Ein unangenehmer Schmerz ließ Garrett lange vor seinem Wecker aufwachen. Sich die Seite haltend setzte er sich in seinem Bett auf, wischte die Haare aus dem Gesicht und betrachtete seine Brust im blassen Morgenlicht, welches durch seine Gardinen fiel, die sanft im Wind mitschwangen.
Hatte er bei offenem Fenster geschlafen?
Mühsam erhob er sich, nur in Shorts, und stellte sich vor seinen Spiegel. Große blaue Flecken zierten seine Beine und seine Brust. Er hatte sogar einen nicht allzu tiefen Kratzer im Gesicht und etliche auf den Händen.
Das Atmen tat ihm weh. Ausgerechnet an einem Tag, an dem Sportunterricht stattfand.
»Das hast du ja wieder ausgezeichnet hinbekommen, Gott. Willst du mich noch mehr zum Gespött machen?«, murmelte Garrett und kämmte sich mit den Fingern den Schmutz aus den Haaren.
Seine Kleidung, die feucht und verdreckt war, lag auf einem ordentlichen Haufen neben seinem Bett, zusammen mit seinen Schuhen. Seine Tasche lag auf dem Sessel in der Ecke neben der Anlage.
Hatte er die dort hingelegt? Verwundert blickte er seinem Spiegelbild in die braunen Augen und setzte sich langsam wieder auf das Bett.
Er konnte sich nicht erinnern, wie er nach Hause, geschweige denn halb nackt in sein Bett gekommen war. Er rieb sich den müden Kopf und dachte angestrengt nach.
Im Wald hatten Kyle und seine Blödies ihn letzten Endes erwischt und ihn verdroschen, doch irgendwann hatten sie aufgehört – warum?
Steine! Natürlich... jemand hatte Steine geworfen. Ein Mann.
Garrett hob ruckartig den Kopf aus seiner Grüblerpose und keuchte augenblicklich, denn diese Bewegung tat ihm weh. Ein Mann. Dunkle Haare. Dunkle Augen. Bleiches Gesicht. Attraktiv...
Garrett verzog den Mund und schüttelte den Kopf.
Es war doch egal, wie er aussah. Aber er hatte ihm im Wald geholfen und ihn... nach Hause gebracht? Weitergrübelnd merkte er, dass ihm die Wärme in die kalten Glieder und auch ins Gesicht schoss, als die Erinnerung zurück kam.
Er, dieser Mann, hatte ihn getragen! Huckepack, den ganzen Weg aus dem Wald bis nach Hause und er hatte ihm die nassen Sachen ausgezogen!
Oh Fuck! Wie peinlich war das bitte?
Langsam ließ der Junge sich wieder in sein Kissen sinken und versuchte sich daran zu erinnern, was dieser ihm gesagt hatte, als er, Garrett, schon halb im Schlaf lag.
Er hatte ihn doch gebeten, nicht mehr in den Wald zu gehen, oder? Doch er hatte nicht gesagt, warum. Garrett hasste es, wenn man ihm etwas verbot, ohne ihm dafür Gründe zu nennen.
Mit dem Blick an die Decke kicherte er einen Moment. Vielleicht hatte er auch einen Schlag auf den Kopf bekommen und sich diesen Typen nur eingebildet... warum sollte jemand allein im Wald leben? Noch dazu jemand, der so aussah? So aussah wie...
Garrett setzte sich ruckartig auf, verfluchte sich eine Sekunde und kramte nach seinem Handy, welches im Rucksack steckte. Mit kalten Fingern scrollte er durch die Fotos und fand schließlich die Fotografie, die er aus dem Buch gemacht hatte.
Dionysos.
Das war er doch, oder? Der Mann von gestern Nacht? Seine Augen versuchten, sich jedes Detail einzuprägen und mit der Erinnerung zu vergleichen.
Und dann entdeckte er den Beweis. Ein feiner Leberfleck unter dem rechten Auge. Der Künstler, der den Stich angefertigt hatte, hatte dieses Detail nicht unbeachtet gelassen und Garrett wusste ganz sicher, dass der Mann von gestern Nacht eben solchen Leberfleck hatte. Mal abgesehen davon, dass Augen und Lippen genau identisch waren...
Sein Herz begann zu rasen und Hitze brach in ihm aus.
Konnte es wirklich sein, dass dieser Mann, der ihn vor ein paar Schlägern gerettet hatte, derselbe war, der noch vor einhundert Jahren Jagd auf Geistliche gemacht hatte? Dem man einige der schlimmsten und blutigsten Verbrechen in der europäischen Geschichte nachsagte?
Warum hatte er ihm dann geholfen? Und ihn nicht getötet wie alle Menschen, die er den Legenden nach doch so hasste?
»Dionysos...«, flüsterte Garrett und starrte aus dem Fenster in den erwachenden neuen Tag. Der Blick aus seinem Fenster zeigte ihm seinen geliebten Wald, in den er nun nicht mehr zurückkehren sollte?
