„Ich frage mich, was der Chef heute von uns will. Wir hatten doch erst letzte Woche eine Besprechung“, sagte Rosie zu ihrer neben ihr gehenden Freundin Marianne.
„Was weiß ich, bin ich seine Sekretärin?“, erwiderte Marianne schnippisch und schüttelte den Kopf. Sie blickte auf ihre Uhr. „Komm, wir müssen uns sputen. Sonst sind wir schon wieder zu spät. Du weißt ja, Friedhelm mag es nicht, wenn wir nicht rechtzeitig zu den Meetings erscheinen.“ Hastig hetzte sie den Gang entlang, Rosie im Schlepptau, die keuchend versuchte, ihrer Freundin zu folgen. Mit den kurzen Beinen, die einen fast kugelförmigen Körper tragen mussten, wahrlich eine Herausforderung.
Schon von weitem konnte man das Gackern der Belegschaft hören, die sich im großen Speisesaal versammelt hatte. Alle redeten durcheinander. Aufgeregt wurde diskutiert. Niemand konnte sich vorstellen, was Friedhelm dazu bewogen haben konnte, erneut eine außerordentliche Sitzung einzuberufen.
Gerade noch rechtzeitig erreichten die beiden Freundinnen den Saal. Schwer atmend gingen sie zu ihren Plätzen und setzten sich. Um sie herum herrschte Aufregung. „Er kommt“, flüsterte Rosie Marianne zu und blickte zur Tür, durch die eben Friedhelm majestätisch hereinschritt. Wie ein Geck benahm der sich. Die Brust vor Stolz geschwollen, den Kopf nach oben gereckt, damit er größer erschien als er in Wirklichkeit war. Wie immer saß sein bunter Frack akkurat, kein Fältchen verunzierte die weiße Hose und die Fliege, die er heute trug, schien auf und ab zu hüpfen. Sein Doppelkinn bedeckte sie beinahe. Die dreizackige Mütze wippte hin und her. Er fühlte sich wie der Hahn im Korb unter so viel weiblicher Belegschaft.
„Meine Damen, ich bitte um Ruhe“, erscholl Friedhelms Stimme, als er sich vor der großen Tafel aufgestellt hatte. Darauf standen schon einige Zahlen, auf die sich niemand einen Reim machen konnte. „Meine Damen! Ruhe bitte!“, rief Friedhelm nun ein wenig lauter, um die versammelten Frauen zum Schweigen zu bringen. Als diese immer noch nicht reagierten, schlug er mit seinem Spazierstock auf die Platte des neben ihm stehenden Tisches.
Der laute Knall ließ alle erschrocken aufschauen. „Haltet endlich den Schnabel!“, schrie Friedhelm nochmals und reckte seinen Kopf in die Höhe, damit auch die in der hintersten Reihe seine Stimme hören konnten. Endlich verstummte das letzte Gackern und alle blickten neugierig nach vorn.
Nur Marianne beugte sich zu Rosie hinüber und flüsterte ihr etwas zu. „Marianne! Mit Schnabel halten bist auch du gemeint!“, maßregelte Friedhelm das aufmüpfig seinen Befehl missachtende Mädchen. Sofort verstummte auch die Getadelte.
Friedhelm räusperte sich, so wie er es immer tat, wenn er eine seiner legendären Reden hielt. Seine Augen schienen die vor ihm Sitzenden zu durchbohren, dass diese am liebsten im Boden versunken wären. Nochmals räusperte er sich, dann setzte er an.
„Meine Damen! Ich muss euch leider erneut tadeln!“, begann Friedhelm seine Rede.
„Was haben wir nun schon wieder getan?“, fragte eines der Mädchen in der vordersten Reihe.
„Einige Kunden haben sich beschwert, dass unser Produkt nicht der geforderten Güteklasse entspräche. Das geht so nicht. Wir müssen liefern, was gefordert wird und nichts weniger! Sonst haben wir in Bälde kein Korn mehr zum Picken.“
„Aber…“, wagte nun Marianne einen Einwand. „Wir tun doch schon alles uns Mögliche.“ Empört blickte sie sich um und suchte nach Fürsprecherinnen. Doch alle sahen nur beklommen zu Boden.
