Suzanne
„Ausgerechnet ein Jude”, dachte Jesus und war schlechter Laune.
Er hatte sich durchgelesen. Von Carlo Levi und seinem „Cristo si è fermato a Eboli“ bis zu Charles Bukowski und „Das Licht von Jesus“. Dann hatte er es mit Musik versucht. Oh Mann, wer hatte nicht alles seinen Namen in ein Lied gepresst. John Lennon, der sogar zweimal wiederholen musste „I don't believe in Jesus“. Gerade ihm hätte man es auch beim ersten Mal geglaubt. ZZ Top, die der Meinung waren, dass er Chicago verlassen hatte. Das zeichnete ihm ein Grinsen ins Gesicht: „Well, muddy water turned to wine.“ Das alles war „business“, nicht weiter von Belang.
Aber ausgerechnet ein Jude musste ein Lied schreiben, das ihn am meisten berührte. Kurz überlegte er, ob er hier und jetzt das Richtige tat. Er wusste es nicht, aber er lief weiter. Lief die Avenue Victoria hinunter und bog in die Queen Mary ein. „Königin Maria“, sagte er leise zu sich selbst und dachte an seine Mutter. Das was so lange her. Viel zu lange. Und zu viel war seitdem geschehen. Er wischte es mit einer Handbewegung fort.
Er hatte sich durchgefragt und war endlich auf dem richtigen Weg. Die Straße war lang und er kam nur langsam voran. Ein paar Bauarbeiter pfiffen ihm nach. Er kannte das und wusste, das lag an seinen langen Haaren und an seiner weißen Kutte. Das Pfeifen konnte er ignorieren. Den Drang, sich der Zeit anzupassen, nicht. Aber er konnte ihm widerstehen.
Schließlich bog er noch einmal falsch ab und kam an einer Bäckerei mit dem seltsamen Namen „Süßes Paradies“ vorbei. Dass die Menschen mit solchen Begriffen gerne um sich warfen, war ihm ein Rätsel. Warum vermischten sie das Leben vor dem Tod mit dem danach? Er ließ die Frage offen, vielleicht konnte er sie später einmal klären.
Schließlich erreichte er den Eingang des Friedhofs Mont Royal. Wenn die Menschen wüssten, was sie nach dem Tod erwartete, sie würden ihr Leben sicher anders gestalten. Würden sie wirklich? Er lief die breite Straße, die den Friedhof teilte, entlang und war sich da nicht mehr so sicher. Die Menschen leben in der Nachbarschaft des Todes. Nirgends wurde das so deutlich wie auf einem Friedhof. Aber er war sich sicher, nicht das Sterben war schwer, es war die Allgegenwart des Todes, die sein Grauen und seine Größe ausmachten. Diese Größe wurde durch die Ausmaße des Friedhofs deutlich. Viel Platz für die Gräber. Und viel Platz noch für viele Tote.
Hier musste er nicht mehr nach dem Weg fragen. Eine innere Stimme leitete ihn und schließlich stand er vor dem Grab von Leonard Cohen. Ein schlichtes Grab, das versöhnte ihn ein wenig. Er schaute sich um – kein Mensch war in der Nähe und so begann er leise zu singen:
Suzanne takes you down to her place near the river
You can hear the boats go by, you can spend the night beside her
…
And Jesus was a sailor when he walked upon the water
And he spent a long time watching from his lonely wooden tower
And when he knew for certain only drowning men could see him
He said all men will be sailors then until the sea shall free them
But he himself was broken, long before the sky would open
Forsaken, almost human, he sank beneath your wisdom like a stone
Er sang das ganze Lied. Langsam und bedächtig, so wie es Cohen auch getan hatte. Und er verstand dennoch nicht, was er mit dem hölzernen Turm gemeint hatte. Oder, warum der Himmel geöffnet werden sollte. Das würde er nicht. Er starre auf den Betonboden. Vielleicht tauchte zwischen der halbgerauchten Zigarette und dem eingetretenen Kaugummi eine Antwort auf.
Er lachte kurz auf. Nein, da würde keine Antwort kommen. Es kam nie eine. Er musste sie immer selbst finden. Er blickte über das riesige Gräberfeld – vielleicht gab es Religion nur deshalb, weil die Menschen Angst hatten vor dem Tod. Was würde passieren, wenn sie diese Angst verlieren? Würde Gott dann sterben? Vermutlich, dachte er, während er im einsetzenden Nieselregen den Friedhof verließ. Wenn er nicht schon längst tot war.