Wie in Trance stieg ich wieder ins Auto, legte den Gang ein und fuhr an Sascha vorbei. Ich schaute nicht einmal in den Rückspiegel, und bevor ich wusste, wo ich mich befand, war ich vor meiner Firma. Was machte ich hier? Ich stieg aus, ging in die Firma, in mein Büro, zum Fenster und blickte zum Himmel. Was machte ich bloß? Hatte ich es richtig verstanden? Hatte ich es richtig gehört? Hatte es Sascha wirklich getan? Hatte er wirklich mit mir Schluss gemacht? Nachdem ... nachdem wir uns letzte Nacht gegenseitig unsere Liebe gestanden hatten?
Ich ging vom Fenster weg, den Himmel sah ich sowieso nicht und setzte mich an den Schreibtisch. Wie automatisch zog ich die Schublade auf und griff zu der Zigarettenschachtel, die seit über einem Jahr darin herumlag.
Paul hatte es geschafft, dass ich mit dem Rauchen aufhörte, doch nun, in diesem Moment kam mir alles sinnlos vor. Ich nahm mir eine Zigarette und zündete sie an. Den ersten Zug paffte ich nur und ein ekeliger Geschmack bereitete sich im Mund aus. Auch der Geruch des Rauches ließ mich würgen. Ich ignorierte es und erinnerte mich daran, wie ich in meinem Leben den allerersten Zug gemacht hatte. Gott! War mir danach schwindlig und der Hals hatte gebrannt. Genauso erging es mir nun und ein kleines Schmunzeln huschte über mein Gesicht, was aber schnell in ein Husten überging. Mir war es trotzdem egal und ich rauchte den Nächsten auf Lunge.
Das Telefon klingelte. Ich ging nicht ran. Es klopfte an der Tür, aber ich bat niemanden rein. Ich stierte nur die ganze Zeit vor mich hin und drückte irgendwann die Zigarette aus. Ob ich sie zu Ende geraucht hatte oder nicht, wusste ich nicht. Ich bemerkte nicht einmal, dass Tom einfach in mein Büro kam und mir einen Kaffee hinstellte, die Zigarettenschachtel wegräumte und den Aschenbecher auf die Fensterbank stellte.
»Ich weiß nicht, was Ihnen über die Lunge gelaufen ist. Aber dieses Ding mit Nikotin zu beseitigen, ist nicht der richtige Weg.«
»Lunge? Leber … nicht Lunge«, murmelte ich vor mich hin.
»Hmm, schon!« Und er winkte ab.
»Mal ehrlich. Sie haben monatelang dagegen angekämpft, um jetzt wieder rückfällig zu werden?«
»Sie verstehen nicht!«
»Nein, aber manchmal hilft es, darüber zu reden.« Ich blickte zu ihm hoch und seine blaugrauen Augen sahen mich herausfordernd an. Ich verzog nur meinen Mund zu einem leichten Lächeln, was natürlich total in die Hose ging und nickte zögerlich. Tom zuckte mit den Schultern und verließ mein Büro. Tief atmete ich ein und verfiel wieder in meine Starre.
Sascha hatte Schluss gemacht. Ich konnte es immer noch nicht glauben. Seit Monaten suchte ich etwas … nein seit Jahren und da fand ich es in den wunderschönen bräunlich-grünen Augen, die kalt und unnahbar schienen und doch so nah waren und dann …? Ich war wie vor dem Kopf gestoßen. Ich konnte nicht anders, als in mein Auto zu steigen und weiterzufahren, obwohl alles in mir drinnen danach schrie, Sascha in die Arme zu nehmen, ihn zu küssen und fest an mich zu drücken. Ihn als einen Idioten zu beschimpfen, überhaupt so etwas zu sagen, so etwas zu denken. Ich konnte es nicht. Sein Blick war unbeschreiblich traurig und gebrochen.
Langsam fing mein Gehirn wieder an zu arbeiten, selbst meine Emotionen stiegen wieder unaufhaltsam in mir hoch. Die Starre löste sich von Minute zu Minute weiter auf und mein Kopf sank wie automatisch auf den Schreibtisch.
»Du bist schuld, dass er sich in dieser Lage befindet. Du bist daran schuld. Du hast einen Riss in seine innere Abwehr gestoßen und unaufhaltsam immer weiter darin rumgestochert, bis sie völlig eingestürzt ist. Aber so egoistisch, wie du bist, hast du es nicht bemerkt und ihn immer weiter darin bestärkt seinen Schutzschild zu senken. Du hast ihn die ganze Zeit nie als einen Mann gesehen, sondern nur als Körper, der dich um den Verstand bringt, sobald du nur einen Schnipsel seiner makellosen Haut siehst. Gott, Kyel du hast nur mit deinem notgeilen Schwanz gedacht.«
Ich schnaubte und setzte mich wieder auf. Nahm einen Schluck von dem Kaffee, stellte die Tasse zurück und schnappte meine Autoschlüssel. Zu Tom sagte ich, dass ich den ganzen Tag nicht zu sprechen sei und er endlich ins Wochenende gehen sollte. Fragend blickte er mich an.
»Es ist erst kurz nach neun …«
»Gehen Sie nach Hause und kommen Sie erst am Montag wieder. Ich gebe Ihnen Urlaub …«
»Aber die ganzen Kunden …?«
»Sind mir heute so was von egal. Leiten Sie die Termine zu Freim um«, mehr sagte ich nicht und ließ ihn stehen. Ich musste hier raus. Ich musste aus dieser Stadt raus. Irgendwohin. Doch statt zum Auto zu gehen, trugen mich meine Füße zu Parker. Wie automatisch ging ich in die Richtung, wo der Oldtimer stand und fand Parker auch unter dem Schmuckstück.
»Na, wenn das nicht die teuren Lederschuhe vom reichen Schnösel sind«, murrte er etwas unverständlich, weil er wieder eine Zigarette im Mund hatte. Ich ging um das Auto rum und setzte mich rein. Inzwischen war Parker unterm Auto wieder hervorgekommen und wischte sich seine öligen Hände an einem noch öligeren Tuch, so gut es ging, sauber.
»Na, das sieht man selten«, sagte er und setzte sich neben mich.
»Parker hast du Lust, heute mit mir eine Spritztour zu machen?«
»Tja, wenn ich dich so ansehe, kann ich es wohl unmöglich abschlagen. Aber wir fahren im BMW, da kann man wenigstens das Dach runterlassen.«
»Gut bring deine Angelruten mit. Ich kümmere mich um das Bier.«
»Muss ich mir jetzt Sorgen um dich machen?«, fragte Parker. Ich schaute ihn an und der übliche Gram, den er sonst immer drauf hatte, war nicht da. Stattdessen sah er mich an, wie er mich immer angeblickt hatte, wenn ich wieder mal was ausgefressen hatte und mich nicht traute, es meinen Eltern zu sagen.
»Nein, brauchst du nicht. Ich muss nur mal abschalten.«
»Hmm!«, kam es nur von seinen geschlossenen Lippen und ich wusste, dass er was ahnte. »Gut und ich bringe noch Jack Daniels mit.«
»Oh Parker, nicht das Gesöff!«
»Was denn, der Jackie hilft mir beim Abschalten. Ich habe nicht gesagt, dass du das trinken darfst. Ich muss ja irgendwie heimkommen.« Ich stieg wieder aus und ging aus der Halle. Wie immer rief er mir hinterher. »Das ist aber ein Urlaubstag, dass wir uns verstehen!« Der änderte sich, in gewisser Hinsicht, auch nicht mehr und ich winkte ihm zu.
Eine knappe Stunde später hielt ich vor einem kleinen Vorstadthäuschen und klingelte. Die Tür wurde geöffnet und ich blickte auf den Mann in dem Rollstuhl.
