Man schrieb den Juli des Jahres 1817. - In Edinburgh war endlich der Sommer eingekehrt. Bereits seit mehreren Wochen gab es nur ein Gesprächsthema: Thomas McGraw, Lord Glendale, war zurück. Die Nachricht hatte sich wie ein Lauffeuer in der Stadt verbreitet. Der Mann, der sich über Jahre im Ausland aufgehalten hatte, war nach dem Tod seines Vaters gezwungen gewesen, seinen Pflichten als Oberhaupt der Familie nachzukommen, zumal es da noch Amelia McGraw gab, seine Schwester, die gerade siebzehn Jahre zählte. Das junge Mädchen hatte die letzten sechs Jahre in Madame Dupond's Internat für privilegierte Mädchen verbracht. Nun hatte ihr Bruder verfügt, dass sie die Schule verlassen sollte, um gemeinsam mit ihm Bradford House - das Stadthaus der Familie - zu bewohnen.
Bradford House, ein aus rotem Backstein bestehendes Gebäude, stand in der Drummond Street, etwa fünfzehn Minuten vom Queen's Drive entfernt, an dem der Holyrood Palace mit seinem dazugehörigen Park lag.
Lady Jessica Cowan war nicht sicher, was die Nachricht für sie bedeutete.
Beinahe sechs Jahre waren vergangen, seitdem sie Thomas McGraw das letzte Mal zu Gesicht bekommen hatte.
Es war auf einem Ball gewesen, den Lord Neil Primerose anlässlich der Verlobung seiner Tochter ausrichtete. Dieser Tag sollte ihr Leben in mehr als einer Hinsicht verändern. Damals hatte sie - die in der Gesellschaft aufgrund ihrer vielseitigen und für eine junge Frau eher untypischen Interessen ohnehin argwöhnisch beäugt worden war – sich verliebt. Doch die Liebe blieb unerwidert. Bis heute kannte sie nicht den Grund, warum der Mann, dem sie ihr Herz schenkte, gegangen war.
An ihrem letzten gemeinsamen Abend auf einer Gesellschaft der Carmichaels gab ihr Thomas McGraw unmissverständlich zu verstehen, dass eine gemeinsame Zukunft für sie beide undenkbar sei. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, hatte er sich von ihr abgewandt. Am darauffolgenden Tag war er verschwunden. Niemand wusste wohin. Sie war zurückgeblieben - vor Sehnsucht verzehrend, mit verletzter Seele und gebrochenem Herzen. Bis heute.
Der Earl und die Duchess of Rosebery hatten anlässlich der Errichtung ihres neuen Domizils - Dalmeny House - alle einflussreichen Familien der Stadt zu einer Festlichkeit geladen. Das schloss Jessicas Familie ein. Jetzt befand sich die Kutsche, in der neben Jessica noch ihre Schwester Emily, die Mutter und der Vater, Lord Cowan, saßen, auf dem Weg zum Dalmeny Woodland Park, jener großen Parkanlage, in der das Anwesen der Roseberys errichtet worden war. Dort angekommen, wurde die Familie vom Earl und seiner Frau auf das Herzlichste willkommen geheißen.
Das Haus war im Tudor-Stil errichtet, was der Besucher gut an den kleinen, trutzigen Türmchen erkennen konnte, die den oberen Teil des Gebäudes zierten. Die Innenräume waren mit prachtvollen, französischen Möbeln und Gemälden ausgestattet. Wunderschöne Tapisserien an den Wänden der großen Räume vervollständigten den Gesamteindruck.
Am Abend fand ein Ball statt.
Der dafür genutzte Saal erstreckte sich über die Gesamtbreite des Hauses. Ein Zimmer, in dem Erfrischungen und Snacks gereicht wurden, grenzte an der linken Seite an. Acht Türen führten auf eine große Terrasse hinaus. Von dort gelangten die Gäste bei Bedarf in einen großräumig angelegten Park.
Lord Glendale gehörte zu den letzten Gästen, die auf dem Event der Roseberys eintrafen. Es war Jahre her, seitdem er den Fuß in einen Ballsaal gesetzt hatte. Während er oben auf der Treppe in Dalmeny House verharrte, kam es ihm vor als seien die Stufen, die nach unten führten, ein steiler Abhang. Ein falscher Tritt und er würde stürzen. Doch das war nicht der Fall. Alles war wie immer. Alles - außer ihm. Er hatte sich verändert, und das in mehr als einer Beziehung.
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Foto von Dalmeny House
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