Es dauerte ein paar peinliche Momente bis Linda registrierte, dass sie weder träumte, noch Wahnvorstellungen hatte, denn das hier passierte wirklich. Vor ihr war ein nur allzu bekanntes Gesicht, zwei schokoladenbraune Augen mit unverschämt langen Wimpern und volle Lippen, die sich angesichts ihrer Reaktion zu einem amüsierten Grinsen verzogen.
Niemand geringeres als der Kellner ihres Lieblingscafés stand vor Linda, die ihre Verwirrung nur schwer verbergen konnte.
Woher kannte er ihre Adresse? Und noch viel wichtiger: Warum war er hierher gekommen?
"Guten Abend.", sagte der junge Mann noch einmal.
Schlagartig hörte Linda auf den unerwarteten Besucher paralysiert anzustarren und klappte den offenen Mund wieder zu.
"G...Guten Abend.", beeilte sie sich zu sagen und verschränkte die Arme unauffällig, wie sie hoffte, vor dem Milchfleck auf ihrem Shirt.
"Kann ich Ihnen behilflich sein, Herr Albarello?", fragte Linda dazu entschlossen ihre Neugier vorerst im Zaum zu halten.
Der Italiener lächelte sie offenherzig an. "Ich hoffe, ich bin nicht zu einem für Sie unpässlichen Zeitpunkt gekommen.", meinte er zuerst mit einem entschuldigenden Grinsen.
"Oh keineswegs.", versicherte sie ihm. "Ich erwarte nur gleich meine Mutter und die Kinder."
Ein wenig enttäuscht, aber noch immer lächelnd nickte Emilio.
"Ich möchte auch gar nicht lange stören.", meinte er dann und kramte in seiner Manteltasche, bis er fand, wonach er gesucht hatte. Er zog eine schwarze Mütze aus seiner Tasche und überreichte sie Linda.
"Die hier haben sie in ihrer Eile ganz vergessen."
Tatsache. Wenn Emilio gerade nicht hier sein würde, hätte sich Linda die flache Hand an die Stirn geklatscht.
"Oh, vielen Dank. Ich bin einfach schrecklich vergesslich.", murmelte sie stattdessen peinlich berührt und griff nach der Mütze. Für einen kurzen Moment berührten sich die Hände der beiden und ein warmes Kribbeln fuhr Linda über die Haut. Genau wie ein paar Stunden zuvor im Café. Bei der Erinnerung daran, legte sich ein verräterischer roter Schimmer auf ihre Wangen.
"Ich hoffe, ich habe ihnen keine Umstände bereitet.", fügte sie etwas verspätet hinzu.
Ein perfektes Lächeln huschte über das Gesicht des gutaussehenden Mannes.
"Aber nein, ich war sowieso gerade in der Gegend.", beschwichtigte er Linda, was diese wiederum daran erinnerte, dass Emilio doch eigentlich gar nicht wissen konnte, wo sie wohnte. Es sei denn, er... Nein, das war nun wirklich lächerlich. Oder war er ihr etwa wirklich gefolgt?
Emilio bemerkte ihren nachdenklichen Gesichtsausdruck und wurde sich seines Fehlers bewusst.
"Oh nein, ich weiß genau, was sie jetzt denken.", rief er zerknirscht und raufte sich durch sein dunkles Haar.
"Ach ja?", fragte Linda ertappt. Oder, war es etwas ganz anderes? Würde er ihr gleich sagen, dass sein Besuch der Mütze und reiner Freundlichkeit geschuldet war? Oh Gott, machte sie etwa einen interessierten Eindruck?! Vor Verlegenheit bekam Linda nun noch viel rötere Wangen. Ein Mann wie Emilio war mit Sicherheit längst vergeben...
Moment mal, worüber dachte sie hier eigentlich nach?
"Sie müssen mich für einen Stalker halten, aber ich bin unschuldig, glauben Sie mir!", bat Emilio mit gespielter Verzweiflung.
Überrascht und merkwürdigerweise glücklich, beschloss Linda das kleine Spiel mitzuspielen.
Sie schenkte ihm einen skeptischen Blick. "Oh, wirklich?, meinte sie schmunzelnd. "Mit welcher Begründung?"
"Ihre Freundin war so nett mir ihre Adresse zu verraten. Ist ihnen das Begründung genug?", fragte er mit erhobenen Händen, so als würde die zierliche Dame ein Gewehr auf ihn richten.
Plausibel, sinnierte Linda. Das würde ihrer Freundin ähnlich sehen...
Emilio deutete ihren nachdenklichen Gesichtsausdruck als ein Nein und ging in die Knie. Das war zu viel für Linda.
Sie brach in schallendes Gelächter aus, fing sich aber kurz darauf wieder und sagte mit gespieltem Ernst:"Ich weiß nicht, ob ich Ihnen glauben soll. Immerhin wäre es ein Leichtes für sie mich an der Nase herumzuführen."
Amüsiert ließ Emilio die Hände sinken und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Langsam trat er einen Schritt näher an sie heran.
"Können diese Augen lügen, Signora?", fragte er mit einschmeichelnder Stimme und süffisantem Grinsen.
Unbewusst hatte Linda den Atem angehalten. Die plötzliche Nähe hatte sie ein wenig überrumpelt.
"Vielleicht. Immerhin haben sie mir noch keinen Beweis geliefert, der für sie spricht.", erwiderte sie mit wackeliger Stimme und wollte einen Schritt zur Seite gehen, um dem fesselnden Blick zu entkommen und ihre Fassung zurückzuerlangen.
Dabei stolperte sie und kam gefährlich ins Wanken, die Treppenstufe war früher zu Ende, als sie gedacht hatte.
Plötzlich spürte sie zwei starke Hände an ihren Schultern. Um Schlimmeres zu verhindern hatte Emilio sie an den Oberarmen gepackt.
Lindas Herz stolperte und schlug mit einem Mal viel schneller.
"Danke, wie es scheint, bin ich nicht nur vergesslich, sondern auch ein riesiger Tollpatsch.", meinte sie zerknirscht und sah etwas niedergeschlagen drein.
"Was sie äußerst liebenswert macht.", murmelte Emilio leise.
Was? Hatte sie gerade richtig gehört? Lindas Wangen brannten jetzt förmlich.
"Das höre ich zum ersten Mal.", gab sie verlegen zu.
"Wirklich? Wenn sie erlauben, würde ich Ihnen das morgen abend gerne noch einmal sagen. Natürlich bei einer besseren Atmosphäre und... bei etwas höheren Temperaturen.", meinte Emilio mit Blick auf Lindas zitternde Schultern und den Sturm hinter ihm.
Lindas Mund klappte auf und kribbelnde Schauer jagten ihren Rücken hinunter. Hatte er sie gerade ernsthaft nach einem Date gefragt?
Erwartungsvoll sah er sie an, die Hände ruhten noch immer an ihren Schultern. Das hier war der Beweis für etwas, dass sie selbst nicht wahr haben wollte und ihre Freundin und vermutlich auch jeder andere sofort erkannt hatte. Der überfreundliche Kellner hatte von Anfang an mehr im Sinn.
Die Frage war nur: Hatte Linda das auch?