»Jaydon, lange nicht gesehen!«, begrüßte ich ihn und beugte mich zu ihm runter, hauchte einen leichten Kuss auf seine Wange und ergriff anschließend die Griffe des Rollstuhles.
»Parker hat schon erzählt, dass du kommst. Der ist im Garten und raucht.« War ja klar, dass Parker im Garten war. Jaydon war strikt gegen Rauchen im Haus.
»Wo denn sonst?!«, sagte ich und der Lebensgefährte meines Onkels kicherte. »Sag, wie geht es dir?«
»Ja mir geht es gut, nur meine Beine wollen nicht so, wie ich es will.« Jaydons Unfall lag über zwanzig Jahre zurück. Ein betrunkener Autofahrer war bei Rot über die Ampel gefahren und hatte Jaydon erfasst. Er flog einige Meter durch die Luft und krachte brutal auf seine Hüfte, sodass sie komplett zertrümmert wurde. Viele Operationen musste er im Laufe der Jahre über sich ergehen lassen. Doch er hatte sich nie unterkriegen lassen und immer weiter gekämpft. Bis sein Körper schließlich mehr oder weniger den Geist aufgab.
Ich schob ihn in den Garten und stellte ihn an den Tisch, an dem auch Parker saß und rauchte. Ich blickte mich um und sah, dass wieder einige Rosenbüsche dazugekommen waren. Jaydon liebte Rosen. Er war Gärtner und lebte förmlich für seinen Beruf. Er hatte es sogar geschafft die Rosen zu kreuzen, dass eine gänzlich neue Art entstanden war. Die Jaydon Rose, oder wie sie auch unter den Gärtnern gerne genannt wurde, die Dankbare, weil sie wirklich sehr robust und wunderschön Aprikosenfarben war. Dafür erhielt er diverse Preise.
Ich setzte mich ebenfalls an den Tisch, schenkte mir etwas Tee ein und nahm mir eins von den Croissants, die Parker wahrscheinlich noch gekauft hatte, bevor er nach Hause gefahren war. Tee und Croissant, Parker kannte mich gut, sonst hätte er nicht, die Nervennahrung für mich besorgt. Er kannte mich sogar so gut, dass er seine Spitzfindigkeiten beiseitegeschoben hatte und einfach wartete, bis ich mit dem Erzählen anfing. Nur wusste ich nicht, wie und wo ich anfangen sollte. Stattdessen unterhielten wir uns über das Wetter, über die Wall Street, über die neuen steuerlichen Abgaben und sonst so belangloses Zeug. Bis Parker endlich sagte, dass wir mal losfahren sollten, da sonst die Fische nicht mehr anbeißen würden und er am Abend, noch was auf dem Tisch haben wollte.
Die ganze Fahrt zu seinem Teich verlief schweigend. Nur ab und zu kam das Gespräch über die Firma auf oder über den Neuen, wobei Parker mich daran erinnerte, dass ich ihm den Vertrag noch nicht zugefaxt hatte.
»Also, der Gerbert ist wirklich ein guter Arbeiter. Ich möchte zu gerne wissen, wo du ihn ausgegraben hast. Wir haben es innerhalb von einer Stunde geschafft, meine Süße zu reparieren und jetzt läuft sie wie eine schnurrende Katze.«
»Na, ist doch in Ordnung. Dennoch solltest du dir mal überlegen, dich von deiner Süßen zu trennen. Die frisst mehr an Geld, als was sie noch wert ist.«
»Kommt nicht in die Tüte. Sie ist die einzige Maschine, die deinen hohen Anforderungen standhält.« Ich schüttelte unmerklich meinen Kopf. Hätte ich mir ja eh denken können, dass er in dieser Beziehung einfach nur stur blieb.
Als wir dann endlich an seinem Teich angekommen waren, schielte ich etwas verdrossen zum BMW. Überall am Auto waren Schlammspuren. Langsam hasste ich das ständige Regenwetter und fluchte innerlich, weil Parker darauf bestanden hatte, mit dem BMW zu fahren anstatt mit seinem Jeep, der für dieses unwegsame Geländer besser geeignet war.
Wir bauten die Campingsachen auf. Tisch und Stühle, einen Gasherd und ein Zweimannzelt. Ich hatte eigentlich nicht vorgehabt, hier am mückenverseuchten Teich zu übernachten, aber ich kannte meinen Onkel. Und vor allem wusste ich, dass ich mich am nächsten Tag um einiges besser fühlen würde. Seelisch. Nicht körperlich, denn körperlich würde ich mich dann noch mieser fühlen und fünf Packungen Aspirin schlucken. Unsere Aussprachen gingen meistens über drei Flaschen Jackie und ein Kasten Bier hinaus. Klinisch tot. Mehr brauchte ich auch nicht.
Mit Klappstühlen saßen wir am Steg und warfen die Angeln aus. Ich hatte mein erstes Bier schon fast ausgetrunken, als Parker, der seinen Blick nicht vom Teich ließ, mich ansprach.
»Also Junge, wie lange willst du mich noch auf die Folter spannen. Dass du Liebeskummer hast, sieht jeder Blinde …« Ich verzog meine Mundwinkel zu einem verunglückten Lächeln und nickte kurz.
»Liebeskummer, was?«, murmelte ich und blickte zu dem wolkenverhangenen Spätvormittagshimmel.
»Sascha heißt er?« Nur allein sein Name ließ mich zusammenzucken und ich schaute zu meinem Onkel, der immer noch seinen Blick auf dem Teich behielt. »Clive hat mir davon erzählt und das der Bursche ganz passabel ist. Etwas jung, aber passabel.«
»Ja, er heißt Sascha. Er hat mir heute früh den Laufpass gegeben.« Nun war es raus und ich konnte es nicht mehr leugnen. Parker blickte mich an und ich atmete tief ein.
»Man hat es dich erwischt, dass du so in dich gekehrt bist.« Wir blickten alle beide auf den Teich und warfen ab und zu die Angel neu ins Wasser. Kurz kaute ich an meiner Wangeninnenseite und nahm den letzten Schluck aus der Bierflasche. Parker reichte mir gleich eine Neue.
»Letzte Nacht haben wir uns unsere Liebe gestanden … Gott und keine drei Stunden später macht er Schluss. Aus heiterem Himmel.«
»Hmm, und du weißt wirklich nicht, warum?« Ich zuckte mit den Schultern. »Nun ja, immerhin sind wir hier noch das ganze Wochenende, also wenn es eine etwas längere Geschichte ist …«
»Oh ja, das ist eine lange Geschichte und sie strotzt nur so von Fehlern, die ich gemacht habe«, sagte ich gedankenverloren und bald war auch das zweite Bier leer. Wieder gab Parker mir eine neue Flasche und zur Abwechslung zog ich die Schnur ein. Ein Fisch hatte angebissen, den Parker gleich ausnahm. Wir verfielen ins Schweigen und irgendwann fing ich an zu erzählen, beantwortete Fragen, die er mir stellte. Erzählte weiter, verfiel ins Schweigen, wenn ich nur an seine Augen dachte oder an das Gefühl der Vollkommenheit, das er mir gab. Fing wieder an und schwieg, bis ich zu diesem Morgen kam.
Inzwischen konnte ich schon fast nicht mehr richtig sprechen. Meine Zunge war bleischwer. Dennoch überreichte er mir wieder eine Flasche Bier und ein Glas vom ekeligen Jackie. Was mir mittlerweile nichts mehr ausmachte und ihn, mit einem Schluck, in mich rein kippte.
»Also das ist schon eine harte Scheiße, die ihr oder der Bursche an der Backe habt. Und er war immer noch nicht bei der Polizei?« Ich schüttelte den Kopf.
