Als Josh an diesem Morgen wie gewohnt das Auto parkte und sich auf den Weg durch den immer noch gut besuchten Weihnachtsmarkt suchte, machte sein Herz beim Anblick des Kirchturms einen kleinen Hüpfer. Fast widerwillig überbrückte er die letzten Meter bis zur Tür, als fühlte er sich noch gar nicht bereit, in den Tag zu starten. Sein Blick schweifte über die geschmückten Holzhütten und mit einem tiefen Atemzug sog er noch die würzig duftende Winterluft ein, ehe er das alte Gemäuer betrat.
Im Inneren war es still. Anfangs wirkte es fast gespenstisch, wie still es innerhalb dieser Mauern sein konnte, die ansonsten von Stimmen, Musik, Gesang und Worten erfüllt waren. Selbst im stillen Gebet raschelte es, jemand musste husten oder die Nase hochziehen. So ruhig wie an einem verlassenen Vormittag war es hier selten und Joshs Schritte hallten fast überraschend laut von den Wänden wieder.
Bevor er wie immer nach einem kurzen Besuch der Sakristei die Treppen zur Empore nach oben wollte, hielt er doch einen Augenblick inne. Die Hand hatte er schon an das Geländer gelegt, doch verfing sich sein Blick kurz an dem kunstvoll gefertigten Kreuz über dem Altar. Fast versöhnlich musste er schmunzeln und nickte dem gekreuzigten Jesus sanft zu.
Der konnte schließlich auch nichts dafür, dass so viele Menschen auf der Welt seinen Namen dafür gebrauchten, genau gegenteilig zu den Grundsätzen zu handeln, für die er einstand. Dass es immer noch so viel Krieg gab, so viel Leid und Ungerechtigkeit. Die Schuld dafür konnte man ihm nicht geben, das stand fest.
Fast wehmütig erinnerte sich Josh an die ein oder andere Vorbereitungsstunde im Konfirmationsunterricht. Sie hatten dort nie irgendwelchen Pathos gepredigt bekommen. Es war um so viele wichtige Themen in der Welt gegangen, so viele Inhalte, die jeden Menschen von Anfang an begleiteten. Um moralische Grundsätze, Menschenwürde, seit jeher bestehende Ängste jeder Person, wie Krankheit, Tod und sich damit auseinandersetzen zu müssen, dass alles ein Ende hatte.
Natürlich beantwortete auch Jesus diese Frage nicht hinreichend. Natürlich konnte man die Bibel nicht wörtlich lesen und behaupten, dass sich alles genau so exakt zugetragen hatte. Man konnte sich fragen, wieso lässt Gott zu, dass so viel Schlimmes passiert. Aber zu zweifeln und abzulehnen war ohnehin oft sehr viel einfacher, als zu vertrauen.
Jeder weitere Schritt nach oben fühlte sich sicherer an. Die Noten und seine Notizen unter den Arm geklemmt, ließ Josh sich Zeit, die Treppen zu nehmen. Wie froh er oft im Konfirmandenunterricht gewesen war, wenn dort auch die lautesten Rabauken nachdenklich von den Dingen sprachen, die sie hinter der harten Fassade beschäftigten. Wie sicher und wie geborgen er sich gefühlt hatte, wenn er sich eingestand, dass er niemals alle Antworten auf jede Frage wissen würde, es aber in Ordnung war, weil das Wichtigste doch immer die Liebe war, die Akzeptanz, mit der Jesus jedem einzelnen Menschen begegnete, wenn er nur zu glauben wagte.
Josh erinnerte sich an so viele Momente, in denen er davon überzeugt war, dass selbst, wenn er bisher ein ganz guter Mensch gewesen wäre, dieser Fehltritt das Fass zum Überlaufen brachte. Dass so viel, wie er schon Schlechtes getan und Schlechtes gedacht hatte, in der Summe das Maß voll machte und Jesus nicht einmal mit dem besten Willen ihn noch bei sich aufnehmen würde. Auf ewig in Ungnade gefallen, verstoßen aber zu recht, wenn er so dunkle Gedanken hatte, wenn er so mit dem Schicksal haderte.
Als er sich jedoch an der Orgel niederließ, fühlten sich diese schmerzhaften Erinnerungen aber weit genug weg an, um sie aus der Ferne zu betrachten. Nur kurz, denn auch wenn sie immer da sein würden, wollte er ihnen nicht so viel Platz einräumen, dass er davon in seinem eigentlichen Tun gestört wurde. Natürlich würde jede Narbe bleiben, auch wenn die dazugehörige Wunde längst geheilt war. Aber nur weil sie auffielen und nicht zu übersehen waren, musste er sie doch nicht gleich als hässlich bewerten.
Schon die ersten Töne fühlten sich an, als würde er nach langer Zeit nach Hause kommen. Dabei war es gar nicht lange her gewesen, dass er hier war. Nur ein paar Stunden, doch manchmal hatte Josh das Gefühl, sein Herz hätte ein ganz anderes Zeitempfinden als die Uhr. Und so flog die Zeit zwischen sanften Melodien und atemberaubenden Harmonien dahin, bis sich unten die Tür öffnete und er sich beinahe wunderte, dass Britta schon angekommen war.
Sofort löste Josh sich von Bach und der Orgel, lief beschwingt die Treppe nach unten und fing Britta schon in der Sakristei ab, ehe sie ihren Mantel an die Garderobe gehängt hatte.
"Guten Morgen", begrüßte er sie lächelnd.
Britta strahlte über das ganze Gesicht, "Dir auch einen guten Morgen, lieber Joshua! Bist du denn schon lange hier?"
