Rating: P12 (CN: Enthält ein paar zweideutige Anspielungen.)
Nach dem Prompt „Riesenbromelie [Pflanzliche Geschichten mit Bergadel]“ der Gruppe „Crikey!“
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Nun war er also im Exil. Antonio hielt inne und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Grenze von Addorio lag endgültig hinter ihm. Die Sonne stieg über einem so fremden wie vertrauten Land. Die gelben Wiesen, die zu den Bergen im Norden hin anstiegen, sich wellten und bäumten, sahen genauso aus wie seine Heimat in Celyvar. Lande, die der alte Elb sein Leben lang betrachtet hatte. Auch die Luft war bereits so früh am Morgen heiß und trocken, wie zu Hause.
Und doch war dies die Wildnis von Sermowa, ein anderes Land, mit einer fremden Sprache. Der Beweis dazu stand neben ihm. Ramada, der sein Gepäck abgesetzt hatte und ihn mit schiefgelegtem Kopf ansah. Der Krieger war nur ein Umriss vor der steigenden Sonne. Antonio legte die Hand über die Augen und versuchte, über die Wiesen etwas zu erkennen.
"Denkst du, es folgt uns jemand?", fragte er.
"Vermutlich nicht." Der Schinar übersetzte die Worte, doch Antonio konnte die fremde Sprache gleichzeitig hören. Etwas, woran er sich nun wohl gewöhnen musste. Er seufzte. Schon als Junge hatte er den Schinar eingesetzt bekommen, als er noch davon geträumt hatte, die Welt zu bereisen und fremde Kulturen kennenzulernen.
Wie viele Jahrhunderte war es her, dass der Traum ihn verlassen hatte?
"Du sagtest doch, dass du auf die Thronfolge verzichtet hast. Dass sie dir nicht folgen werden", sagte Ramada nervös. "Oder werden sie dich trotzdem jagen, weil du als tatsächlicher Erbe eine Gefahr darstellst?"
"Vermutlich nicht", sagte Antonio niedergeschlagen. "Du hast recht. Ich habe abgedankt und im Ausland auch keinen Machtanspruch mehr. Ich bin unwichtig."
Er schulterte den Beutel und ging weiter. Ramada folgte ihm mit den anderen beiden Taschen. Alles, was geblieben war.
Vielleicht hätte er um sein Erbrecht kämpfen sollen, auch wenn es seinen Tod bedeutet hätte. Sicher war es ehrvoller, für einen Titel kämpfend zu sterben, als mit einem Flüstern in der Bedeutungslosigkeit zu vergehen. Doch Antonio hatte seine Ländereien und Titel aufgegeben, als einige entfernte Cousinen sich an die Macht geschwungen hatten. Sie waren ... drei Generationen jünger, wenn er sich nicht verzählt hatte, und kamen damit auch in ein fortgeschrittenes Alter. Ihr Coup war gut durchgeplant gewesen. Anders hätten sie auch nie Aussicht auf den Vorsitz der Familie gehabt.
Ehrgeizigere Männer hatten den Kampf aufgenommen, doch Antonio hatte seinen Platz stillschweigend geräumt und war gegangen. Er fühlte sich zu alt, um noch in der Politik des Hochadels mitzumischen.
Damit hatte er auch sein Geburtsrecht weggeworfen, wie so viele andere Gelegenheiten und Möglichkeiten in seinem Leben. Es stimmte, was ihm die Elben früher immer gesagt hatten, als er noch ein Knabe gewesen war. Man bereute am Ende das, was man nicht getan hatte. Jede nicht angetretene Reise, jedes ausgeschlagene Treffen mit einem hübschen Mann, jedes nicht eingegangene Risiko. Sogar das eine Mal, als es Nordlichter über Korr'dai gegeben hatte und er zu müde gewesen war, um die Nacht durch wachzusitzen und auf sie zu hoffen. Vielleicht hätte er einen Streifen Farbe sehen können!
All diese verpassten Chancen verschwammen zu einem Berg aus Schuld, den Antonio nun mit sich den Hang hinaufzuschleppen schien, während Ramada ihm folgte. Er würde lügen, würde er behaupten, dass er sich noch an jede einzelne Gelegenheit erinnerte.
Er hatte sein Leben ordentlich in den Sand gesetzt. Die Ausbildung abgebrochen, keine Aufstiegschance genutzt. Jetzt hatte er nur noch eine karge Auszahlung, dafür, dass er sein Erbrecht aufgegeben hatte, und war ein Niemand im Exil. Er hatte nichts mehr - nur einen Kontaktmann, den ihm die Verbindungen der Familie verschafft hatten. Ramada würde ihn in Sicherheit bringen, zu irgendeiner Hütte im Nirgendwo. Es war ihm egal, was genau ihn erwartete. Es war bloß ein neuer Ort zum Leben.
