Thomas, der nach dem Tod seines Vaters vor knapp vier Monaten nach Hause zurückkehren musste, hatte sich mit der Verwaltung des Landsitzes im westlichen Schottland und der anderen Ländereien auseinandersetzen müssen. Es war einiges zu klären gewesen. Doch es war ihm gelungen. Und er würde auch das jetzt hinter sich bringen. Es galt vieles gutzumachen.
Bereits beim Herabschreiten der Treppe fiel sein Blick auf Lady Jessica. Er erinnerte sich der Geschehnisse sechs Jahre zuvor. Ihm war schon damals bewusst gewesen, dass er es nicht hätte darauf ankommen lassen dürfen. Er hätte sie von sich weisen sollen, als sie ihre Arme um seinen Hals legte und zu weinen begann. Ihm hatte es einfach nicht zugestanden, sie zu trösten oder zu umarmen... schon gar nicht, sie zu berühren.
Er hatte seine Gefühle für sie als Vernarrtheit ausgelegt, aber er wusste, dass er sich selbst belog. Es war Angst gewesen, die ihn von ihr forttrieb, die Angst verletzt zu werden. Er hatte Jessica noch kurz betrachtet, sich jede ihrer Gesten, jedes Detail ihres Körpers eingeprägt - und das frei von Vorbehalten und Reue, um für eine Zukunft ohne sie zu sammeln. Dann war er ohne einen Blick zurückzuwerfen geflüchtet. Es war eine Flucht gewesen. Eine Flucht vor seinen Gefühlen und der Liebe zu einem blutjungen Mädchen. Dessen ungeachtet konnte er sie nicht vergessen.
Dort unten stand sie und unterhielt sich mit Lord Primerose.
Sie war weitaus schöner als in seiner Erinnerung. Heute, mit dreiundzwanzig Jahren, war sie zu voller Schönheit erblüht.
Er würde ihr gegenübertreten - ganz offen. Doch hatte das noch Zeit. Der Abend war jung.
Jessica - vollkommen in das Gespräch mit Sir Archibald Primerose und dessen Ehefrau vertieft - bekam Thomas McGraws Ankunft zunächst nicht mit. Seine Anwesenheit fiel ihr erst eine halbe Stunde später auf. Er befand sich auf der anderen Seite des Ballsaals, umringt von einer kleinen Menschentraube. Unmöglich die Augen abzuwenden, beobachtete sie ihn. Unvermittelt hob er seinen Kopf und sah in ihre Richtung. Sein Blick schien sie bis ins Innerste zu durchbohren und verursachte einen ungewollten Schmerz.
Sie spannte die Muskeln in ihren Oberschenkeln an. Nach mehreren atemlosen Minuten - gefangen in der Hitze seines Blickes - raffte Jessica den kläglichen Rest ihrer Willenskraft zusammen und schaute woanders hin. Ein Bild von ihm, wie er vor sechs Jahren ausgesehen hatte, manifestierte sich vor ihrem geistigen Auge. Der Eindruck, den er bereits damals vermittelt hatte, verblasste neben der Wirkung, die er nun verströmte. Er war in den vergangenen Jahren noch um ein Vielfaches attraktiver geworden. Sein dunkles Haar trug er ein wenig länger, als es die Gesellschaft erlaubte. Seine Schultern waren breiter, seine Gesichtszüge markanter. Er befand sich mit seinen dreiunddreißig Jahren definitiv in der Blüte seines Lebens, und trug den schwarzen Smoking mit derselben Lässigkeit, mit der er sich bewegte, gestand sie sich ein, währenddessen er langsam auf sie zukam und direkt vor ihr stehen blieb.
"Lady Cowan", sagte er. "Ich bin gekommen, um Sie um den nächsten Tanz zu bitten. Würden Sie mir die Ehre erweisen?"
Er streckte ihr seine Hand entgegen. "Du musst nicht einwilligen", erklärte er so leise, dass nur sie es hören konnte. "Ich könnte es verstehen."
Jessica lächelte ihn an. "Natürlich, Lord Glendale", erwiderte sie. "Es gibt nichts, was ich lieber täte."
Thomas führte sie auf das Parkett. Beide begannen sich harmonisch im Takt der Musik zu bewegen. Jessica tanzte leichtfüßig. Das Gefühl ihrer Hand in der seinen weckte eine Reihe ungewollter Empfindungen, die von Regungen des Verlangens bis hin zur Traurigkeit reichten.
Der Walzer, der wegen der innigen Berührung des tanzenden Paares in den besseren Kreisen verpönt war, hatte erst nach dem Wiener Kongress von 1814/15 an Beliebtheit gewonnen, und begann sich nun allmählich bei Gesellschaftsveranstaltungen durchzusetzen.
Jessica und Thomas schwebten geradezu durch den Ballsaal. Alle Umstehenden mussten neidlos anerkennen, nie ein perfekteres Paar auf der Tanzfläche gesehen zu haben.
Nachdem der Tanz geendet hatte, begleitete Thomas sie zu zurück, dabei flüsterte er: "Wir müssen reden."
Zustimmend nickte Jessica.
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Foto des Gesellschaftszimmers in Dalmeny House
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