Wie ich am Ende ins Zelt kam, daran konnte ich mich nicht mehr erinnern, aber ein herrlicher Kaffeeduft weckte mich am nächsten Morgen und ich kroch aus dem Zelt. Mit fadem Alkoholgeschmack im Mund suchte ich mir eine Mineralwasserflasche. Ich hoffte, dass Parker daran gedacht hatte. Wurde aber auch bald fündig, trank die fast eineinhalb Liter Flasche leer und zog mich dann an.
»Na, auch schon wieder wach?« Ich nickte leicht benebelt. Die Natur rief und ich ging in den Wald, dort erleichterte ich mich nicht nur, sondern kotzte mir die Seele aus dem Leib.
»Hey, kotz' mal etwas leiser, du verscheuchst mir die Fische!«
»Ach halt doch die Klappe, du alter Sack!«
»Das hab ich gehört, du Geizhals. Hast mir nicht einmal den letzten Schluck vom Jackie übrig gelassen.« Schon allein die Erwähnung dieses Getränk ließ mich wieder würgen.
»Gescheit so, du hast es nicht anders verdient!«
»Leck mich doch!«
»Nö, dafür hast du deinen Sascha.« Scheiße dachte ich, nun war es so weit. Nun brauchte ich ein dickes Fell und hinterher einen Psychiater, wenn Parker mit seiner Spitzfindigkeit bei mir fertig war. Aber genau das war es, was ich wollte.
»Ach und ich hoffe, dass deine Lunge brennt, du hast mir auch noch die Zigaretten weggeraucht!« Was, ich hatte geraucht? Ich drehte mich zu ihm um und ging langsam, weil meine Motorik noch nicht richtig erwacht war, zurück ins Lager.
»Guck mich net so an, du kaufst mir Neue!« Er schmiss mir eine Packung Aspirin zu, die ich nur mit knapper Mühe auffing. »Gott ey, du siehst scheiße aus! Willst eine guten Morgen Schnappi haben?« Er hielt mir die Zigarettenschachtel hin. Ich schaute ihn nur böse an und er grinste.
»Lass das!«, murrte ich und setzte mich an den Campingtisch. Schenkte mir den frisch aufgebrühten Kaffee ein und gönnte mir einen Schluck. Der Kaffee war köstlich, der holte die Lebensgeister zurück. Schluckte eine Tablette Aspirin und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Meine Fresse war mir schwindlig.
»Nimm gleich noch eine, du siehst aus, als ob du die noch brauchst.«
»Ich weiß, aber lass doch erst einmal die Eine wirken.«
»Tja, ich habe mich nicht sinnlos besoffen, wegen etwas Liebeskummer. - Ach ja, die Firma hat angerufen, irgendetwas wegen der Finanzen. Tom nuschelt immer so leise …«
»Tom?! Der hat von mir Urlaub bis Montag bekommen. Ich glaube, ich werde ihm wirklich noch eine Wohnung im Bürogebäude einrichten lassen.«
»Das würdest du machen!«, bestätigte er.
»Ach ja? Ich dachte, ich bin nur ein Geizhals und beute meine Arbeiter aus.«
»Machst du ja auch. Ganz besonders, wenn ein Abgabetermin näher rückt, dann bist du wirklich nicht mehr zu ertragen.«
»Pass auf, nicht dass du von dir redest, du hast nicht umsonst deinen Spitznamen, alter nörgelnder Knacker, innerhalb der Firma weg.« So ging es noch eine Zeit lang, doch ich musste mir eingestehen, es half mir. Parker hatte einfach das Gespür mich wieder normal denken zu lassen.
Meine Kopfschmerzen waren hammermäßig. Die Zwerge hatten keine Lust, eine Pause einzulegen und ich warf mir die zweite Tablette ein. Parker holte noch schnell vier Fische für Jaydon aus dem Teich, dann packten wir das Campingzeug zusammen.
»Ich weiß nicht, ob du das gestern noch mitbekommen hast, aber ich würde ihn nicht so einfach gehen lassen. Auch wenn es heißt, dass er mit seinem Vater bricht und du deinen Schwiegervater in spe in der Firma ertragen musst. Aber ich bin ja nur ein nörgelnder alter Knacker, der davon absolut keine Ahnung hat. - Außerdem wird sich die Sache mit seinem Vater früher oder später wieder einrenken.«
»Oder auch nicht«, wand ich ein. »Nicht alle Väter ändern auf die Schnelle ihre Meinung.«
»Oder auch nicht!«, wiederholte er und ich fuhr ihn heim.
Nach der zweiten Aspirin gaben mir meine hämmernden Zwerge eine Verschnaufpause und ich freute mich richtig auf eine heiße Dusche. Ja erst eine Dusche und dann in die Firma, irgendetwas stimmte mit den Finanzen nicht. Ich nahm mein Handy zur Hand und stellte fest, dass es keine neuen Nachrichten von dem Stalker gab. Erleichtert atmete ich auf und wählte die Nummer von Mr. ›Ach so nett‹ Fleischhauer.
»Der Anschluss ist vorübergehend nicht erreichbar!«, meldete sich eine blecherne weibliche Stimme und ich legte auf. Schließlich rief ich in der Firma an.
»Tom, ich bin in der nächsten Stunde da. Trommeln Sie Freim, Fleischhauer und Houer zusammen und bereiten Sie sämtliche Unterlagen über unsere Kontenbewegungen vor. Auch will ich eine Standleitung zu Stephan Poetig haben.«
»Ähm, Mr. Fleischhauer hat sich seit gestern beurlauben lassen.«
»Warum denn dass schon wieder?«, schrie ich fast in das Handy.
»Hmm, ich weiß auch nicht so richtig, aber es wird gemunkelt, dass jemand aus seiner Familie im Krankenhaus liegt. Burn-out oder so was.« Für einen kurzen Moment schloss ich meine Augen. In letzter Zeit machte Fleischhauer mir etwas zu oft Urlaub.
»In Ordnung, dann schauen Sie, dass die Stellvertretung von Fleischhauer anwesend ist.«
»Das könnte ich gerade noch schaffen.«
»Was meinen Sie?«
»Ich bin heute auf der Auktion … und die fängt in zwei Stunden an.« Ach ja richtig, stimmt ja. Das hatte ich total vergessen und ich rieb mir über die Stirn.
»Geht klar, Tom. Seien Sie erfolgreich.«
»Ähm ja, wie hoch ist eigentlich das Budget für so eine Versteigerung?« Ich schmunzelte.
»Ich schreibe Ihnen einen Scheck aus.«
»Einen Scheck?!«
»Tom, ich muss auflegen!« Was ich auch tat. Ich fuhr in meine Einfahrt und hatte immer noch das Handy in der Hand. Ich parkte den BMW in der Garage und blickte auf das Display. Automatisch hatte ich Saschas Nummer rausgesucht und war schon dabei auf ›verbinden‹ zu drücken, als mir die ›befehlende Warnung‹ einfiel. Es brachte mir nichts, Sascha anzurufen, denn Anthony würde die Verbindung kappen. Wieder schnaubte ich und stieg aus. Zu guter Letzt warf ich noch einmal einen Blick auf den BMW und schüttelte verdrossen den Kopf. Eins war sicher, ich musste noch in die Waschanlage fahren. Selbst dafür könnte ich Parker schon wieder den Kopf abreißen.
Bevor ich duschen ging, blickte ich in den Kühlschrank. Allerdings schloss ich ihn gleich wieder, denn mein Magen machte unglaubliche Purzelbäume und war der Meinung sich unwirklich verdrehen zu müssen. Übelkeit und Sodbrennen würden mich noch den ganzen Tag verfolgen, wie ein schleichender Nebel. Verdammter Jackie, warum nur hatte ich wieder nach dieser Flasche gegriffen. Nun bezahlte ich den Preis dafür. Wäre es nur Bier gewesen, würde ich mich nicht so fühlen. Und so wie es aussah, war die Pause bei den Zwergen in meinem Kopf auch wieder vorbei. Unaufhaltsam pochte es von Sekunde zu Sekunde wieder heftiger und ich sah mich gezwungen, wieder eine Tablette einzuwerfen. Es war dann die Dritte und ich schwor mir, dass es auch die Letzte blieb.