Wo Antonio vermutlich sterben würde, ohne etwas erreicht zu haben. Es gab Zwerge, die in ihrem Leben mehr erreicht hatten, vielleicht sogar Kinder, die bei ihrem frühen Tod auf mehr zurückblicken konnten!
Er war so weit aufgestiegen, dass die Luft dünn wurde. Antonio hielt neben einem hohen Gewächs, um Atem zu schöpfen, während er vorgab, die Pflanze zu bewundern.
"Unsere Königin", sagte Ramadan. "Du hast hier oben viele Ladys zur Gesellschaft. Der Traum jedes Mannes!"
"Der meisten Männer", murmelte Antonio. "Frauen sind nicht ... mein Typ."
"Nicht?" Ramada grinste frech. "Dann hat es dir wohl ihre Form angetan, wie?"
"Was?" Verwirrt betrachtete Antonio die Pflanze genauer. Am Boden bildete sie stachelige Blätter aus, und dann eine Art Stamm, der in die Höhe ragte. Wie eine umgekehrte Palme, obwohl der 'Stamm' bei näherem Hinsehen aus kleinen Blüten bestand.
Allerdings erst bei näherem Hinsehen - aus der Ferne bot sich ein anderes, anzüglicheres Bild. Er spürte Hitze in sein Gesicht steigen. "Oh."
"Kann man so sagen. Ist sicher kein Vergleich zu den Festen in Celyvar ..." Ramada sah wieder nach Osten. Er seufzte.
"Darüber weiß ich auch nichts", gab Antonio zu. Ein Punkt auf der langen Liste der Reue. Zornig auf sich rief er: "Davon weiß ich überhaupt nichts! Ich weiß gar nichts vom Leben und ich habe nichts erreicht. Selbst die Pflanze hier, die um so vieles jünger ist, weiß mehr als ich!"
Ramada betrachtete ihn einen Moment mit einem unergründlichen Ausdruck im Gesicht. Sicherlich verachtete er ihn.
"Da wäre ich mir nicht so sicher."
"Was?" Konnte er Gedanken lesen?
"Dass sie so viel jünger ist, meine ich. Die Königin von Sermowa." Ramada kniete sich neben den Fuß der Pflanze. Er sah aus wie die vielen niedrigen, stachligen Sträucher überall. "Diese Blumen können über hundert Jahre alt werden."
"Hundert!", rief Antonio aus. "Jetzt schmeichelst du mir aber."
"Vielleicht." Ramada zwinkerte frech. "Aber diese Pflanzen sind wirklich faszinierend." Sein Ton war sofort wieder ernst geworden, ehe Antonio sich über die genaue Bedeutung des Zwinkerns wundern konnte. "Sie werden älter als Menschen oder Zwerge, und doch blühen sie nur ein einziges Mal! Sie bilden diese gewaltigen, einzigartigen Blüten aus. Und sieh sie dir einmal an!"
Zum ersten Mal konzentrierte Antonio sich wirklich auf die Umgebung. Überall standen die Blumen im Gras, umringt von vielen stacheligen 'Sträuchern'. Die gleiche Pflanze, nur ohne die Blume. Die Blüten wurden umschwärmt von bunten Kolibris, Insekten und Singvögeln. Selbst bei dieser Blume, wo ja zwei unheimliche, große Erdwesen standen, ein Mensch und ein Elb, wagten sich einige Vögel heran, angelockt vom faszinierenden Duft der Blüte. Das Summen der Bienen wurde ihm bewusst, ein Lied auf die Süße des Nektars.
Antonio atmete tief durch und lächelte. "Sie sind wunderschön."
"Das sind sie", bestätigte Ramada. "Es kann ein Jahr dauern, so eine Blüte auszubilden. Sie bezeichnet auch das Ende der Pflanze, denn nach ihrer Blüte stirbt sie und fällt. Doch was für ein Abschied es ist! Von so bescheidenen Ursprüngen wird sie zu einer wahren Königin der Bergwelt, mit ihrem eigenen Hofstaat." Ernst sah der einheimische Führer Antonio an. "Es ist wirklich inspirierend."
Antonio lächelte, dankbar für den Trost. Vielleicht könnte er hier draußen wirklich noch einmal blühen. Seinen Mut finden, etwas erleben, wovon er bisher nur geträumt hatte. War dies nicht eine Reise in die Welt hinaus, wie er sie früher machen wollte? Es war nie zu spät, damit anzufangen, seine Träume zu jagen.
"Gehen wir", sagte er zu Ramada. "Wo ist diese Hütte denn nun? Und was liegt dort in der Nähe, was kann ich erwarten?"