Er zuckte mit den Schultern. "So wie immer", gab er zu, "Aber dementsprechend habe ich in jedem Fall noch Zeit, wenn du noch irgendwo ein paar helfende Hände brauchst."
"Wunderbar!", Britta wirkte erleichtert. Geschäftig kramte sie schon in Mappen und Stapeln, der Blick huschte kurz zur Uhr, während sie schon den ungefähren Tagesplan strukturierte. "Bevor die Kinder kommen, wollte ich auf jeden Fall noch die Liederheftchen fürs Wochenende aktualisieren. Du kennst dich doch mit dem Computer aus, nicht wahr?"
Josh stimmte sofort zu. Das war wirklich das kleinste Problem für ihn. Britta lächelte erfreut. "Wenn du dich noch anderweitig einbringen möchtest, ich kann auch während des Gottesdienstes ein bisschen Hilfe gebrauchen. Michael hat sich zwar auch schon früher angekündigt, aber für heute sind recht viele Kinder angemeldet", sie überflog kurz eine Liste und nickte wieder. "Einfach nur mit dabei sitzen, vielleicht ein bisschen mit in die Hefte schauen, dass die Seiten schnell gefunden sind. Und während Michael seine Predigt hält, hilft es den Kindern auch, wenn noch jemand dabei sitzt und die Unruhe ein bisschen abfängt."
Britta schrieb schon fleißig Anmerkungen zu den jeweiligen Texten auf den Vordrucken. Während der Laptop hochfuhr, setzte Josh einen Kaffee auf und spülte die stehen geblieben Tassen der letzten Zeit.
"Wie war es eigentlich gestern?", erkundigte sich Britta fast beiläufig.
Josh zuckte hilflos mit den Schultern. "Ganz gut? Also es hat alles funktioniert, wir haben einiges geschafft und ich bin mir sicher, für die Solisten sollte der Zeitplan absolut kein Problem darstellen."
Britta lachte erfreut. "Das ist ja wunderbar", sie tätschelte Josh gutmütig an der Schulter. "Daran hatte ich aber auch keine Zweifel. Ich meinte eher, ob das eine Aufgabe ist, die du dir im allgemeinen öfters vorstellen könntest. Also um genau zu sein, ob es dir Spaß gemacht hat. Ob es dir gefallen hat."
Josh musste nicht lange überlegen, seine Antwort sprudelte aus seinem Mund noch ehe er überhaupt darüber nachdachte.
"Ja, sehr", sagte er aus vollster Überzeugung, "Ich hätte vorher gar nicht geahnt, dass mir genau solche Proben gefehlt haben. Da war ich schon immer sehr gern dabei- und... Naja, ich hab es nicht wirklich bemerkt, aber irgendwie hab ich das echt vermisst."
Britta nickte verständnisvoll mit einem sehr sanften Lächeln.
"Das freut mich. Das freut mich sehr", sagte sie ernst und wirkte einen kurzen Moment fast etwas wehmütig. "Natürlich kann ich dir nicht versprechen, dass es auf längere Sicht absehbar ist, regelmäßig größere Aufführungen zu planen, dass es zur Routine wird. Aber es ist toll, dass du daran Freude findest! Musik verbindet die Menschen, mehr als alles andere auf dieser Welt. Eine Sprache, die wirklich überall gesprochen wird."
Der Kindergottesdienst fand heute unter dem Namen "Komm mit zu Jesus!" statt. Josh hatte nie das Gefühl gehabt, besonders gut mit kleinen Kindern auszukommen, aber Britta mit dieser plappernden, lachenden Schar zu helfen, funktionierte wie am Schnürchen, als hätte er nie etwas anderes getan. Die Zeit verflog, zumindest bis Pfarrer Michael erschien und der eigentliche Gottesdienst begann.
Zuvor hatten die Kinder in kleinen Gruppen erarbeitet, was sie sich darunter vorstellten, bei Jesus anzukommen. Und warum sie zu ihm gehen wollten. Vor der kurzen, kindgerechten Predigt des Dorfpfarrers durfte jeder, der sich traute, einen Teil dieser gesammelten Ideen auf einem bunten Plakat vorstellen. Die Kinder waren stolz und lauschten andächtig den Worten, die Michael ihnen anschließend mit auf den Weg gab.
Außer der Kinderschar waren nicht viele andere zur Zeit des Kindergottesdienstes anwesend. Als Josh nach dem gemeinsamen Gebet und dem Segen sich von den kleinen Wonneproppen verabschiedet hatte, erblickte er auf dem Weg in die Sakristei nur die verwitwete Rentnerin, die sich so gut wie jeden Tag irgendwann für eine Weile auf die Bänke setzte, nachdem sie eine Kerze angezündet hatte. Sie betrachtete die Kinder mit einem verträumten Lächeln.
Auf der hintersten Bankreihe, gleich neben dem Aufgang zur Empore und Orgel, saß dick in Schal und Winterjacke eingepackt allerdings ein weiteres fröhliches Gesicht mit strahlenden Augen und rot gefärbten Wangen.
"Ganz schön kalt hier drin", meinte Tobias lachend und erhob sich von seinem Platz, um Josh mit in die wärmere Stube der Sakristei zu folgen. Britta winkte ihnen beiden nur von weitem mit einem vielsagenden Schmunzeln, als Josh seine Sachen zusammensuchte und sich ebenso warm einpackte. Immerhin hatten sie es nicht eilig.
"Glühwein?", fragte Josh verlegen.
Tobias nickte. "Glühwein!", stimmte er ihm zu.