Ich saß im kleinen Konferenzsaal und wartete, bis sich meine Vorstandsmitglieder einfanden. Tom hatte es sich nicht nehmen lassen, mir ein Tablett mit Essen aus der Firmenkantine zu besorgen. Eigentlich war es gutes Essen, es wurde vom städtischen Krankenhaus geliefert, nur mein Magen war immer noch der Meinung, dies zu verweigern und so sah ich die zwei Scheiben Brot, das Stückchen Butter sowie die Wurst und den Käse an. Mehr konnte ich nicht, allein schon der Gedanke etwas zu essen ließ mich würgen. Sogar den Kaffee ließ ich stehen und trank stattdessen das Mineralwasser. Ohne anzuklopfen, betraten Freim und Houer den Saal und setzten sich mit einer knappen Begrüßung auf ihre Plätze. Dicke Ordner hatten sie dabei und selbst Tom kam mit einem Stoß von Schnellheften und Akten noch einmal rein, bevor er sich verabschiedete.
»Den Scheck haben Sie?« Er wurde blass. Seitdem er auf den Scheck geschaut hatte und die Zahl Zehn mit den fünf Nullen dahinter gesehen hatte, änderte sich seine Hautfarbe irgendwie nicht mehr. Im Gegenteil, er war noch weißer. Kurz nickte er und war verschwunden.
»Bevor Nicole kommt, möchte ich einen Misstrauensantrag gegen Mr. Fleischhauer stellen«, sagte Freim und schob mir seine oberste Akte zu.
»Wir sind hier nicht vor Gericht«, warf ich ein und handelte mir einen bösen Blick von ihm ein.
»Das weiß ich selbst, Kyel!« Oh, Mr. Freim nannte mich beim Vornamen, also war die Sache entweder persönlich oder wie in diesem Fall besonders beschissen ernst. Ich horchte auf und Houer, der niedergeschlagen, wegen seiner sterbenden Frau aussah, nickte unmerklich.
»Peter und ich haben uns diesbezüglich schon unterhalten und selbst einige Nachforschungen angestellt. Auf dem Geschäftskonto fehlen einige Einzahlungen, ebenso wurde eine Auszahlung in die Schweiz getätigt.«
»Schweiz? Dort wohnt doch Taroma?«, stellte ich fest und die beiden nickten.
»Ja, aber die Bank konnte uns nicht mitteilen, ob es sich bei diesem Konto, tatsächlich um ein Konto von Taroma handelt. Schweiz …«
Es klopfte und ich sagte noch schnell, dass ich den ›Misstrauensantrag‹ bewilligte. Nicole, eine junge Frau, Mitte zwanzig, mit mahagonifarbenem Haar, das sie gerne offen trug, kam herein. Sie trug einem Hosenanzug, dessen Grau perfekt mit ihren Haaren harmonierte. Wäre ich hetero, würde ich sie wahrscheinlich, wie die anderen, umgarnen. Aber ich wusste natürlich auch, da ich der Chef war, würde sie mich nicht aus ihrem Bett stoßen. Frauen waren so berechenbar. Sie setzte sich auf dem Platz von Mr. Fleischhauer und auch sie war mit vielen Schnellheften und Akten beladen.
»Bitte, es tut mir außerordentlich leid. Als Tom gesagt hat, dass es eine interne Konferenz über die Finanzen gibt, habe ich schnell einige Sachen zusammengesucht, die mir eigentlich etwas spanisch vorkommen. Mr. Fleischhauer ist wirklich ein guter Mann und …«
»Geht in Ordnung. Mr. Fleischhauer wird Ihnen bestimmt nicht gleich den Kopf abreißen«, sagte ich und sie nickte etwas nervös.
Eigentlich hatte ich gedacht, dass die Konferenz in einer Stunde vorüber wäre, doch im Laufe des Gespräches kamen immer mehr Ungereimtheiten zutage. Und so zog sich die Konferenz bis spät in den Nachmittag rein. Nicole hatte wirklich gute Arbeit geleistet. Seit sie hier angefangen hatte, hatte sie selbst einen Ordner, über die Kontobewegungen der Firma, angelegt.
»Nun ja, wie Sie sehen, seit Markus hier im Vorstand ist, hat sich dies immer weiter verändert«, sagte sie und zeigte auf eine von ihr angefertigte Tabelle.
Freim kicherte leise süffisant auf. »Kyel, der treibt dich schleichend in den Ruin. Spätestens in fünfzehn Jahren hast du nichts mehr.«
Nachdem die Fakten offen gelegt waren und wir, im wahrsten Sinne des Wortes, auf keinen Nenner kamen, beendete ich die Konferenz und verschwand in mein Büro. So wie die Sachlage sich darstellte, arbeitete Markus mit Taroma zusammen und mit noch vielen anderen, denen ich, im letzten halben Jahr, mehr oder weniger, das Geschäftsverhältnis gekündigt hatte. Nach einigem Hin- und Hergrübeln stand ich auf und ging zur Anmeldung. Ein unbekannter Anblick erwartete mich, denn es war niemand dort. Tom, das lebende Inventar, war nicht anwesend und ich schmunzelte innerlich darüber, wie sehr ich mich an seine ständige Anwesenheit gewöhnt hatte. Kurz suchte ich die Unterlagen für den Urlaubsanspruch heraus und nahm mir einen Zettel. Ich füllte ihn aus und überreichte es einem Lehrling, mit der Bitte, dass er es in die Personalabteilung schaffen sollte, sie sollten Fleischhauer über seine unbefristete Beurlaubung unterrichten. Als ich wieder in mein Büro zurückwollte, klingelte das Telefon der Anmeldung. Ich nahm ab.
»Kastner Import Export. Sie sprechen mit Kastner.« Die Leitung knackte und ich hörte ein leichtes Schnaufen.
»Ähm ja!«, meldete sich eine Frauenstimme.
»Hier ist Sarah Fleischhauer. Ist Mr. Kastner zu sprechen?« Ihre Stimme klang fest, dennoch vernahm ich einen zittrigen Klang und ich wurde hellhörig.
»Ich bin dran!«
»Ja, ich … ich … es tut mir leid, dass ich Sie anrufe, aber ich weiß einfach nicht mehr weiter … Sascha und Dad und …« Ich hörte, dass sie schniefte und allein der Name Sascha zog mein Herz wieder zusammen.
»Ist mit Sascha alles in Ordnung?«
»Schon, nein … können wir uns treffen … Es tut mir leid, wenn Sie keine Zeit haben, aber … Sascha liegt im Krankenhaus … und … und …!« Ihre Stimme stockte und sie schniefte immer heftiger, als ob sie ihr Weinen unterdrücken wollte und es dennoch, unaufhaltsam in ihr hochstieg.
»Ist Ihr Vater zu sprechen?«, fragte ich und hatte das dumpfe Gefühl, dass sie mir gleich etwas sagen würde, das für sie die Wahrheit war und für mich eine totale Lüge.
»Nein, er müsste in der Firma sein …« Tata … dachte ich es mir doch.
»Ich komme bei Ihnen vorbei. Ist Ihre Mutter …«
»Nein, wir sind im Krankenhaus«, schnitt sie mir schnell das Wort ab.
»Station 5 Zimmer 12.« Moment, in der Zeit als ich im Krankenhaus mein Praktikum absolviert hatte, war die Station 5 für Nervenkranke. Mit anderen Worten die Psychiatrie. Mir wurde schlecht und ich schloss für einen kurzen Moment die Augen, um das Schwindelgefühl zu unterdrücken.
