Scrabble
Mario duckte sich so tief wie möglich in die Schatten des Winkels, in den er sich geflüchtet hatte. Sein Herz hämmerte ihm von der Eile und der Hast seines Spurts gegen die Rippen und hätte ihn eigentlich längst verraten müssen. Noch war niemandem etwas aufgefallen, was sicher nicht so bleiben würde, wenn er sich nicht beeilte. Nicht nur deshalb war der Held so außer Atem, so erschöpft. Drei Tage, drei volle Tage hatte er gebraucht, um das verflixte Schloss zu knacken, hinter das Bowser ihn eingesperrt hatte. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten und doch viel zu oft. Der Held zwang sich dazu tiefer zu atmen, um sich ein wenig zu beruhigen und seinen Weg fortsetzen zu können. Er musste dringend nach Hause, er war eigentlich schon viel zu spät. Dabei hatte er ein Versprechen gegeben.
Mario dachte an Luigis angsterfüllten, geradezu entsetzten Blick zurück, mit dem er seinen großen Bruder in dieses Abenteuer verabschiedet hatte. Auch wenn der kleine Bruder tapfer darum bemüht gewesen war sich nichts davon anmerken zu lassen. Mario wusste, dass Luigi auf keinen Fall wollte, jemand könne meinen, er würde nicht an seinen großen Bruder glauben. Mario selbst am allerwenigsten. Daher hatte Luigi auch diesmal all seine Einwände und Ängste für sich behalten.
Es war ja auch nur ein kleiner Auftrag an den Helden des Pilzkönigreiches gewesen. Ein einfacher Spionagegang in Bowsers Festung, um herauszufinden ob von den Gerüchten um eine neue, zerstörerische Waffe des Koopa-Königs irgendetwas stimmte. Etwas, das Mario schon häufiger getan hatte, ohne Kämpfe, ohne Mühe und immer allein, um so wenig wie möglich zu riskieren. Dennoch, diesmal hatte er es nicht ungesehen durch die Gänge und Winkel der finsteren Festung geschafft. Zum Glück liebte Bowser Spielchen, sonst könnte Mario womöglich nie wieder nach Hause zurück kehren.
Der Held stieß den angehaltenen Atem aus und huschte um die Ecke in den nächsten, dunklen Gang. Der kleine Ausgang in der Flanke der Festung war noch weit und er musste Umwege dorthin nehmen, um möglichst nicht entdeckt zu werden. Dabei wäre er am liebsten einfach davon gestürmt, um alles hinter sich zu lassen. Seine Kräfte hatten unter den drei Tagen gelitten, in denen er zu Bowers Freude, eingesperrt wie ein Vögelchen in seinem Käfig, neben dem schweren Thron gehangen hatte. Noch eine Windung, die der Held huschend nahm und beim nächsten Herzschlag wie angewurzelt stehen blieb.
Sein Gegenüber war nicht minder überrascht, fing sich aber einen Augenblick früher wieder als der müde Held. Der blaue Shy Guy senkte die Lanze, die er als Waffe trug und stieß sie in Marios Richtung. Der wich im letzten Moment aus, sprang über die silberne Spitze und landete eine handbreit weiter links auf dem steinernen Boden. Sofort war der Scherge wieder über ihm und stieß erneut zu. So ging es einen Weile im schmalen Gang hin und her. Mario konnte nur ausweichen, ein paar Schritte voraus sein und höchstens versuchen dem Shy Guy die Waffe zu entreißen. Der Held selbst hatte keine mehr, sein Hammer war längst in die Trophäensammlung des Koopa-Königs gewandert.
Marios Beine waren schwer und sein Kopf ganz wattig von den Mühen des Kampfes und sein Durst, der ihn schon länger quälte, wurde geradezu bösartig. Nur einen Moment gab er nicht ganz und gar acht. Der Guy stieß zu und die Lanze fand ein Ziel, bohrte sich durch den roten Pulloverstoff über der Schulter und heftete den Helden gnadenlos an die dunkle, kalte Steinwand des Tunnels. Mario klammerte sich an den Schaft der Waffe und versuchte sinnlos sie wieder heraus zu ziehen. Der Scherge hielt dagegen. „Bitte...“, japste Mario und spürte wie ihm der Schweiß über die Schläfen rann. Er MUSSTE nach Hause.
Tatsächlich zögerte der Blaue einen winzigen Augenblick, als wäre er über irgendetwas nicht sicher, dann schöpfte er Atem. „Al.. Alarm. H... h... Hierher!“, brüllte er stammelnd durch den Gang. „Es ga.. gab einen F... f... Fluchtv...“. Weiter kam er nicht, denn hinter der nächsten Ecke hervor unterbrach ihn eine andere, ungeduldige Stimme.
„Was ist denn nun schon wieder, Scrabble? Was hast du so Wichtiges entdeckt, dass du dafür sogar den Mund aufmachst?“, fragte sie und gemeines Gelächter aus mehreren Kehlen brandete heran.
