Der nächste Morgen brachte den allseits ersehnten Schnee. Josh gönnte all den Weihnachtsfanatikern eine weiße Pracht zwar nur bedingt, aber er tröstete sich mit dem Gedanken, dass es ja noch vier Wochen bis dahin waren. Wenn es jetzt schon schneite, dezimierte das vermutlich die Chance auf weiße Weihnachten.
So viel Glück hatten sie hier immerhin nicht mit dem Schnee. Dass im Flockengestöber nicht so viel Verkehr auf den Straßen war, erleichterte ihn enorm auf dem Weg zur Kirche. Den Weg vom Parkdeck in die Fußgängerzone belagerten zwar wieder einige Besucher des Weihnachtsmarkts, aber Josh konnte zumindest den Wunsch nach Glühwein nachvollziehen. Falls also alle Stricken rissen und die Menschen mit jedem Tag unerträglicher wurden, hatte er zumindest einen Notfallplan.
Durch die Gassen zwischen den Holzhütten wehten nicht nur Schneeflocken, sondern auch der süße Duft von frisch gebrannten Mandeln mit Zimt. Immer wieder mischten sich die Klänge verschiedener Weihnachtslieder aus den Lautsprechern aus unterschiedlichen Buden.
Einen einzigen Vorteil von seinem Job gab Josh in seinen Gedanken zu. Zumindest die üblichen Popsongs musste er nicht täglich rauf und runter hören. Wenn man davon absah, dass er sich nie wirklich mit dem christlichen Glauben - geschweige denn irgendeiner Religion überhaupt - und schon gar nicht einem Zusammenschluss einer Kirchengemeinde befasst hatte, konnte man die wunderbare Akustik in einer Kirche nicht bestreiten. Manchmal stellte er sich vor, in die Vergangenheit zu reisen und seinem jüngeren Ich zu erzählen, was einmal aus ihm werden würde.
Wäre sicherlich zumindest im Nachhinein sehr lustig. Der schockierte Blick eines Teenagers, der aus Rebellion den Klavierunterricht sausen ließ, um in einer Rockband Gitarre zu spielen, wenn man ihm voraussagte, dass er lieber weiterüben sollte, weil er später einmal als Organist in der Kirche arbeiten würde. Herrlich wäre das, wenn es rückwirkend betrachtet nicht auch irgendwie traurig wäre.
Natürlich war er dankbar über einen Job mit Festanstellung, mit dem er sogar von der Musik leben konnte. Aber auch, wenn er mit den Jahren nicht nur realistischer in seinen Plänen, sondern aufgrund von Rückschlägen immer desillusionierter geworden war, fühlte es sich ernüchternd an.
So große Träume hatte er gehabt, so viel hatte er sich ausgemalt. Klar hätte es auch schlimmer kommen können. Selbstverständlich sollte er dankbar sein, ein Dach über dem Kopf und genug zum Leben zu haben. Trotzdem holte Josh manchmal das Gefühl ein, mehr zu wollen.
Nicht einmal mehr Geld oder Ruhm. Als berühmter Rockstar um die Welt zu reisen stand definitiv nicht mehr auf seiner To-Do-Liste. Klar stellte er sich ein Leben als gefeierter Konzertpianist ganz nett vor. Manchmal meldete sich der schüchterne Gedanke zurück, doch etwas aus den eigenen Kompositionen oder zumindest ein paar selbstgeschriebenen Songtexten zu machen. Aber wenn er ehrlich war, fehlte ihm die erhoffte Erfüllung nicht auf beruflicher Ebene, sondern vor allem privat.
Eine Familie mit Kindern war zwar zugegeben dann doch nicht ganz, was er sich vorstellte. Aber sich zumindest ein bisschen weniger einsam zu fühlen, das wünschte er sich oft. Während Josh die Schneeflocken um die Nase wehten und er die Schultern hochzog, um mehr von seinem Gesicht Kragen und Schal verstecken zu können, musste er aber zugeben, dass er selbst schuld war. Immerhin würde nicht einfach plötzlich jemand vom Himmel fallen und ihn dazu überreden, dass sie von nun an bis ans Lebensende miteinander glücklich sein würden.