Sascha lag also im Krankenhaus, wieder einmal. Er hatte es wirklich geschafft, ihn so fertigzumachen. Und selbst ich trug einen großen Teil mit dazu bei, dass es so weit kam. Während des ganzen Wegs ins Krankenhaus sah ich immer wieder das traurige und entschlossene Gesicht von Sascha vor mir. Wie er mich von sich weggestoßen hatte. Angeschrien, dass ich ihn in Ruhe lassen sollte. Gott, mir war kotzübel, aber nicht von der durchzechten Nacht, sondern, weil meine Schmetterlinge, die unbedingt Sascha wiedersehen wollten, keinen Tanz hinlegten, sondern gleich ein ganzes Gebäude einstürzen ließen. Auch beschwerte sich mein Magen, weil er immer noch keine Nahrung bekommen hatte, was auch noch einen erheblichen Teil zu meiner Übelkeit beitrug.
Ich stand vor der Tür und blickte, keine Ahnung das wievielte Mal, auf die Nummer. Unfähig meinen Arm zu heben und anzuklopfen. Was würde mich da drinnen erwarten? Wieder ein schneeweißer Sascha, der gedankenverloren aus dem Fenster schaute. Mit der verzweifelten Hoffnung, dass niemand hinter seine aufgestellte Fassade blicken konnte, die ich mit roher und brutaler Gewalt zum Bröckeln gebracht hatte. Ich war schuld. Nur ich alleine war schuld, weil ich darin eine Herausforderung gesehen hatte. Tief holte ich Luft. Ich versuchte vergebens, die aufkommenden Kopfschmerzen, sowie den umgedrehten Magen zu ignorieren. Schließlich klopfte ich zögerlich an, vernahm ein leises ›Herein‹ und sah, wie meine Hand sich zitternd auf die Klinke legte. Wieder holte ich tief Luft, dann öffnete ich die Tür.
Scharf sog ich die Luft ein, als mir dieser Anblick entgegensprang. Mrs. Fleischhauer saß am Bett und hielt sanft Saschas Hand. Sarah stand am Fenster und ihre Augen waren tränenverquollen und sie schnäuzte in ein ziemlich verbrauchtes Taschentuch. Sascha selbst lag mit geöffneten Augen, an die Decke starrend, im Bett und rührte sich nicht. Als Mrs. Fleischhauer mich erblickte, stand sie, wie es mir schien, sich ungern von Sascha trennend, auf und kam auf mich zu. Ihre Hand zitterte genauso, wie meine Hand es getan hatte, und reichte sie mir. Mir fiel auf, dass sie auf der rechten Wange einen leichten blauen Fleck hatte.
»Vielen Dank, dass Sie gekommen sind«, murmelte sie und Sarah wusste nicht, wie sie mir entgegenkommen sollte. Ich trat an Sascha heran und diesmal gab es mir einen deftigen Stich in mein Herz. Saschas Gesicht war nicht nur blass, es war grau und tief eingefallen. Seine Augen waren schwarz umrandet und vor allem waren sie leer. Kein Glanz, kein Funke der Erkenntnis war in ihnen und er starrte, flach atmend, an die Decke. Ich bezweifelte sogar, dass er die Decke sah. Er war mehr, als nur apathisch.
»Was ist passiert?«, fragte ich und meine Kehle war trockener, als in der früh nach der durchzechten Nacht. Selbst das Schlucken viel mir schwer und ich strich automatisch, eine Strähne aus seinem Gesicht. Nicht einmal diese leichte Berührung nahm er wahr.
»Dr. Kram sagt, dass es ein Fall von akutem Burn-out ist. Aber so stark, dass sein Unterbewusstsein zugemacht hat und er in eine Art von Wachkoma gefallen ist.« Dr. Kram? Ah, ich erinnerte mich, er war der Freund von einer Freundin, dessen Cousine wiederum, keine Ahnung, mit Emily befreundet war oder so ähnlich. Apropos Emily. Ich sollte mich mal bei ihr melden, immerhin war ich der Pate von Little Johnny, oh Verzeihung, John.
Nach minutenlangem Schweigen beschloss ich, diese beiden Frauen auf einen Kaffee einzuladen. Mrs. Fleischhauer sah aus, als ob sie einen Kaffee mit einem kräftigen Schuss nötig hatte und Sarah mied irgendwie meinen Blick. Auch hatte ich das unbeständige Gefühl, das sie mir etwas sagen wollte und es nicht übers Herz brachte. Dies konnte ich nur in Erfahrung bringen, wenn ich die Mauer, die aus Eis bestand, zu Fall brachte. Und ich musste es wissen. Ich wäre in meinem Leben nicht so weit gekommen, wenn ich nicht hin und wieder, meine angeborene Diplomatie, angewendet hätte.
Dankend nahm Mrs. Fleischhauer den Kaffee entgegen, Sarah hatte sich eine Cola bestellt und wir setzten uns an einen freien Tisch. Auf die Terrasse konnten wir nicht, weil der Nieselregen wieder eingesetzt hatte. Mann, was für ein Wetter und selbst ich, trank einen heißen, nach Pappe schmeckenden, Kaffee.
Allmählich taute Mrs. Fleischhauer auf und wieder bedankte sie sich, dass ich gekommen war. In ihren Blick erkannte ich wahrhaftige Sorge. Nicht die Aufgesetzte nach außen hin, ›ach bin ich aber eine tolle Mutter‹. Vor allem, weil ich diesen Glanz schon einmal bei ihr gesehen hatte.
»Ich. Ich … habe Ihnen viel zu verdanken«, sagte sie schließlich, nach Worten suchend, an mich gewandt. »Sie haben Sascha in der ganzen Zeit Halt gegeben …«
»Nein, habe ich nicht … ich kenne ihn erst seit letzter Woche.« Überrascht schaute sie mich an.
»Sie sind der ›Freund‹, bei dem Sascha übernachtet hat!«, rutschte es aus Sarah raus und ihre Mutter war noch überraschter, als ich dem zustimmte. Es hatte absolut keinen Sinn mehr, noch zu lügen und noch mehr Mauern zwecks Sascha aufzubauen, die ich wieder ohne Gewissen einschlug. In Mrs. Fleischhauer überraschtem Ausdruck ließ sich eine Frage erkennen, bei der ich Zweifel hatte, ob sie die Antwort, auf diese Frage, verkraften würde. Doch leider kam Sarah ihrer Mutter und mir wieder zuvor. »Sind Sie mit ihm zusammen? Ich meine so richtig!« Diese Frage kam fest und mit sehr viel Überzeugung. Definitiv wusste sie etwas und deshalb war Lügen überhaupt nicht mehr angebracht.
»In gewisser Weise, ja.« Mrs. Fleischhauer sog daraufhin etwas zu hastig die Luft ein und schloss ihre Augen.
»Gott, wenn das mein Mann wüsste!«, flüsterte sie, ohne zu merken, dass sie es doch lauter ausgesprochen hatte, als beabsichtigt.
»Das ist jetzt scheißegal, ob Dad es weiß oder nicht! Überlege, was er zu dir gesagt hat und wie er dich gestern behandelt hat!« Mrs. Fleischhauer zuckte leicht zusammen und berührte gedankenverloren ihre Wange. Ich zog meine Augenbrauen zusammen.
»Hat er Sie geschlagen!«, fragte ich gleich drauf und sie blickte verschämt zu ihrer Tochter.
»Nein, ich bin gegen die Tür gerannt.« Sarah biss sich fast auf die Lippe und schaute ihre Mutter wütend an.
»Lass das endlich sein!«, ging Sarah ihrer Mutter dazwischen, »Ja, Dad hat sie geschlagen und sie als Schwuchtelhure bezeichnet.«
»Geschlagen? Schwuchtelhure?!«, wiederholte ich diese mir unbegreiflichen Wörter und sah, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten.
