"Nur noch vier Wochen", wiederholte Josh sein Mantra still für sich. "Nur noch vier Wochen, dann ist der Spuk wieder vorbei."
Ganz überzeugte es ihn zwar nicht, aber je öfters er es sich einredete, desto eher würde er es vielleicht glauben. Davon abgesehen, dass es jedes Jahr dasselbe war und offiziell gerade erst anfing, aber dennoch. Josh hasste Weihnachten mit einer Leidenschaft, die ihresgleichen suchte. Leider konnte er diesem Höhepunkt der Heuchelei nicht entfliehen. Nicht in seinem Beruf, nicht mit seiner Karriereplanung und schon gar nicht in dem Umfeld, in dem er sich befand.
Irgendwann vielleicht. Irgendwann würde er abhauen. Auswandern in ein Land, in dem der christliche Glauben eine untergeordnete Rolle spielte und nicht einmal Schnee und Kälte ihn an all das erinnerten. Vielleicht würde es reichen, einfach nur so weitab von jeglichen anderen Menschen zu leben, wenn ihm die Mittel und Wege fehlten, auf einen anderen Kontinent umzusiedeln. Wenn die moderne Wissenschaft die Kryostase erfunden hatte oder es anderweitig möglich machte, das Gehirn einfach einen Monat lang auf Standby zu schalten oder unerwünschte Erinnerungen zu löschen, damit wieder Speicherplatz für Wichtiges frei wurde.
Bis dahin allerdings musste er die Zähne zusammenbeißen. Durchhalten. Gute Miene zu bösem Spiel, wie auch immer. Zumindest das Wetter tat ihm den Gefallen, den übrigen Leuten auf dem Weihnachtsmarkt die Stimmung zu vermiesen. Der Himmel bestand aus einer grauen, trüben Suppe aus Wolken, Nebel und Nässe, in der man den ganzen Tag das Bedürfnis hatte, beim Autofahren Licht anzumachen. Fast fühlte es sich an, als würde das sogenannte Himmelszelt in sich zusammensacken. Wie eine dickes schweres Tuch, das über den Dächern hing, bis man nicht mehr ausmachen konnte, wo sich eigentlich der Horizont hätte befinden sollten.
Auch wenn es gerade für ein paar Stunden mal nicht regnete, fühlte sich die Kälte trotzdem feucht und unangenehm an. Zwischen Nieseltropfen und Pfützen im Asphalt fiel es selbst funktionaler Kleidung schwer, zu verhindern, dass sich alles unangenehm klamm anfühlte. Trotzdem scharten sich die Menschen in der Innenstadt um die geschmückten Holzbuden, um Kunsthandwerk in sämtlichen Spielarten zu begutachten oder sich zumindest angelockt vom Duft nach Glühwein und gebrannten Mandeln an den hier gebotenen Köstlichkeiten zu stärken.
"Nur noch vier Wochen. Das geht vorbei, kein Grund zur Panik", mahnte sich Josh abermals in Gedanken. Er seufzte schwer, als er das Ziel seines Fußmarsches erblickte. Kurz noch betrachtete er, wie unscharf das Dach der Kirche im Nebel verschwamm. Nicht einmal mehr dieses alte, ehrwürdige Bauwerk schaffte es, eine Silhouette gegen die Wolkensuppe zu bewahren. Aber wenn man es genau nahm, lag hier gewissermaßen sogar die Wurzel allen Übels. Augen zu und durch.
Tatsächlich nahm Josh erst einmal die Brille ab, als sich die schwere Tür hinter ihm wieder schloss. Wenigstens war es warm, aber die Heizung tat ihr übriges dazu, dass die ohnehin schon von Tropfen bedeckten Gläser nun auch noch anliefen.
Noch während er dabei war, sie mit dem Mikrofasertuch, das er eben dafür immer in der Hosentasche mit sich trug, zu säubern und sich selbst das Augenlicht zurück zu geben, vernahm er dumpfe Schritte, die das Parkett der Empore zum Knarzen brachten und schon auf halbem Weg die Treppen nach unten begrüßte ihn die wohlbekannte Stimme von Britta Bender.
"Joshua! Wie schön, dich zu sehen."
Als er die Brille wieder auf der Nase nach oben schob, war Britta längst bei ihm angekommen und strahlte über das ganze Gesicht. Flatternde aschblonde Locken, Strähnen darin ebenso silbrig glitzernd wie der Rahmen ihrer Brille. Die Augen ebenso lebendig und leuchtend wie ihr Lächeln, brachte sie in jeden Raum, den sie betrat, sofort Freude und Wärme. Und obwohl Britta eine ganze Menge Ordner unter den Arm geklemmt mit sich herum schleppte, umarmte sie Josh dennoch so gut wie es einseitig und eben mit dem Gepäck ging.