Als er den Kirchturm zwischen den Hüttendächern ausmachen konnte, verschnellerte er seine Schritte. Der Versuch, diese alljährlich aufkommende Melancholie einfach mit dem Mantel an der Garderobe in der Sakristei abzulegen, funktionierte aber nur bedingt. Vielleicht war Josh nicht der geselligste Mensch auf Erden und machte sich mit oftmals eher abweisend mürrischer Art gegenüber neuen Bekannten auch nicht beliebter.
Trotzdem musste er zugeben, dass ein großer Teil seiner Abneigung gegen Weihnachten aus dem Frust der Einsamkeit gewachsen war. Das Fest der Liebe, Besinnlichkeit zuhause im Kreise der Familie. Ein stressiges Jahr mit freien Tagen, viel Zeit und Ruhe ausklingen zu lassen. Gesichter wiederzusehen, die im Alltag leider oft fehlten. Wärme, Licht.
Dagegen hatte er absolut nichts einzuwenden. Traurig machte ihn nur, dass er bei solchen Erfahrungen nicht besonders oft teilgenommen hatte.
Der volle Klang der Orgel, der im Inneren der Kirche anschwoll, immer vollkommener wurde, bis er von den Wänden wieder zu ihm zurück hallte, bis er Josh komplett erfüllte, tröstete ihn. Nachdem er sich ein bisschen aufgewärmt hatte, hing sein Blick noch nachdenklich an dem wohlbekannten Gesicht auf dem Deckblatt seiner Partitur.
Bach war einer der wenigen Leute, die mit ihm über all die Jahre hinweg durch dick und dünn gegangen waren. Dabei würde Josh ihn niemals als Lieblingskomponisten anführen oder von irgendeinem seiner Werke ins Schwärmen geraten. Trotzdem blieb Bach vielleicht der Mensch der in den dunkelsten Stunden immer bei ihm gewesen war.
Josh verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf über diese gedanklichen Ergüsse. Es war die Wahrheit, einen toten Mann, den er persönlich kein winziges Bisschen gekannt hatte, als besten Freund und Gefährten anzusehen, machte es nicht besser.
Es war Britta, an die er dachte, während er Bachs vorwurfsvollem Blick damit auswich, in den Noten zu blättern und immer weiter in sich selbst versunken die Finger über die Tasten tanzen ließ.
In der Theorie waren sich Klavier und Orgel so viel ähnlicher als es sich in der Praxis anfühlte. Als er zum ersten Mal an einer Kirchenorgel gesessen hatte, hätte er nicht erwartet, dass er es überhaupt ein zweites Mal in seinem Leben tun würde. Aus einem Pflichtprogrammpunkt auf dem Lehrplan seiner Studienzeit wurde Neugierde, aus dem dadurch aufkeimendem Interesse war aber eher aus Zufall sein Beruf geworden.
Manchmal sehnte er sich nach einem Flügel. Oft wünschte er sich zurück in sein Elternhaus an das Klavier seiner Mutter. Ab und zu fühlte er sich, als wäre aus der Musik in seinem Inneren eine rein mechanische Abfolge von Bewegungen geworden. In diesem Moment jedoch schien mit jedem weiteren Ton der Orgelpfeifen mehr von der eisig feuchten Kälte durch die Kirchenmauern zu dringen, bis ihm trotz Heizung und Strickpullover kalt wurde. Mit jeder weiteren Sekunde fraßen sich mehr Zweifel unter seine Haut, durchflutete seine Adern, bis sein Herz sich schwer und eng anfühlte.
Josh zog weitere Register, hielt die letzten Takte mit geschlossenen Augen aus, und doch empfand er das Ende des Stücks als niederschmetternd.