»Nicht nur das, er warf ihr vor, mit einem Schwulen im Bett gewesen zu sein, weil Sascha jetzt schwul ist und wir nicht seine Kinder sind. Und noch vieles mehr.«
»So schlimm war das nicht. Wir hatten gestern nur eine kleine familiäre Auseinandersetzung.«
»Fängst du schon wieder damit an. Es war keine Auseinandersetzung, das war ein heftiger Streit. Und außerdem hättest du dich schon damals von ihm trennen sollen. Aber nein, du hast dich wieder einlullen lassen!«, redete Sarah sich in Fahrt und ihre Mutter kam langsam mit dem Wegwischen ihrer Tränen nicht mehr nach.
»Es tut mir leid, dass Sie das miterleben«, entschuldigte die Mutter sich bei mir und ich winkte ab.
»Dass ihr Probleme habt, das weiß ich schon längst. Nur so, wie es aussieht, beschränkt sich das nicht nur auf Saschas Homosexualität. Ihr habt nicht nur ein familiäres Problem, sondern noch ein viel Größeres.« Mir war es egal, ob sie davon erfuhren oder nicht. Ich wollte einzig und allein dieser Familie die Fehler an den Kopf schreien. Vor allem war das Wichtigste, Sascha um jeden Preis Sascha zu helfen und ihn zurückzubekommen.
Es bestand bei zwei Punkten dringender Handlungsbedarf. Punkt eins, die immer stärker werdende Erkenntnis, dass Mr. Fleischhauer ein doppeltes Spiel spielte und ich dem entgegenwirken musste. Punkt zwei, ich wollte die kleine Familie Fleischhauer, die zu diesem Zeitpunkt nur aus Loren, Sarah und Sascha bestand, unterstützen.
Im Laufe unseres Gespräches kamen Sachen an die Oberfläche, an die ich nie im Leben gedacht hätte. Sarah hatte es geschafft, die Zunge ihrer Mutter zu lösen, und irgendwann offenbarte sie mir einige Familiengeheimnisse, bei denen selbst Sarah manchmal die Spucke wegblieb. Besonders als Loren, wir haben uns das du angeboten, mit der Sprache rausrückte, dass sie vor vier Jahren ein Verhältnis mit dem damaligen Englischlehrer von Sarah, Mr. Clancy, hatte. Der gleichzeitig auch der Klassenlehrer der Zwillinge war. Es war ein, etwas tiefer gehendes, freundschaftliches und auf Sex basierendes Verhältnis. Selbst Mrs. Fleischhauer, also Loren hatte keine so reine weiße Weste, wie sie gerne nach außen hin zeigte. Diese Familie ›Ach so nett‹ und freundlich nach außen hin, hatte mehr Leichen im Keller, als man dachte.
Mr. Clancy, dieser Name verfolgte mich schon seit einigen Tagen, da Anthony mir die Bilder der damaligen Red Eyes Mitglieder gezeigt hatte, zu denen auch er gehörte.
Bevor ich mich verabschiedete, ging ich in Saschas Zimmer zurück und wie schon so oft, stahl ich mir einen Kuss. Nur diesmal kam keine Reaktion und seine Lippen waren kalt und trocken. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Loren kurz zusammenzuckte und betreten aus dem Fenster schaute. Nun hatte ich ihn offiziell zu meinem Geliebten gemacht und Nichts und niemand konnte ihn mir noch wegnehmen. Außerdem hatte ich ihm auf diese Weise die Aufgabe abgenommen, seinen Eltern zu sagen, dass er einen Freund hatte, der nun ja, nicht nur ein platonischer Freund war.
Was mich allerdings wunderte, war, dass es Loren recht gefasst aufgenommen hatte, als ans Licht kam, dass zwischen Sascha und dem Chef ihres Mannes - mir - schon etwas mehr, als nur Händchenhalten war. Dennoch sah ich ihr hin und wieder an, dass ihre Gedanken mit ihren Emotionen nicht immer übereinstimmten. War mir egal, dieses ewige Versteck spielen, wurde mir sowieso zu blöd. Sascha war erwachsen und konnte machen, was er wollte, selbst wenn er mit zwei Männern und einer Frau ins Bett steigen wollte, was ich allerdings nicht hoffte, konnte sie dennoch nichts mehr dagegen unternehmen.
Ich setzte meinen Blinker und fuhr auf den Parkplatz vor dem alten Theater. Die Versteigerung müsste in vollem Gange sein, und da ich im Moment nichts Besseres zu tun hatte, wollte ich, für mich persönlich, einige Sachen aus der Hinterlassenschaft von Clara von Dorings, ersteigern. Leider kam ich zu spät. Die Versteigerung, der Hinterlassenschaft der verstorbenen Dame, war schon vorüber. Stattdessen ging ich in den anderen Raum, wo noch Dinge versteigert wurden. Auf den ersten Blick erkannte ich, dass es sich dabei, um eine öffentliche Wohnungsauflösung handelte und die Familien, die Erbstücke, die sie nicht selbst behalten wollten, so verkauften. Ein Flohmarkt mehr nicht. Ich setzte mich dennoch hin und betrachtete kurz die Nummer, die ich mir geholt hatte. Das Erste, dass ich von der laufenden Versteigerung mitbekam, war, eine normale Taschenuhr, bei der das Anfangsgebot 1 $ war. Diese wurde für 5 $ versteigert. So ging es weiter, bis mir ein Ölbild ins Auge stach, das weit unterm Wert angeboten wurde. Diese Familie konnte wirklich keine Ahnung haben, allein dieses Bild hatte einen Wert von knapp fünftausend Dollar und wurde mit einem läppischen Anfangsgebot von 100 $ angeboten. Natürlich ersteigerte ich das Bild für 110 $. Und noch andere, kleinere Sachen, die ich wertschätzen lassen, restaurieren und verkaufen wollte. Ich hatte genügend Antiquitätenhändler, Ramschladenbesitzer oder andere Kunden zur Hand, die mir auch die kleineren billigeren Sachen abkauften. Ja es war so, Kleinvieh machte tatsächlich viel Mist.
Auf dem Gang traf ich auf Tom, der sich wild gestikulierend und etwas heftiger mit jemandem unterhielt.
»Das darf doch nicht wahr sein! Was soll das heißen … ein Bein ist während des Transportes abgefallen und jetzt stehe ich da! Ich sehe nicht ein, dass ich den vollen Betrag dafür bezahle. Vor noch nicht einmal drei Stunden, war der Tisch noch komplett in Ordnung und jetzt … können Sie mir bitte verraten, wie ich das meinem Chef klarmachen soll, dass dem guten Tische, während des Transportes ein Bein abgefallen ist?«
»Wir können den Betrag nicht mehr zurückziehen. Entweder verzichten Sie auf den Tisch oder bezahlen den vollen Betrag. Noch können Sie das Gebot stornieren.«
»Ich hör wohl nicht richtig! Immerhin ist das Ihr Fehler, dass Sie unfähig sind, einen Tisch zu transportieren. Ich hoffe nur, dass er nicht auch noch ein Brandloch aufweist, nur weil einer Ihrer Mitarbeiter ihn als überdimensionalen Aschenbecher ansah und seine Zigarette darauf ausgedrückt hat.«
»Tom beruhigen Sie sich!«, er erschrak und sein Gegenüber fing süffisant zu grinsen an.
»Oh, Mr. Kastner. Die Auktion von Clara von Dorings ist leider schon vorüber, aber wir haben noch einige Bestände aus ihrem Nachlass, wenn Sie möchten, dann führe ich Sie persönlich …«
»Nein danke, mein Interesse gilt nur dem Tisch aus der Renaissance und dem Bild ›Der blaue Apfel‹ …«, der Mann wurde weiß.
»Ich berufe mich auf die *dritte Regelversicherung. Hiermit beanspruche ich sie für das, was mein Sekretär Tom Selter in meinem Namen ersteigert hat«, sagte ich und Tom blickte mich verdattert an. Der Mann nickte verhalten und holte einen Zettel aus seinem Jackett.