„Es ist aber so!“, donnerte Friedhelm weiter. „Macht eure Arbeit ordentlich, liefert die verlangte Güteklasse ab! Sonst sehe ich mich gezwungen, euch auszutauschen!“
„Aber...“, kam erneut von Marianne ein Einwand.
„Nichts aber! Tut, was ich euch sage und alles ist gut“, wetterte Friedhelm und wedelte mit dem letzten Lieferschein herum. Er fuchtelte so stark, dass ihm das Papier aus der Hand fiel und sachte schaukelnd durch die Luft flog. Vor den Füßen der Rednerin in der ersten Reihe taumelte es zu Boden und blieb dort liegen.
Neugierig wurde es aufgenommen und betrachtet. Flüsternd wandte sich die Dame an ihre Nachbarin Henriette. „Schau doch mal, hier ist etwas lose. Was das wohl sein mag?“
„Hm“, erwiderte die Nachbarin. „Da scheint etwas getürkt zu sein“, und kratzte an dem losen Teil herum bis es abfiel. Darunter kam ein weiteres Wort zum Vorschein, das wahrscheinlich verborgen werden sollte. Sie nahm das abgefallene Teil und betrachtete auch dieses. Darauf stand „Güteklasse C“. An der Stelle, die es verdeckt hatte, stand aber „Güteklasse A“.
„Das ist eine bodenlose Frechheit!“, begann nach genauer Betrachtung Henriette aufgeregt zu gackern. Sie stand auf und stolzierte auf Friedhelm zu. „Du willst uns wohl loswerden!“, schimpfte sie. „Uns schlecht machen! Das geht gar nicht! Schäm dich!“
Friedhelm zog den Kopf ein und machte sich so klein wie möglich. Nun wäre am liebsten er im Erdboden versunken. Doch die Damen ließen sich nicht so leicht davon abbringen, ihn zu tadeln. Sie gackerten aufgebracht durcheinander.
Marianne konnte es ebenfalls nicht fassen, was Friedhelm mit ihnen abzog. Sie stürzte nach vorne und baute sich vor der Menge auf. „Ruhe jetzt! Wir sind doch nicht im Entenstall!“, schrie sie gegen die aufgekommene Lautstärke an. „So kommen wir nicht weiter!“ Sofort gehorchten alle.
Sie entriss der einen den Lieferschein und begutachtete ihn ebenfalls. „Wahrlich eine gute Fälschung. Fast wären wir darauf hereingefallen. Tja, mein Lieber. Da hast du die Rechnung wohl ohne den Wirt gemacht“, wandte sie sich nun erbost an Friedhelm, der wie bedröppelt vor ihnen stand und verlegen mit den Füßen scharrte. „Wir sollten wohl lieber dich auswechseln und nicht uns.“ Fies grinsend bewegte sie sich auf ihn zu. „Aber du warst immer ein aufrichtiger Hahn im Korb. Deshalb sollten wir zum letzten Mal eine Ausnahme machen.“ Sie drehte sich zu der Belegschaft um und blickte in die Menge. „Was meint ihr, meine lieben Freundinnen?“
Diesmal leise, berieten sie sich. Dann trat Rosie als Sprecherin vor.
„Aber nur unter einer Bedingung“, sagte sie.
„Die wäre?“, fragte Friedhelm erleichtert, gerade noch mit heiler Haut davon gekommen zu sein.
„Unsere Eier haben immer die Güteklasse A!“, erwiderte Rosie. Aufgeregt sammelten sich die Hennen um sie und schrien: „Gehen wir nun Eier legen, natürlich Güteklasse A.“ Damit war die Angelegenheit erledigt und die Hühner entfernten sich mit wackelnden Hinterteilen und wippenden Kämmen.
© Milly B. / 05.10.2017