Rundflug
Erwin stierte hinaus in den grauen Nieselregentag.
„Das wird wohl heute nichts mehr“, nörgelte der Mechaniker im Vorübergehen. Das Taxi, das just in dem Moment vorfuhr, belehrte ihn eines Besseren.
Der Fahrgast wuchtete eine große Reisetasche aus dem Kofferraum, schleppte diese in das abgeratzte Büro.
„Schöner Wetter haben Sie nicht mitgebracht.“ Erwin ersparte sich eine richtige Begrüßung. „Wenn Sie wollen, verschieben wir das Ganze. Sonne werden Sie keine sehen und bei dem Wetter gibt das doch keine schönen Bilder.“
Auch sein Fluggast hielt nicht viel von Begrüßungsformeln. „Das lassen Sie meine Sorgen sein. Können wir?“
Erwin nickt, ließ sich das Protokoll unterschreiben, winkte kurz nach hinten zum Mechaniker und ging voraus zum Hangar. Ein 3-Stunden-Rundflug bei diesem Wetter … Das hatte er so auch noch nicht gehabt. Aber die 1.200 Euro für drei Stunden, die der Mann zahlte, die waren nicht zu verachten.
Wenige Minuten später hoppelte die Cessna 172 über die Startbahn des kleinen Flughafens in Meppen. Der Flug ging über die Grenze nach Holland. Hier sollte es weitergehen über das IJsselmeer bis Alkmaar und wieder zurück.
Erwin erklärte ein paar Dinge: „Das da unten ist Nieuw Amsterdam, hat eine schöne Windmühle. … Jetzt sind wir über Meppel, da kommen dann gleich die ersten Seen.“
Sein Fluggast hörte nicht zu. Er hatte den Kopf gegen die regenbeschlagene Scheibe gelehnt, die Augen geschlossen und schien zu schlafen. Seinen Fotoapparat hatte er noch gar nicht ausgepackt. Nach über einer Stunde kam das IJsselmeer in Sicht und der Mann neben Erwin kramte in seiner Tasche. Aber statt eines Fotoapparates holte er eine Landkarte heraus und hielt sie Erwin unter die Nase. Die Karte zeigte den äußersten Westen Englands mit der Gegend um Norwich. Bei einem Nest mit dem Namen Waxham war ein Kreis.
„Hier landen Sie“, sagte der Mann kurz.
„Ganz sicher nicht“, antwortet Erwin. „Ich hab gar keine Erlaubnis für den Überflug der Nordsee. Geschweige denn für eine Landung in England.“
„Genügt das als Genehmigung?“, fragte der Mann, griff noch einmal in die Tasche und zog eine Pistole heraus.
Erwin erschrak und verriss kurz das Steuer. Die Cessna macht einen Satz nach links. Während er noch korrigierte, schaltete sein Fluggast das Funkgerät aus, zog den Kopfhörers heraus und warf diesen aus dem Fenster. „240 Euro im Arsch“, sagte Erwin halblaut und fluchte.
„Ab jetzt herrscht Funkstille, ist das klar?“ Die Waffe an Erwins Schläfe unterstrich die Deutlichkeit der Warnung.
„Kann man da überhaupt landen?“, fragte Erwin nach einer Weile. „Das sah nicht nach einem Flughafen aus.“
„Kein Flughafen“, bläffte der Mann. „Eine Wiese, das muss reichen. Mehr hab ihr in Meppen ja auch nicht.“
„Und wie geht es dann weiter?“
„Gar nicht. Ich steige aus und du fliegst sofort wieder weiter. Fertig. Wenn du keine Dummheiten machst, dann passiert niemand etwas.“
Ganz sicher war sich Erwin da nicht, aber es war immerhin ein kleiner Hoffnungsschimmer.
Sie hatten das IJsselmeer überquert, Alkmaar hinter sich gelassen und flogen jetzt hinaus auf die Nordsee. Die zeigte sich von ihrer uncharmanten Seite. Unter ihnen lag eine einzige graubraune Fläche, die am Horizont mit dem Grau der Regenwolken verschwamm. Sonst war nichts zu sehen.
Die beiden Männer schwiegen sich an.
„Könnten Sie …“ Erwin deutete auf die Pistole, die immer noch auf ihn gerichtet war. Der andere nickte nur, behielt die Waffe aber in der Hand.
Das Wetter änderte sich kein bisschen. Grau in Grau, ab und zu flogen sie durch niedrige Regenwolkenfetzen.
„Da vorne ist die Küste.“ Erwin deutet auf einen schmalen, etwas helleren Streifen. „Wo genau soll ich landen?“
„Gleich hinter der Küste, such dir eine schöne Wiese aus, auf der wir sicher runterkommen.“
Erwin nickte, nahm Gas weg und ging tiefer. Er wollte ungern auf einer Wiese landen. Bei trockenem Wetter mochte das gutgehen. Aber wenn der Boden durchnässt ist, dann bleiben die Räder der Maschine leicht stecken. Und dann … Er wollte gar nicht daran denken.
Quer zur Küstenlinie war ein Feldweg zu sehen. Betonplatten, sicher nicht besonders eben, aber auf jeden Fall stabiler und ausreichend breit. Erwin setzte die Cessna mit einigen Sprüngen auf. Kaum stand die Maschine, öffnete der Mann die Tür, warf die Tasche hinaus und sprang hinterher.
„Wo liegt Waxham?“
Erwin wies vage nach rechts. Der Mann folgte seiner Hand, aber zu sehen war nichts, was auf eine Ortschaft hindeutet. Dennoch nickte er.
„Du fliegst gleich weiter. Dass du die Bullen rufst, ist mir klar. Und es ist mir egal. Bis die mit England Kontakt aufgenommen haben, bin ich weg. Und für dich ist es besser, wenn du dich an möglichst wenig erinnerst.“
Erwin sagte nichts. Er ließ den Motor der Maschine aufheulen und startete durch. „Keine 1.200 Euro“, dachte er. „Aber eine Nachhilfestunde in Sachen Navigation und optische Wahrnehmung.“
Kaum dass er in der Luft, aktivierte er das Funkgerät. Er nestelte den Ersatzkopfhörer unter dem Sitz hervor und informierte die Polizei in Holland.
„ … Also ich hab ihn auf Texel abgesetzt, er läuft jetzt aller Voraussicht nach in Richtung der Ortschaft De Koog. Und Vorsicht, er ist bewaffnet. Eigentlich wollte er nach England. … Nein, das war kein großes Problem. Wenn man keine Sonne hat als Anhaltspunkt und über dem Meer einen großen Kreis fliegt, dann merkt man das nur, wenn man auf die Instrumente schaut. Und sich damit auskennt. Sonst kann man keine Himmelsrichtung erkennen und merkt auch nicht, dass man praktisch wieder zurück fliegt. … Wie, hätten Sie nicht gedacht? Haben Sie wieder was gelernt. So wie mein Passagier.“