»Was?«
»Ich habe mich darauf berufen, dass ich gewillt bin, das beschädigte Teil, das wegen einem Transportfehler oder einem anderen Malheur aufseiten des Verkäufers passierte, dennoch zu kaufen. Sie mir aber im Gegenzug einen 25-%-Nachlass, auf das von ihnen beschädigte oder kaputt gegangene Teil geben.«
»Da … das wollte ich ja auch, aber warum?«
Ich nahm Tom auf die Seite und gab dem Auktionator die Gelegenheit sich in Ruhe, um meinen Auftrag zu kümmern.
»Hmm, Tom. Diese Leute haben gemerkt, dass Sie noch neu in dem Geschäft sind und deshalb haben sie gedacht, mit Ihnen kann man spielen. Und je mehr Sie sich da hineingesteigert hätten, umso eher hätten Sie am Ende entweder den vollen Preis bezahlt oder storniert und das wäre für sie ein Gewinn gewesen. Wenn Sie es storniert hätten, hätten sie das Stück wieder versteigert, natürlich mit dem Hinweis, dass ein Bein kaputt sei und wer weiß, vielleicht hätten sie sogar mehr dafür bekommen. So verlieren sie 25 %. Das ist für sie ein größerer Verlust, als einen kaputten Tisch erneut zu versteigern, wobei sie dafür eine deftige Geschichte erfunden hätten, um den Preis noch mehr anzuheben. Gegenstände mit einer dunklen Geschichte lassen sich sehr gut und teuer verkaufen.«
»Ah!«, gab er als Antwort und ich bezweifelte, dass Tom irgendetwas davon verstanden hatte.
Am Abend fuhr ich nicht nach Hause, sondern ins Büro. Ich hatte absolut kein Interesse, in meinen eigenen vier Wänden, die ohne ihn so leer waren, zu schlafen. Mit Loren hatte ich ein Treffen für den kommenden Abend ausgemacht. Sie sollte ins Büro kommen, denn ich hatte Mr. Fleischhauer in den Zwangsurlaub geschickt. Und ihn daheim anzutreffen, während ich mit Loren über Sascha redete, wollte ich auf eine gewisse Art nicht. Nicht, dass ich mich dafür schämte oder einfach zu feig war, nein, ich wollte dieser Familie nicht noch mehr Probleme bereiten, als sie schon hatte. Schon gar nicht beabsichtigte ich, dass Mr. Fleischhauer Lorens Gesicht wieder mit einem Sandsack verwechselte. Gott, je länger ich mit dieser Familie in Kontakt war, umso weniger war mir der einstige, immer fröhliche, viel lachende, in seine Arbeit versunkene, rechtschaffene Mann noch sympathisch. Nein, ich entwickelte langsam einen regelrechten Hass auf ihn. Dieser Mann hatte nicht nur was gegen Schwule, sondern schlug zudem auch noch seine Frau und seinen Sohn, außerdem stand er unter Verdacht, mein Geld zu veruntreuen. »Was für ein Tag!«, dachte ich und legte mich auf meine hergerichtete Couch. »Tut mir leid, Tom. Heute schlafe ich darauf.« Mit diesen Gedanken schlief ich ein.
Am nächsten Morgen wachte ich mit einem dummen Gefühl auf. Kurz danach polterte und trommelte es ohne Rücksicht an meine Tür. Wenigstens hatte mich meine Vorahnung schon eine halbe Stunde früher geweckt und ich sah dadurch nicht so arg verschlafen aus. Der Rausch hing mir immer noch in den Knochen. Ich war eben auch nicht mehr der Jüngste und rief: »Herein!« Wie schon geahnt, kam ein wütender Markus Fleischhauer, mit zornigem Blick, in mein Büro geschossen und warf mir den Zettel mit dem Zwangsurlaub vor die Nase.
»Wie darf ich das verstehen?«, fing er an und ich hielt seinem Blick stand. Mir war egal, wie sauer er war und wenn er vor mir vor Wut platzte, was wiederum eine schöne Vorstellung war, würde ich nicht klein beigeben.
»So wie es draufsteht.«
»Das ist eine Suspendierung!«
»Genau.«
»Darf ich den Grund erfahren?«
»Natürlich dürfen Sie das.«
»Und was ist der Grund?«
»Verdacht auf Veruntreuung!« Er schnaubte wie ein Stier. Ich fragte mich schon, wann er solch rötlichen Augen bekommen würde, wie es immer in den Zeichentrickfilmen gezeigt wurde, wenn einer kurz vor der Explosion stand.
»Mr. Kastner, Sie glauben doch wohl nicht ernsthaft den Gerüchten, die seit einiger Zeit im Umlauf sind?« Ich hatte noch keine Gerüchte gehört.
»Nein, es sind keine Gerüchte, die mich zu diesem Schritt veranlasst haben. Für mich zählen allein nur Fakten und Tatsachen. Und Tatsache ist, dass Ihr Name vermehrt in verdächtigen Unterlagen und Kontobewegungen auftaucht. Und solange das nicht geklärt ist, sind Sie suspendiert. Machen Sie sich einige schöne Tage mit Ihrer Familie.«
»Das ist eine hochgradige Verleumdung. Jemand will mir was in die Schuhe schieben!«
»Warum sollte jemand das tun? Und wenn Sie von irgendwelchen Gerüchten Kenntnis hatten, warum haben Sie sich diesbezüglich nicht mit mir in Verbindung gesetzt? So gelten eben nur die Fakten.« Um Himmels willen, wenn Blicke töten könnten, wäre ich schon mindestens drei Mal gestorben.
»Ich wünsche Ihnen, einen guten Tag, Mr. Fleischhauer.« Mit hochrotem Kopf verließ er mein Büro. Da er ja eine ›gute‹ Erziehung genossen hatte, schlug er die Tür nicht zu, sondern knallte sie so heftig ins Schloss, dass ich die Vibration noch auf dem Schreibtisch spürte.
»So weit dazu!«, murmelte ich und schloss für einen kurzen Moment meine Augen.
Es war Donnerstag und eigentlich wollte ich Sascha eine Überraschung bereiten. Eine vorgezogene Überraschung. Weil wir uns am Freitag, zwei Wochen kannten. Nur lag er im Krankenhaus und so saß ich da und betrachtete die zwei Tickets in meiner Hand für das Konzert von »Die Kazas«. Verdrossen schnaufte ich ein. Ich müsste mich mal, mit Timothy Feiler in Verbindung setzten, bevor er in den Ruhestand geht. Vielleicht könnte ich es so arrangieren, dass Sascha einmal Backstage dabei sein konnte. Er liebte diese Gruppe und war ein totaler Fan.
Kaum zu glauben, diese Gruppe hielt sich schon seit über dreißig Jahren auf der Bühne. Sicherlich waren es nie die gleichen Sänger und Tänzer, aber diese Gruppe hatte ihren Kultstatus schon lange erreicht und der Erfolg lag ihnen immer noch zu Füßen. Vor fünfundzwanzig Jahren gab es mal ein sehr großes Aufheben um diese Gruppe, was ja auch kein Wunder war. Sie traten in einer Region auf, wo der Bürgerkrieg jahrzehntelang geherrscht hatte. Zwei oder drei Backgroundsängerinnen und eine Leadsängerin verschwanden auf mysteriöse Weise. Bis dato wusste keiner, was mit ihnen passiert war. Aber nachdem die Gruppe dort ihren Auftritt hatte, wurde der Bürgerkrieg beendet und seitdem herrschte dort Frieden.