Die Stille danach jedoch war schlimmer als alles zuvor. Sie schwappte haltlos durch sein Bewusstsein, bis er das Gefühl hatte, von ihr überschwemmt zu werden. Dann ließ ihn das fast dröhnende Knarzen der Holzbretter zusammenfahren, ehe er mit der Erkenntnis aufschreckte, dass er immer noch bei der Arbeit war. Vermutlich sollte den diesen Monolog aus Selbstmitleid also besser auf den Feierabend verschieben.
Josh musste wohl genauso überrascht aussehen wie er sich fühlte.
"Oh, das tut mir leid", entschuldigte sich der junge Mann, der eben die Treppe hinauf gekommen war und ihn nun verlegen ansah.
"Ich wollte Sie nicht erschrecken." Eigentlich wollte Josh sofort abwinken und ihn damit beruhigen dass er sich nicht zu entschuldigen brauchte, aber sein Hirn brauchte wohl noch einen Moment, um wieder in der Realität anzukommen. Den armen Bub starrte er dabei wohl so unverwandt an, dass dieser schnell sich zu erklären versuchte.
"Es ist noch nicht halb drei, aber Mam- ich meine, meine Mutter hat mich gebeten, dass ich Ihnen Bescheid sagen soll, weil", er holte kurz Luft und hielt Josh zerknirscht ein Schlüsselband unter die Nase, an dem genau ein einziger Schlüssel baumelte. "Wir Proben doch in einem anderen Raum. Das ist der Generalschlüssel für das Gemeindehaus. Ich wollte nicht stören."
"Kein Ding", sagte Josh schnell mit einem schiefen Grinsen. "Du hast wirklich nicht- Ich meine, Sie haben mich nicht gestört."
Er spürte, wie ihm vor Verlegenheit die Hitze ins Gesicht stieg. Obwohl der Kerl vor ihm von seiner Mutter geschickt wurde, wirkte er auf den zweiten Blick doch nicht mehr wie der kleine Junge, für den Josh ihn zuerst gehalten hatte. Dass er den Mann jetzt dafür noch schockierter anstarrte, machte es aber sicher nicht besser.
Er war nicht einmal besonders zart oder schmächtig gebaut, im Gegenteil. Relativ breite Schultern verliehen dem stämmigen Körper einen kompakten Eindruck. Aber er war klein. Überraschend kurz geraten für einen Mann, aber eindeutig kein Kind mehr. Zum ersten Mal konnte Josh den Gedanken nachvollziehen, warum manche Frauen auf Dating-Profilen die Körperhöhe eines potenziellen Verehrers spezifizierten.
Nicht dass Josh irgendwelche Gedanken daran verschwendet hätte, sich selbst zu überlegen, welche Art von Menschen er auf einer solchen Seite suchen würde. Mit Dating hatte er zugegeben weder online noch offline viel am Hut, aber wenn er dieses durchaus markante Gesicht auf einem Profilfoto gesehen hätte, hätte er keinen so kleinen Mann erwartet.
Bei näherem Hinsehen würde es Josh nicht einmal wundern, wenn er sogar ein paar Jahre älter sein mochte als er selbst.
Eigentlich hatte er sich selbst auch nie für auffallend oder besonders groß gehalten, aber darauf geachtet hatte er auch nicht oft. Es setzte seinem Selbstbewusstsein schon genügend zu, wenn er stets das Gefühl hatte, für jeglichen Anlass nicht ordentlich genug gekleidet zu sein oder sich mit seinem eher unregelmäßig wachsenden Bart, seinen kräftigen Augenbrauen und den wilden Locken ungepflegt fühlte, egal wie sehr er sich Mühe gab.
Nun kam er sich größer vor, als er sich eigentlich fühlte. Zu auffallend dafür, dass er lieber in der Menge verschwinden wollte. Aber sie standen vor der Kirchenorgel, es gab keine Menschen, zwischen denen er sich verstecken konnte und der arme Mann hatte auch keine Ahnung, dass er Josh gerade in seiner spontanen Lebenskrise unterbrochen hatte.