"Vorsicht", lachte Josh, als eine mit mehreren Blatt Papier gefüllte Klarsichthülle aus dem Stapel rutschte und er sie gerade noch zu fassen bekam, bevor am Ende noch alles durcheinanderflatterte. "Hier, kann ich dir etwas abnehmen?", bot er seine Hilfe an. Britta nickte ihm zu, dann eilte sie schon geschäftig weiter, an den hintersten Bänken vorbei zur Tür der Sakristei. Josh folgte ihr und nahm ihr den Schlüsselbund ab, damit nicht noch mehr herunterfiel, wenn sie mit einer Hand nach dem richtigen Schlüssel suchen würde.
"Ich wusste gar nicht, dass wir beide heute die Ehre haben", Josh grinste, als er Britta half, die schweren Mappen vom Tisch aus ins Regal zu sortieren. "Aber jetzt ist mein Tag gerettet!"
Britta lachte erfreut. "Na dann bin ich ja froh", neckte sie ihn ein bisschen. "Hab schon befürchtet, dass du pünktlich zum Dezember wieder unfassbar schlechte Laune bekommst." Josh schnaufte kurz und zuckte mit den Schultern. "Das kommt bestimmt noch", gab er zu.
Aber mit Britta Bender zu arbeiten, war jedes Mal aufs Neue eine Wohltat.
Die evangelische Kantorin war nicht nur gelassen, professionell und immer engagiert, sondern auch ein wirklich liebenswerter Mensch. Sie hatte ein gutes Gespür für die Musik, war mit Leidenschaft an jedem Projekt dabei. Nach so vielen Jahren Erfahrung war sie zwar routiniert in ihren Aufgaben, hatte aber nichts von ihrem Feuereifer verloren.
Der Kirchenchor war ihr ganzer Stolz, vor allem die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen machte ihr Spaß und die Kantorei arbeitete vor allem wegen Britta sehr eng mit der örtlichen Musikschule und anderen Bildungseinrichtungen zusammen. Gerade zu den Feierlichkeiten wie Ostern und Weihnachten organisierte sie viele Konzerte, in denen sich die unterschiedlichsten Menschen beweisen durften. Trotz ihres Talents und einer Menge künstlerischen Anspruchs, war in Brittas Herz ein warmer Platz für jeden frei.
Manchmal vermutete Josh, dass sie ihn genau deswegen damals unter ihre Fittiche genommen hatte, als er ziellos zwischen Gelegenheitsjobs und langen Durststrecken herumgeirrt war. Drauf und dran, seinen Traum von der Musik aufzugeben, war sie diejenige gewesen, die ihm nicht nur etwas zu tun, sondern auch neuen Mut gegeben hatte.
Leider ging auch an ihr die Zeit nicht spurlos vorbei. Zwar wirkte das kleine schmale Persönchen so voller Energie und Tatendrang wie eh und je, aber davon abgesehen, dass sie bereits gut und gern im Rentenalter sein könnte, wusste Josh, dass ihr Rücken nach einigen Bandscheibenvorfällen größere Probleme verursachte, als sie sich anmerken ließ oder es selbst zugeben würde.
Was die Gottesdienste ohne Britta wären, was vermutlich der ganze Gemeinde fehlen würde, wenn sie irgendwann nicht mehr dafür verantwortlich war, die Kirche und Herzen der Leute mit Musik zu füllen, wollte Josh sich gar nicht vorstellen.
"Ah, und bevor ich es vergesse", wandte sie sich von den Notizen, in denen sie nach getaner Arbeit geschäftig herumkramte wieder zu ihm. "Die Orgel gehört dir heute solange du möchtest. Wenn du länger bleiben magst, gebe ich dir gern den Schlüssel, denn ich muss etwas früher nach Hause als sonst", Britta schien zu finden, was sie gesucht hatte und trat mit weiteren Blättern Papier zu Josh, um ihm einen Stapel in die Hand zu drücken.
"Bei den Proben für das Oratorium bräuchte ich ab morgen doch noch etwas Unterstützung. Wenn du so lieb wärst... Ich hab mit dem Chor alle Hände voll zu tun, weil wir wieder mit Projektsängerinnen arbeiten. Falls du also ein bisschen mehr Zeit einplanen kannst, bräuchte ich dich vor allem für die Solisten."
Während Josh die Zettel in seiner Hand kurz überflog, nickte er zwar sofort, hob aber doch eine Augenbraue, als er die geplanten Termine überflog. "Dann hoff ich mal, dass die Solisten nicht allzu viel Nachhilfe brauchen", kommentierte er den durchaus straffen Plan mit einem schiefen Lächeln. "Ach, keine Sorge", Britta winkte vergnügt ab. "Das sind alles ganz professionelle Künstlerinnen, ganz liebe Leute, wirklich. Beibringen musst du da niemandem mehr etwas, nur dass ihr euch eben aneinander gewöhnt, bevor ich die Meute auf euch loslasse."
Josh nickte schmunzelnd. "Absolut kein Problem. Ich freu mich drauf!"
"Fabelhaft!", Britta strahlte über das ganze Gesicht. "Wusste ich doch, dass ich mich auf dich verlassen kann!"
Mit einem fast verschwörerischen Augenzwinkern fügte sie noch hinzu, "Und vielleicht bringt dich das ja auch auf ein bisschen angenehmere Gedanken, mal neue Leute zu treffen."