Ich zog die Schublade auf und verstaute die Tickets darin. Dann suchte ich mein Jackett, das ich auf der Couch fand und anzog. Schnappte mir meinen Schlüssel und verließ das Büro. Mein erster Weg führte mich ins Krankenhaus, und als ich Sascha sah, der immer noch unverändert an die Decke stierend dalag, wusste ich eindeutig nicht mehr weiter. Ich spürte, wie meine Augen brannten, als er wieder keine Reaktion zeigte, während sich unsere Lippen berührten. Selbst sein so wundervoller, streichelnder Atem war nur noch flach und kaum wahrnehmbar.
»Komm zurück … Gott, Sascha komm zu mir zurück!«, flehte ich ihn murmelnd und tief aus meinem Herzen an. Ich wusste nicht, wie oft ich diese Wörter, immer und immer wieder, wiederholte. Mit meiner Stimme, in meinen Gedanken und vor allem schrie sie mein Herz. Mein ganzer Körper brüllte ihn an, doch er machte keine Anstalten, diese Wörter, die aus Verzweiflung bestanden, zu erhören. Zärtlich fuhren meine Finger über sein Gesicht und zeichneten seine leichten Falten auf der Stirn nach. Seine Nase bis hin zu seinen Lippen, dann über die Augenbrauen zu seinen Ohren weiter zu seiner besonderen Stelle. Nichts! Keine Reaktion. Seine Hand hatte ich in die Meine genommen und hauchte zärtliche Küsse auf die Fingerspitzen. Ich wusste nicht, wie lange ich es tat. Ich bekam auch nicht mit, dass inzwischen Loren im Zimmer war. Sie hielt aber einen gebührenden Abstand, um mich nicht zu stören. Ich bemerkte sie erst, als sie sich einen Stuhl herangezogen hatte und ebenfalls eine Hand von ihm in die ihre nahm. Kurz trafen sich unsere Blicke und in diesem kurzen Moment trafen wir ein stummes Abkommen. Gegenseitiges Verständnis.
»Ich bin schwul. Da … das ist … das Prob…« Ich erschrak fürchterlich und selbst Loren sah geschockt zu Sascha. Seine Augen waren immer noch starr an die Decke gerichtet und dennoch spürte ich, wie seine Hand zitterte, seine Atmung sich beschleunigt hatte und von einer Sekunde auf die Nächste, war er wieder apathisch. Loren rannte aus dem Zimmer, so schnell konnte ich nicht reagieren, da hörte ich sie auch schon draußen auf dem Gang schreien.
»Dr. Kram … Dr. Kram!« Ich schnaubte und einer inneren Regung nachgebend, nahm ich sein Gesicht in meine Hände. Beugte mich zu ihm runter und hauchte wieder einen zärtlichen Kuss auf seine Lippen. Wie automatisch fuhr meine Zunge über seinen Mund, nur um etwas von seinem wunderbaren Geschmack zu erhaschen. Wie ich ihn vermisste. Sein süßes Lächeln. Wie er immer die Augen verdrehte, wenn er sich aufregte. Seine ganze Körperhaltung, wie sie sich verändert hatte. Wie er offener wurde, gegenüber sich selbst und gegenüber mir, wieder schnaubte ich und setzte mich auf den Stuhl zurück. Leicht lächelte ich, als ich mich daran erinnerte, wie es war, wenn er sich über mich ärgerte. »Du bist einfach unverbesserlich.« Denn genau das würde er sagen. »Mein kleiner Orkan komme endlich zu mir zurück.« Die Tür wurde aufgestoßen und Loren kam mit dem Doktor in das Zimmer.
»Dann wollen wir mal schauen!«, sagte er. Ich stand auf, zog den Stuhl vom Bett und gab dem Arzt somit Platz, besser an Sascha heranzukommen. Er holte eine kleine Taschenlampe aus seinem Kittel und leuchtete damit in Saschas Augen.
»Hmm, die Pupillen zeigen normale Reaktionen. - Was haben Sie gemacht, dass er etwas gesagt hat?«
»Ich habe mit ihm gesprochen.« Der Arzt blickte mich an, doch dann schmunzelte er.
»Haben Sie ihm eine Frage gestellt?« Ich schüttelte den Kopf. »Hmm, das wäre einen Versuch wert. Sprechen Sie mit ihm. Alle. Jeder auf die Weise, die Mr. Fleischhauer von demjenigen kennt!« Sarah, die inzwischen auch schon da war, schaute den Arzt fragend an. »Er ist schon dabei aufzuwachen, nur wir geben ihm einen Anstoß, dass es schneller geht. Reden sie mit ihm. Erzählen sie ihm irgendetwas.«
»Sascha! Komm endlich zurück. Lass dich nicht so lange anbetteln!«, fing ich an und sah, wie sich seine starren Augen mit Tränen füllten. Sanft wischte ich eine kullernde Träne weg.
»Das sind gute Anzeichen. Er scheint zurückzukommen. Er reagiert auf Sie ...«, trieb mich der Arzt weiter an.
»Sascha! Komm zurück. Wie lange willst du mich noch warten lassen?« Sein Kopf bewegte sich etwas und dies bestärkte mich. »Komm zurück, alle warten auf dich. Ich warte auf dich … « Ich versuchte, all meine Gefühle mit diesen Worten zu vermitteln. Der Arzt war auf der anderen Seite des Bettes und hielt ein Stethoskop an Saschas Brust.
»Reden Sie weiter, sein Unterbewusstsein reagiert auf Sie. Machen Sie weiter, Sie alle. Sein Herzschlag erhöht sich …«
»Sascha! Komm zu uns zurück. Du brauchst dich nicht mehr zu verstecken, du Volldepp. Verdammt, was soll ich denn ohne dich machen, wenn ich niemanden mehr zum Streiten habe?!«, schluchzte Sarah und sie streichelte über seinen Kopf. Auch sie wischte eine Träne aus seinem Gesicht.
»Schatz, bitte, wir alle vermissen dich! Sascha! Ich weiß, ich habe einen großen Fehler begangen. Bitte verzeih mir. Ich will, dass du wieder bei uns bist … - Sascha, mein Sohn, es tut mir alles sehr leid«, bestärkte Loren ihn und ich sah schon eindeutig einige Reaktionen von ihm. Seine Brust hob und senkte sich verstärkt. Seine Hand umgriff die Meine und sein Schnaufen wurde tiefer.
»Sascha, … komm, mach schon!« Sein Griff wurde fester und plötzlich atmete er so tief ein, dass er sich sogleich an seiner Spucke verschluckte und keuchend hustete. Wieder blickte der Doktor in seine Augen und Sascha wandte seinen Kopf ab.
»Er ist wach. Sie haben es geschafft.«
Sascha versuchte sich aufzusetzen, doch seine Kraft blieb ihm versagt. Ich beugte mich etwas über ihn und spürte, wie sich ein erleichtertes Grinsen auf meinem Gesicht breitmachte.
»Kyel«, keuchte er und verdrehte seine Augen.
»Sascha, hey Sascha …!«, rief ich und zog ihn an mich heran. »Gott, bleib bei mir«, flüsterte ich in sein Ohr und spürte, wie warme Tränen auf mein Hemd tropften. Erleichtert atmete ich ein, als seine Arme um mich griffen. Sanft küsste ich seine Stirn und drückte ihn an mich. Niemals wollte ich den Moment vergessen, als er mich erkannt hatte.
»Ich liebe dich«, murmelte ich in sein Haar.
Im ganzen Zimmer war es mucksmäuschenstill, nur manchmal hörte man ein Schluchzen oder ein befreites, erleichtertes Aufatmen. Nur eins schien in diese Ruhe nicht zu passen, ein Knacken und der plötzliche Schrei von Loren, gefolgt von einem Pistolenschuss.
»Das ist dafür, dass du mich die ganzen Jahre betrogen und belogen hast, du Schwulenhure.«
- *Dritte Regelversicherung ist von der Autorin erfunden worden und hat nichts mit einer richtigen Auktion zu tun.