Eigentlich führte Valerie ein recht ruhiges Leben, bis … ja, bis wann eigentlich? Bis sie dem Wunsch einer weit entfernten Tante mütterlicherseits nachgab und zu ihr zog.
Tante Maggie lebte seit ewigen Zeiten in einem kleinen Häuschen in einem Dorf in England, während Valerie mit ihrer Mutter in London wohnte. Ab und an hatten sie sich in den Sommerferien besucht. Ihre Mutter war neben ihr die einzige noch lebende Verwandte der Tante. Doch seit Valerie zu Hause ausgezogen war und ihr eigenes Leben führte, hatten sie sich aus den Augen verloren.
Inzwischen verbrachte Valerie schon knapp ein Jahr im Haus der Tante. Bisher hatte sie aber noch keine einzige Nacht richtig durchschlafen können. Vor allem in den Vollmondnächten belastete sie diese Schlaflosigkeit sehr.
Woran das lag, konnte die junge Frau nicht herausfinden. Die erste Nacht war besonders grausam. Valerie konnte kein Auge schließen. Seltsamer Lärm im Haus raubte ihr die Ruhe und den Schlaf.
Am nächsten Abend nach ihrer Ankunft begann dasselbe Spiel von vorne: Erst geheimnisvolles Getrappel, dann unheimliches Rumoren im Haus, später Stille, die durch ein irrwitziges Kreischen unterbrochen wurde. Valerie kam sich vor wie in einem Gruselfilm. Jedes Mal, wenn sie nachschaute, konnte sie keinen Urheber dieses Lärms entdecken.
Am Morgen erzählte sie ihrer Tante davon. Die jedoch lachte nur und meinte, ihre Nichte hätte wohl nur einen schlechten Traum gehabt. Dabei schien sie in sich hinein zu lächeln, so als würde sie den Grund der nächtlichen Unruhe im Haus wissen. Valerie nahm sich vor, die Tante nicht weiter zu befragen, sondern der Sache selbst auf den Grund zu gehen.
Die Tage und Wochen vergingen, die nächsten Vollmondnächte standen kurz bevor. Valerie hatte immer noch nicht richtig schlafen können und war auch dementsprechend müde. Am Abend legte sie sich mit dem Vorwand, vom Tag geschafft zu sein, zeitig ins Bett. In Gedanken an den Poltergeist fiel sie in einen unruhigen Schlaf.
Erschrocken fuhr Valerie hoch. Da, da war es wieder! Ein unheimliches Jaulen durchzog das Haus, jemand kreischte erbärmlich, eine Tür knallte laut, gefolgt von Getrappel.
Valerie stand auf und schlüpfte in ihren Morgenmantel. Vorsichtig spähte sie aus der Tür in den Flur hinaus. Der durch ein Fenster einfallende Mondschein spendete einen geheimnisvollen Lichtschein. Valerie nahm ihre Taschenlampe und ging hinaus. Heute musste sie es schaffen, den Ruhestörer zu ertappen.
Das Kreischen und Getrappel kam diesmal aus der unteren Etage. Valerie folgte dem Lärm, immer darauf bedacht, selbst so geräuschlos wie möglich zu sein, um den nächtlichen Störer von Angesicht zu Angesicht überraschen zu können.
Im unteren Flur angekommen sprang plötzlich ein Fenster auf, das wahrscheinlich nicht fest genug verschlossen war. Die Fensterflügel schlugen klirrend gegen die Wand. Valerie verhedderte sich in der vom Wind aufgebauschten Gardine, sie konnte nichts mehr sehen. Erschrocken schrie sie auf und versuchte, sich von der Gardine zu befreien, die sich vehement weigerte, ihr die Sicht freizugeben. Valerie fuchtelte verzweifelt mit den Armen bis der zarte Stoff mit einem hässlichen Laut nachgab und riss. Was ihre Tante von dem entstandenen Schaden halten würde, interessierte Valerie jetzt nicht.
Valeries Herz raste vor aufkeimender Angst in ihrer Brust. Trotz dieser unerwarteten Attacke riss sie sich zusammen und schlich weiter. Sie musste diesem nächtlichen Treiben unbedingt ein Ende setzen, sonst würde sie auf ewige Zeiten nie mehr Ruhe finden können. Sie tappte weiter zur Küche. Die Tür war wie immer nur angelehnt, eine Marotte von Tante Maggie, die Valerie zwar nicht verstand aber akzeptierte. Wer weiß, welche Marotten sie mal haben würde, wenn sie in Tante Maggies Alter ist.
In der Küche war alles still. Valerie schaute sich vorsichtig um. Nichts zu sehen. Auch als sie Licht machte, konnte sie nichts entdecken. Alles stand wie gewohnt an seinem Platz.
Doch der Spuk war längst noch nicht zu Ende, wie Valerie angenommen hatte. Nun kamen die grauslichen Geräusche plötzlich aus dem Keller, besser gesagt aus dem etwas weiter unten liegenden Raum, den ihre Tante als Vorratsraum nutzte. Er war ein wenig kühler als die Zimmer im Erdgeschoss und war deswegen gut als Vorratsraum oder Keller nutzbar. Wie gehabt war auch diese Tür niemals eingeklinkt, jetzt stand sie auf einmal ganz offen. Valerie konnte sich nicht erinnern, war sich aber fast sicher, dass die Tür vorhin nur angelehnt war, als sie durch den Flur zur Küche ging.
Zaghaft schritt Valerie langsam auf die Tür zu. Ihr war, als würde ihr laut pochender Herzschlag im ganzen Haus zu hören sein, so hallte er in ihrem Kopf. Die Geräusche wurden immer lauter. Dann war plötzlich Stille. Hatte der Spuk für diese Nacht ein Ende? Aber es war nicht so. Nun begann es genau vor ihr fast mörderisch zu poltern und zu rumoren.
Valeries Geduld war am Ende. Forsch überwand sie die paar Stufen in den Keller. Vor Aufregung konnte sie den etwas versteckt liegenden Lichtschalter nicht finden. Sie leuchtete mit der Taschenlampe die hohen Regale ab, die an den Wänden standen und Tante Maggies eingemachte Früchte und Lebensmittelvorräte enthielten.
Valerie sprang erschrocken zurück, als genau vor ihr ein Marmeladenglas zu Boden ging und zersplitterte. Fast wäre sie von diesem getroffen worden. Da hatte sie nochmal Glück gehabt. Nur ein paar Glassplitter trafen sie, der klebrige Inhalt platschte über ihre Füße.
Valerie suchte weiter. Der Lichtstrahl traf einen großen Schrank, der am hinteren Ende des Raumes stand und fast die ganze Wandbreite einnahm. Was war das denn? Valeries Herz klopfte noch schneller, Adrenalin schoss durch ihre Blutbahn. Vom Schrank starrten sie gleich vier glühende Augen an. Valerie schüttelte den Kopf und schloss ihre Augen, als würde sie damit den Spuk vertreiben können. Doch als sie ihre Augen wieder öffnete und auf den Schrank schaute, waren da immer noch diese vier starrenden Augen. Genau in dem Moment, als sie den Lichtstrahl nach oben richten wollte, sprangen ihr zwei pelzige, laut fauchende Wesen entgegen. Valerie ging in Deckung. Sie konnte gerade noch sehen, wie Tante Maggies Katzen zur Tür hinausrannten.
„Haben diese Untiere wieder Unfug getrieben?“, hörte Valerie ihre Tante fragen. Unbemerkt war sie dazugekommen und hielt sich vor Lachen den Bauch.
© Milly B. / 10.04.2013