Der Shy Guy, der Mario noch immer gegen die Wand genagelt hielt, erzitterte bei diesen Rufen und er senkte den Kopf, um seine Schuhe anzustarren, statt den Helden ansehen zu müssen. „Der Gef... Gefangene ist e... e... entk-k-k...“ stotterte er noch viel schlimmer als zuvor und man hörte die Wut über seine eigene Schwäche deutlich in seiner Stimme. Seine Kameraden machte es ihm nicht einfacher.
Einer davon seufzte theadralisch und schnalzte ungeduldig mit der Zunge. „Komm schon, Scrabble, Spuck`s aus oder halt die Klappe, wir haben keine Lust auf Wörterraten.“ Wieder lachte die übrige Truppe, die wohl irgendwo in einem nahen Wachzimmer hockte und sich die Dienstzeit totschlug.
Der blaue Scherge umklammerte die Lanze, die noch immer in Marios Oberteil steckte und versuchte sich ein letztes Mal. „Ich wo... wollte d... d... doch nur..“
„Na was denn?“
Der Guy ließ etwas verlauten was wie ein bitteres Lachen klang, dann schüttelte er den Kopf. „Ga... gar n... n... nichts“, meinte er leise.
Damit schien der spottende Scherge zufrieden, denn einige Fetzen eines amüsierten Gespräches wehten durch den Gang zu Helden und Schergen heran. Der blaue Shy Guy war wohl längst wieder vergessen oder einfach unwichtig.
Mario hatte die gesamte Zeit über ganz still gehalten, den Rücken gegen die kalte Wand gedrückt, eine Hand auf den Schaft der Lanze gelegt. Mit wachsender Angst hatte er seinen Gegenüber angeblickt und der Schreck fuhr ihm noch mehr ins Herz, als der Shy Guy langsam wieder aufsah. Etwas funkelte hinter seiner Maske und als er die Lanze mit wütendem Griff packte, brachte Mario nur ein Flüstern hervor. „Nicht... tu das nicht.“
Mit einem Ruck zog der Shy Guy die Waffe aus Wand und Pullover und stellte sie friedlich neben sich auf den Boden, auch wenn er sich haltsuchend daran klammerte. „Ver... Verschwinde b... b... besser. Je... Jemand w... w... wartet bestimmt“, meinte er knapp mit gepresster Stimme.
Völlig überrascht, rappelte sich der Held des Pilzkönigreiches vom Boden wieder hoch, auf den er mit weichen Beinen gesunken war. Fahrig rückte er seine Mütze zurecht und trat einen unsicheren Schritt vor. Mario konnte noch immer nicht glauben was gerade passiert war. Ließ man ihn wirklich so einfach gehen? „Und du?“, fragte er den Blauen zu seiner eigenen Überraschung.
Der lachte wieder trocken. „Ich er... ertrage. Wie i... i... immer“, stieß er hervor.
Er klang verloren, verzweifelt und ganz so, als hätte der Shy Guy längst jede Hoffnung aufgegeben, was Mario tief ans Herz rührte. Dieser Scherge wurde selbst unter seinesgleichen mies behandelt, weil er anders war, weil er nicht dazu gehören konnte, vielleicht auch nicht wollte? Der Held erinnerte sich an Andere, die so waren, die er kannte, die er schätzte, die nicht so furchtbar einsam waren.
„Aber das musst du nicht. Ich kenne einen Ort, mit vielen die sind wie du. Da kannst du in Ruhe leben, ohne Spott, ohne Leid, ohne Scham“, rutschte dem Helden heraus, ehe er auch nur darüber nachdenken konnte. Eigentlich war es doch noch immer ein Geheimnis. Doch jetzt war es schon zu spät, deshalb sprach er weiter, auch wenn er den Unglauben des Shy Guy geradezu spüren konnte. „Wenn du je den Mut dazu findest, komm zu mir. Ich verspreche dir, dass ich helfe.“
Der blaue Scherge stand reglos da, so lange, dass man meinen sollte er hätte den Erzfeind seines Königs gar nicht gehört. Wäre nicht das Schimmern der Augen gewesen, die auf Mario ruhten, hätte man den Shy Guy für eine Statue halten können. Dann nickte er federleicht und war im nächsten Augenblick in den schwarzen Schatten verschwunden. In seiner langer Zeit als gehorsamer Scherge hatte Scrabble gelernt, dass dem Wort eines Bösewichts niemals zu trauen war, aber dem eines Helden doch bestimmt.
Mario sah dem Schergen noch einen Augenblick hinterher, dann warf er sich auf dem Absatz herum, eilte den Gang zurück und wählte den Weg über den Weinkeller des Koopa-Königs.
Scrabble hatte Recht, jemand wartete und schon allein, weil er das erkannt hatte, würde der Held sein Wort an den Shy Guy halten, was auch immer das für ihn selbst zu bedeuten hatte. Auch der Held verschwand in den Schatten, ungesehen und unbehelligt.