Wunsch haben, oder?"
Soraya besann sich. Der erste Frosch - natürlich, das ergab Sinn. Er war nicht der erste Frosch des Jahres, sondern der Erste Frosch. Der allererste vielleicht. Wer wusste, wie alt er war?
Sie sank auf die Knie. "Ich habe einen Fehler gemacht. Ich habe in meinem eigenen Heim einen Frosch getötet."
"Ahh, ich verstehe. Deshalb die grüne Haut auch, nicht wahr, Kind?" Der große Frosch gluckste. Es hallte von den Wänden wider wie ein Sturzbach schmelzender Gletscher. Es gab nur wenig Eis, nur wenige Berge in Sermowa. Doch Soraya wusste, wie die Flüsse im Frühling anschwollen.
"Und nun", brummte der Erste Frosch, "wünschst du dir, dass ich den Fluch von dir nehme? Diese Macht habe ich nicht."
"Nein", sprach Soraya mit fester Stimme. Sie hatte ein Jahr Zeit gehabt, diesen Fluch zu verstehen. Sie wusste, was sie wollte. "Ich wünsche mir, dass es nie geschehen ist."
"Ich kann die Zeit nicht zurückdrehen. Diese Macht existiert nicht."
"Dann lass den Frosch zurückkehren. Gib ihm sein Leben zurück." Sie sah auf. "Denn das kannst du, nicht wahr?"
Der Erste Frosch nickte. "Du bist sehr klug. Auf diese Weise wird der Fluch von dir genommen. Warum diese Großzügigkeit?"
"Ich wollte nicht, dass er stirbt", sagte sie leise.
"Halte deine Hände vor dir, forme sie zur Schale", wies der riesige Frosch sie an. "Und schließe die Augen."
Sie fühlte Kälte in den Händen. Wasser. Es füllte ihre Hände wie ein kleiner Strom, dann versiegte er. Vorsichtig öffnete sie die Augen.
In einem winzigen Teich in ihren Händen schwamm ein einzelnes, durchsichtiges Kügelchen.
"Sorge gut für ihn", trug der Erste Frosch ihr auf. "Ein Jahr lang soll er wachsen, dann ist er stark genug, um zurückzukehren. Der Fluch wird mit ihm gehen und deinem Dorf soll es fortan an nichts mangeln. Solange ihr die Frösche ehrt."
"Ich danke dir", sagte Soraya ergriffen. Sie hielt die Hände achtsam vor sich, als sie sich zum Gehen wandte.
"Warte", rief der Frosch ihr nach. "Nimm den linken Weg. Sonst gerätst du den Soldaten direkt in die Hände. Sie suchen nach dir. Aber den linken Weg werden sie nicht finden, und auch diese Höhle nicht." Der große Frosch quakte noch einmal. "Und jetzt hüpf, kleiner Zweibeiner. Eile dich."