1858 – Aylesbury, Buckinghamshire
Es schneite. Im schwindenden Licht des Tages schwebten die Schneeflocken auf die Erde nieder. Die großen Kiefern waren mit einer Puderschicht überzogen. Gleiches traf auf die unzähligen Eichen zu, die die Allee säumten. Sie sahen aus, als seien sie mit einem zuckerwatteähnlichen Gewebe benetzt.
Ethan Mitchell trieb die weiße Stute zum Galopp an. Er war froh über den Schneefall, denn der ließ die Menschen zu Hause bleiben. Was er jetzt brauchte, waren frische Luft und einige Zeit des Alleinseins.
Ethan war losgeritten, ohne sich ein Ziel gesetzt zu haben, und dabei unbewusst durch Straßenzüge gekommen, an die er sich zwar erinnerte, ihm jedoch nicht vertraut waren. Das änderte sich erst, als er Beaumont Lodge zu seiner Rechten entdeckte. Er zügelte sein Pferd und hielt an.
Seit seinem letzten Besuch im August hatte sich hier nichts verändert. Der einzige Unterschied bestand darin, dass das Land nunmehr unter einer dichten Schneedecke begraben lag. Trotz des Schnees glaubte er, jene Stelle wiederzuerkennen, an der er vor mehr als vier Monaten versucht gewesen war, Isabella Whitehead in die Arme zu nehmen.
Die letzten Strahlen der Sonne versuchten die Wolken zu durchdringen. Sie tauchten das Land in ein wundervolles Licht, das dem kompletten Anwesen einen mystischen Eindruck verlieh. Die großen, schmalen Fenster wurden zu bronzefarbenen Rechtecken, die vom Dach herabhängenden Eiszapfen schienen zu glühen. Ethan beobachtete die Veränderung und spürte ein eigentümliches Gefühl in sich aufsteigen. Mit einem Mal meinte er, das Paradies gefunden zu haben. Er stellte sich vor, bei Sonnenuntergang über die schneebedeckten Felder nach Hause zu kommen, vom Duft des Holzfeuers und des Abendessens angelockt.
London und sein wirkliches Leben waren in diesem Augenblick weit weg. Cumbria und die Dinge, die vor unendlich langer Zeit geschehen waren auf einmal viel klarer.
„Was wollen Sie?“, hatte ihn Isabella im August gefragt. Und er hatte geantwortet: „Reichtum, Macht und Erfolg.“
Die Worte klangen in seinem Geiste nach, ohne dass sie die vertraute Hochstimmung in ihm hervorriefen. Vor diesem Naturszenario wirkten sie einfach hohl. Zuerst glitzernd und voller Versprechen, dann nur noch banal, wie ein Weihnachtsgeschenk, das seinen Reiz verlor, wenn es erst einmal ausgepackt worden war.
Ethan erinnerte sich daran, wie Isabella gemeint hatte, dass Kinder auf Beaumont Lodge leben sollten, damit das Haus wieder von Lachen und Leben erfüllt wurde.
Für einen Augenblick hatte er den Eindruck, als sei die inzwischen hereingebrochene Dunkelheit verschwunden und die Fenster hell erleuchtet. Vor seinem inneren Auge sah er Isabella, die die Tür öffnete und auf die Treppe hinaustrat – lächelnd und mit ausgebreiteten Armen.
Er rannte auf sie zu. Ebenso plötzlich wie dieses Bild entstanden war, verschwand es. Das Haus lag wieder im Dunkeln.
Ethan blickte sich um. Das Abendrot war vollends verblasst. Die ersten Sterne funkelten am Himmel. Er seufzte. Eigentlich sollte er gehen, doch irgendetwas hielt ihn zurück. Jedes Gespür für die Zeit war ihm abhandengekommen. Erst die unruhigen Bewegungen des Pferdes brachten ihn in die Realität zurück.
Obwohl er einen solchen nicht gesucht hatte, war er zu einem Entschluss gekommen. Er verspürte eine Leichtigkeit, über die er nicht verfügt hatte, als er hierhergekommen war. Im Licht des Mondes machte er sich auf den Rückweg in die Stadt. Seine Entscheidung stand fest.
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