Zum ersten Mal sehe ich ihn mit offenen Haaren. Ein wenig erinnert er an einem Rockstar einer Band. Vor allem Mitglieder von Hardrockgrupoen haben ja oft längere Haare.
Und die des Adligen sind wellenartig und reichem bis über die Schultern.
„Gregor?“, presse ich mühsam heraus. „Ich dachte, Sie müssen heute noch abreisen?“
Ja, ich gebe zu, dieser Satz ist absolut der Knaller in diesem Moment. Vor allem die förmliche Anrede für einen Kerl, der nachts in mein Schlafzimmer einbricht.
Trotz dieser gefährlichen Situation erkenne ich die Komik darin.
Der Mann offensichtlich nicht. Ohne weiter auf meine Worte zu reagieren, tiegert er an das Kopfende des Bettes.
Viel zu nahe.
Ich bin aber nicht sein Ziel. Zumindest im Augenblick. Er richtet seine Aufmerksamkeit zur Wand.
Ich zucke erschrocken zusammen, als es plötzlich hell wird.
Nein, nicht hell. Eine dezente Beleuchtung, und das ausgerechnet hinter meiner Schlafstätte. Offensichtlich befindet sich an der Wand ein Lichtschalter, den ich allerdings bisher nicht bemerkt hatte.
Gregor wendet sich nun wieder mir zu.
„Ich habe gelogen“, erklärt er mit provozierend gleichgültiger Stimme.
Wie?
„Glauben Sie tatsächlich, ich würde einfach davonfahren, während Sie heute Nacht unter meinem Dach schlafen? Eine so begehrenswerte Frau wie Sie, Viktoria?“
Ich kann nicht antworten. Stattdessen starre ich ihn nur fassungslos an.
Diesen Mann, der viel zu dicht bei mir steht, in einem legeren kurzen Shirt, welches augenscheinlich auch ein edles Stück ist und sicher keines von der Stange. Der Stoff sieht weich aus und passt zu der leichten kurzen Hose, die er trägt.
Der Adlige steht in seinem Schlafanzug vor mir!
Seltsam – da dringt dieser Typ nachts in mein Zimmer ein und ich achte auf so etwas.
Ob das an diesem Nebel liegt, der überall zu sein scheint und alles leicht unwirklich erscheinen lässt?
„Was wollen Sie, Gregor?“ Verrückt, dass wir uns angesichts der Situation immer noch Siezen, oder?
„Zunächst einmal Ihnen etwas zeigen. Sie haben es bisher noch nicht WIRKLICH gesehen.“
Was meint er damit und warum die seltsame Betonung?
„Schauen Sie mich an, Viktoria.“, befiehlt er.
Was hat er an sich, dass ich ihm brav wie ein Lämmchen folge und meinen Blick nicht mehr von ihm abwenden kann?
Gregor grinst diabolisch und öffnet leicht den Mund.
Wieder diese ungreifbare Bedrohung. Etwas Dunkles geht mit einem Male von dem Mann aus.
Er streckt mir seine Hände entgegen, so, als sei etwas Besonderes an ihnen und verdienten besonderer Aufmerksamkeit.
Zum ersten Mal sehe ich sie unverhüllt, ohne das schützende Leder.
Sie sehen ganz normal aus, etwas farblos vielleicht und etwas lange Fingernägel, aber nicht wirklich auffallend oder fremdartig.
Weshalb also zeigt er sie mir?
Moment mal. Seine Fingernägel sind nicht nur lang. Sie sind sehr lang.
Sie scheinen sogar zu wachsen und sich aus dem Nagelbett zu schieben.
Das kann nicht sein.
Eine Gänsehaut läuft über meinen Rücken.
Nein, das passiert jetzt nicht wirklich und ich will das auch nicht sehen.
Ich schaue da jetzt einfach nicht mehr hin. So. Dann wachsen die auch nicht. Das ist vielleicht ja eh alles Einbildung, wie der Nebel? Vielleicht träume ich ja wieder?
Also, besser sein Gesicht anschauen.
Leider auch keine gute Idee. Wie schon in meiner Vision beginnen sich nun, seine Eckzähne zu verändern. Auch sie schieben sich hervor und werden gleichzeitig spitz. In wenigen Sekunden sind zu den gefährlichen Fangzähnen herangewachsen, die ich schon öfters in dieser Zwischenwelt gesehen habe.
Dass sich seine Augen zu zwei rotglühende Kohlen verwandeln, verwundert mich in diesem Augenblick schon gar nicht mehr.
„Gregor! Bitte... bitte...“, stammle ich. Er wirkt bedeutend gefährlicher als in den Träumen.
„Bitte was?“, fragt dieses Monster spöttisch.
„Bitte tu mir nichts.“. Nun sind wir also endlich beim ‚Du‘.
„Weshalb sollte ich dir etwas tun?“, fragt er scheinheilig mit viel zu sanfter Stimme.
Er dreht seinen Kopf schief und setzt einen ‚ich- grinse- mit- meinen-Vampirzähnen- und- verunsichere- die Frau- noch- mehr‘- Blick auf.
Dann, mit einem plötzlichen Ruck, zieht er sich sein Shirt über den Kopf und steht mit nackigem Oberkörper dar.
Der verdammt sexy wäre, wenn mir nicht der Vampirgraf persönlich gegenüberstehen würde.
„Ich werde dir nichts tun“, wiederholt er. „Ich bin nur hergekommen, um diese Nacht nicht in meinem Sarg, sondern mit dir in diesem Bett zu verbringen.“