»Das ist wirklich furchtbar. Um nicht zu sagen ein Drama. Nein, ich will sagen eine Katastrophe! Man, man, man, diese Schweine!« Adwei's Stimme überschlug sich fast. Sein Temperament war hinlänglich bekannt und angesichts der großen Gefahr, in der sich die Siedler derzeit befanden, sogar verständlich. Er stand von seinem Platz am Ende des langen, dunkelbraunen Tisches auf, der auch einfach als „großer Tisch“ bekannt war. Völlig aufgewühlt ging er hinter den anderen sitzenden Siedlern auf und ab. Tränen standen in seinen Augen. Besorgte Blicke hafteten sich an ihn.
»Adwei, Bruder. Bitte setz Dich wieder an den großen Tisch. Ich verstehe dich ja. Aber wir können jetzt nicht aufgeben. Wir werden niemals aufgeben. Sind die Not und das Unrecht um uns herum auch noch so groß und ich weiß, dass sie groß sind, meine Brüder, meine Schwestern. Aber unsere Sache ist gerecht und gut und außerdem alles, was wir noch haben, um Medrin vor der völligen Sklaverei durch die Konstellation zu bewahren. Es liegt in der Natur unserer Sache niemals aufzugeben und bis zum letzten zu kämpfen. Denn wir sind bereits die letzte Bastion, die niemals fallen darf.«
Adwei setzte zu einer leidenschaftlichen Erwiderung an, kam aber nur bis »Aber ...«
Varov Vazlan, der oberste Siedler, dessen Stimme niemals Erregung oder Ärger erkennen ließ, schüttelte seinen blaubärtigen Kopf und brachte seinen ungestümen Bruder dadurch zum Verstummen.
»Setz dich wieder hin Adwei und höre zu!« Adwei gehorchte und nahm seinen Platz am großen Tisch wieder ein. Niemand würde Varov's Autorität hinterfragen, auch nicht der Heißsporn Adwei.
Aber die Lage war ernst, sogar sehr ernst. Es fehlte nicht viel und die Custodia Secreto würde auch noch ihnen, den letzten Siedlern des großen Tisches auf die Schliche kommen. Wenn das passiert, wäre es aus und vorbei. Der Traum von Freiheit und Unabhängigkeit würde platzen und der bitteren Realität der Sklaverei und Knechtschaft unter dem Schirm selbsternannter Götter weichen. Aus erster Hand wussten Adwei und Varov, dass die Custodia kurzen Prozess macht. Wird jemand verdächtigt, verschwindet er alsbald von der Bildfläche. bei Hundert Millionen Einwohnern, fällt das kaum bis gar nicht auf.
Da das Denunziantentum auf Medrin und besonders in den Westküstenstädten seit Jahrzehnten Hochsaison feierte, konnte es quasi jederzeit jeden treffen.
Für die Siedler des großen Tisches bedeutete dies unter anderem, sich nach jedem Treffen so herzlich und innig zu verabschieden, als wäre es das letzte Mal. Beim nächsten Treffen fehlten immer einige vertraute Gesichter und wenige Jüngere rückten dafür nach.
Der Grund für Adwei's Entgleisung war ebenso ein bitterer Verlust eines ihrer ältesten und weisesten Siedler. Er hieß Barwon und organisierte bisher die sicheren Treffen. Nun ging diese schwere Bürde auf Adwei über und er war untröstlich über Barwon's Verlust. Was genau geschehen ist, wussten sie alle nicht. Nur, dass, was die offiziellen Kanäle verlauten ließen, die einen Coup gegen das organisierte Verbrechen an der Westküste vermeldeten. Eine schlichte Propagandalüge, die übertünchen sollte, dass hier eigentlich friedliche Siedler gefangen und verschleppt worden. Von Barwon's direkten Nachbarn erfuhren sie außerdem, dass die typisch schwarz gekleideten Sturmtruppen der Custodia Secreto mitten in der Nacht erschienen sind und ihr grausiges Werk binnen Fünf Minuten beendeten.
Strom abstellen, Tür aufbrechen, Blendgranate reinwerfen, unmittelbare Nachbarn in Schach halten, Zielpersonen aus den Betten zerren und verschleiert nach draußen schleusen, ab in die Transporter und weg für immer. Wohin? Das wusste niemand so genau.
Und welches Schicksal auf die Verschleppten wartet, war ebenfalls spekulativ. Immerhin ist noch nie einer lebend zurückgekommen. So verbreitet man wirkungsvoll Terror in der Bevölkerung. Die Gerüchte taten ihr Übriges.
Varov durchbrach das betroffene Schweigen. »Siedler von Medrin, hört mich an. Die Verluste, die wir erlitten haben, sind grauenhaft und unersetzlich. Die Lücken, die Barwon und all die anderen hinterlassen haben, können wir nicht füllen. Die Präsenz und Übermacht des Kontrollapparats der Konstellation ist erdrückend und unsere Möglichkeiten dagegen etwas zu unternehmen sind gering.« Seine nüchterne Feststellung der Lage war zwar wahrhaftig aber ganz bestimmt nicht das, was die Siedler von ihrem Anführer hören wollen.
»Und dennoch! Und dennoch, sage ich erneut, dass unser Kampf gerecht, unabdingbar und keineswegs aussichtslos ist. Er ist absolut notwendig und alternativlos. Denn würden wir ihn nicht führen, wären wir nur Systemlinge, unterjochte Sklaven, ohne Willen, ohne Würde. Wer das möchte, muss nur eines machen. Aufgeben und sich anpassen. Aber wer kämpft dann noch für Medrin und wofür es mal stand, wenn nicht wir?«