Ein wenig ist das natürlich ein Widerspruch – einerseits betont er, im Kostüm authentischer zu wirken – dann schlägt er mir kurz danach mir vor, die Augen zu schließen.
Und das werde ich gewiss nicht tun – nach all den verrückten Tagträumen, die ich in den letzten Stunden hatte.
Aber das kann er ja nicht wissen.
Also lehne ich mich in meinem Stuhl zurück – diesmal nicht vor Angst – und versuche, mich so gut es geht zu entspannen.
Ich bin wirklich gespannt, was er da geschrieben hat.
Gregor mustert mich leicht belustigt, ehe er erneut in die Mappe greift und noch einige Seiten Papier hervorzieht.
Aha, also hat er auf jeden Fall mehrere Zeilen geschrieben.
Er legt den kleinen Stapel auf den Tisch und richtet seine Aufmerksamkeit dem ersten Blatt zu, welches er in die Hand nimmt. Ich bin mir nicht sicher, aber ich meine, im schwachen Licht ein Wasserzeichen zu erkennen, dass sein Familienwappen darstellt.
Dafür, dass er es frei erfunden hat, taucht es wirklich oft auf.
Ein wenig verrückt ist der Typ schon. Sicher benutzt er dieses Papier sonst nur für seine LARP- Aktivitäten.
Ich unterdrücke ein Schmunzeln. Die Vorstellung, wie er und seine Freunde handschriftlich irgendwelche verrückten Botschaften zustecken, hat schon etwas Amüsantes an sich.
Ein letzter aufmerksamer Blick zu mir, dann blickt Gregor auf seinen Text. Ich kann ihn nicht lesen, sehe aber an den übrigen Seiten, dass es sich um einen Computerausdruck handelt.
Er räuspert sich effektvoll und beginnt vorzulesen:
„Ich heiße Alexander Müller.
Nein, das ist nicht ganz korrekt, eigentlich heiße ich Alexander von Hohenfels.
Aber Tarnung ist alles, und daher habe ich mir schon lange einen anderen Namen zugelegt. Mit den richtigen Kontakten und Leuten an der richtigen Stelle geht das.
Naja, Leute ist jetzt vielleicht auch nicht ganz das richtige Wort. Wesen meiner Art wohl eher.
Leider ist es notwendig geworden, da mein Familienname immer mehr mit all den vielen Toten in Verbindung gebracht wurde.
Ich will nicht lange um den heißen Brei herumreden. Ich bin ein Vampir.
Ja, Sie haben schon richtig gelesen. Ein Vampir. Genauso wie in den Roman, Dracula und wie sie alle heißen. Mit allem was dazugehört: spitzen Zähnen, Mantel, Fledermäusen, einem buckligen Butler…
Im Ernst, das ist alles Nonsens. Oder das meiste davon. Mir stehen jedes Mal die Haare zu Berge, wenn wieder ein neuer Film oder ein neues Buch herauskommt. Was für verrückte Ideen die Menschen haben. Manche Einfälle sind ja ganz amüsant, aber die meisten sind einfach nur primitiv und blöd.
Und die Geschichte mit der Wandlung…“
Dieser Adlige hat nicht untertrieben als er bemerkte, dass er gut vorlesen könne. Seine Stimme und Aussprache sind klar und deutlich – er trägt die Geschichte mit viel Enthusiasmus vor und man ist sofort am Ort des Geschehens. Man ist geneigt, Zeit und Raum zu vergessen und sich in ihn zu verlieren.
Er legt auch viel Mühe und Gefühl in die Betonung der einzelnen Wörter. Fast ist es so, als kämen die einzelnen Wörter auf mich zu, würden mich umgarnen, streicheln und in einem seltsamen Netz einfangen.
Die Realität scheint zunehmend zu verschwinden. Es gibt nur noch ihn und diese wunderbare Stimme.
Etwas zwingt mich, in sein Gesicht zu starren – in diese roten Augen, die mir jetzt intensiver erscheinen; fast meine ich, ein Flackern darin zu erkennen. Und dieser schöne Mund, dessen Lippen sich bewegen und er weiter vorliest, ich mich aber auf den Sinn immer weniger konzentrieren kann. Ich höre nur noch den Singsang, die Melodie seiner Worte, die mich umgeben und trösten. Ganz sanft, fast wie die Berührung von Schmetterlingen, hauchzart und zärtlich.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit verstrichen ist, bis ich mich schließlich von ihm lösen kann.
Ich fühle mich wunderbar beseelt und spüre einen innerlichen Drang, einer Bitte, ja einen Befehl nachzukommen.
Ich befolge ihn und schließe langsam meine Augenlider, um in einen seltsamen Strudel hinabzugleiten.
Hinweis:
Nach dem letzten Kapitel dieser Geschichte stelle ich Gregors vollständigen Text als Anhang zur Verfügung. Zum jetzigen Zeitpunkt wäre das noch zu früh, da er einige Erklärungen enthält, die ich noch nicht verraten möchte.