Erst als der Mann sich leise räusperte, bemerkte Josh, dass er ihm immer noch auffordernd den Schlüssel entgegen reichte.
"Danke", sagte Josh schnell, als er es endlich auf die Reihe bekam, diesen an sich zu nehmen. "Das- das Gemeindehaus, ja?" Ganz konnte er sich immer noch keinen Reim aus der ganzen Sacht machen.
"Ja", sein Gegenüber nickte. Nachdem Josh den Schlüssel eingesteckt hatte, reichte der Fremde ihm die Hand. "Tobias, übrigens", versuchte er wohl, die seltsam angespannte Stimmung etwas aufzulockern. "Tobias Bender. Wie gesagt, meine Mutter ist ziemlich beschäftigt, deswegen habe ich ihr diesen Botengang abgenommen."
Tatsächlich fiel es Josh nun wie Schuppen von den Augen. Natürlich, das war Brittas Sohn. Er wusste, dass sie einen Sohn hatte. Sie hatte schon von ihm erzählt, aber irgendwie hatte Josh im Kopf, dass er weit weg wohnte, weil er irgendwo studierte. Sicherlich hatte sie ihn immer mal wieder erwähnt, auch wenn offensichtlich bei Josh nicht viel hängen geblieben war. Aber eigentlich war es logisch genug, dass er es sich hätte denken können. Wie sonst sollte es zustande kommen, dass ein fremder Mann ihm einen Schlüssel in die Kirche brachte? Für das Weihnachtsfest zur Familie zu kommen war durchaus ein bekanntes Konzept.
"Danke", brachte Josh nochmal verlegen heraus und besann sich auf einen höflichen Händedruck. "Ich bin Joshua. Aber Josh reicht vollkommen."
Tobias lächelte sanft. "Freut mich", meinte er auf eine so überzeugende Art und Weise, dass Josh ihm wirklich glaubte. Die meisten Leute sagten ja aus Höflichkeit viele Dinge, die gar sie nicht so meinten, weil man das halt so machte. Vielleicht lag es daran, dass Josh der Kantorin so tief vertraute, dass ihr Sohn in seinem Unterbewusstsein automatisch als ein ebenso angenehmer Mensch verzeichnet wurde.
Vielleicht war es auch die Art, wie seine Augen beim Lächeln zu glänzen schienen, die Josh sofort an Britta erinnerte. Die Wärme und das Wohlwollen in der Art, wie sowohl die Mutter als auch der Sohn nicht nur den Mund verzogen, sondern sich auch ihre Augenwinkel in fröhliche Fältchen legten.
Josh blinzelte auf seine Armbanduhr. Es war bereits um einiges später geworden, als er gedacht hätte. Auch wenn es noch nicht halb drei war, sollte er sich tatsächlich langsam auf den Weg machen.
"Du spielst wirklich sehr gut", wollte Tobias wohl nicht loswerden. Kurz schnaufte er amüsiert. "Also, nicht dass ich qualifizierte Ahnung von einem solch erhabenen Instrument wie einer Orgel hätte. Aber es hat sich schön angehört. Das kann ich wohl beurteilen."
Tobias betrachtete ganz interessiert die Partitur auf der Notenablage und blätterte darin, als Josh sich wieder zu ihm wandte.
"Was wäre Weihnachten ohne Bach", meinte er zufrieden. Josh nickte wortlos. Wie viel tieferen Sinn diese Worte für ihn persönlich ergaben, musste Tobias ja nicht wissen. Als dieser auf die Uhr blickte, schien er wohl ebenso überrascht. Wie lange Josh in seine Gedankenwelt versunken gespielt hatte, konnte er gar nicht mehr einschätzen.
Aber auch Tobias schien noch etwas vorzuhaben. "Wenn du möchtest, ich habe ja denselben Weg wie du", begann er mit einem kurz Schulterzucken und schlug dann vor, "Wir können ja zusammen zum Gemeindehaus?"