Oh doch, er musste zurückkehren. Er musste diesen Mann wieder treffen und seine Fragen stellen. Er musste einfach!
Er schrak zusammen, als sein Handy in der Hand zu plärren begann. Der Wecker schellte und Garrett warf die kleine Terroreinheit auf das Bett.
»Du kannst mich doch...«, brummte er und legte sich wieder hin. Nirgends würde er heute hingehen. Seine Brust, sein Rücken und seine Beine hatten die Farbe von Heidelbeeren und er würde eine halbe Stunde duschen müssen, um den Dreck vom Waldboden abzukriegen, der sich an allen möglichen und unmöglichen Stellen seines Körpers gesammelt hatte.
Er brummte, als seine Mutter das erste Mal an die Tür hämmerte und das Zimmer betrat.
»Willst du nicht aufstehen?«
»Mum... ich hab die ersten Stunden frei. Lass mich in Ruhe...«, log Garrett und zog die Decke über seine zerzausten Haare.
Seine Mutter würde ohnehin nicht mitbekommen, was ihm gestern passiert war, würde sie seine blauen Flecken nicht sehen. Sie blickte zweifelnd auf ihn runter, als er das erste Mal herzhaft niesen musste.
»Oh, hast du dich erkältet?«
Garrett nieste nie. Er war zwar eine Niete in Sport, aber gesundheitlich hatte er eine Kondition wie ein Rennpferd und wurde niemals krank. Deswegen reagierte seine Mutter seltenerweise mit einem Hauch von Sorge.
»Passt schon. Ich hab mit offenem Fenster geschlafen...«, nuschelte der Junge und nieste erneut, was seine Mutter dazu brachte, ihm die Hand an die Stirn zu legen.
»Ein bisschen warm bist du schon. Bleib im Bett, ich rufe in der Schule an.« Sie verließ das Zimmer und Garrett konnte sein Glück kaum fassen. Er hatte schwänzen wollen, doch seine Mutter befand ihn für krank.
Umso besser. So musste er weder den dummen Sportunterricht über sich ergehen lassen noch die blöden Blicke oder Sprüche in der Umkleide, wo denn die Flecken überall herkämen. Und er musste Kyle, den Mistarsch, nicht sehen.
Am Ende sah er Garrett wieder irgendetwas tun, was nicht der Wahrheit entsprach und beschloss, ihm eine Lektion zu erteilen. Als hätte Garrett ernsthaft auch nur den Hauch von Interesse an Gemma. Oder sie an ihm.
Kyle suchte doch nur nach einem Haar in der Suppe und wenn da keines war, dachte er sich etwas aus. Dieser Vollidiot.
Mit einem Seufzen zog Garrett die Decke bis an sein Kinn hoch und erinnerte sich an früher. Kyle und er hatten mal Tür an Tür gewohnt, bis seine Eltern ein neues Haus am anderen Ende des Tals gekauft und bezogen hatten. Sie wohnten nur eine Stunde auseinander, denn Gatwick war nicht groß, aber etwas hatte sich seitdem verändert.
Andere Kinder in der neuen Nachbarschaft verdrängten Garrett zunehmend von Kyles Seite. Dieser hatte mit 12 angefangen, den Mädchen nachzustellen oder Streiche zu spielen, Garrett hatte seine erste Kamera bekommen und so sprachen sie irgendwann nur noch in der Schule miteinander.
Und als Garretts Eltern sich scheiden ließen und dieser anfing, mehr und mehr zu einem Goth zu werden, distanzierte sich Kyle schließlich ganz von ihm. Es folgten 5 Jahre voller Streiche, Gemeinheiten, kaputter Fahrradschläuche, Unrat im Spind, geklauter Hausaufgaben, ruinierter Schulbücher und körperlicher Gewalt, die schließlich zu dem Tag im Waschraum der Jungenumkleide führten, an dem Kyle und seine Kumpels ihn das erste Mal als schwul bezeichneten und ihn deswegen beinahe...
Garrett verdrängte den Gedanken wütend und krallte seine Nägel in die Decke.
Er hatte sich vorgenommen, sich davon weder beeinflussen noch einschüchtern zu lassen. Denn letzten Endes hätte Kyle eh gekniffen.
Doch Garrett bedauerte, dass sich die Gefühle, die einst für Kyle da waren, dieses vertraute Gefühl der Sandkastenfreundschaft, so rigoros ins Gegenteil verkehrt hatten. Denn er hasste ihn nun ebenso sehr wie dieser ihn.
Er wandte den Kopf, als seine Mutter erneut das Zimmer betrat, ein kleines Tablett in der Hand.
»Die Schule weiß Bescheid, dass ich dich zuhause behalte, bis deine Temperatur wieder weg ist.«, sagte sie leise und schob ihrem Sohn ein Thermometer zwischen die Zähne. Sie stellte das Tablett mit einer Kanne Tee, ein paar Frühstückskeksen und gebutterten Toasts auf den Nachttisch und wartete, dass das Thermometer anschlug.
»39,4°. Wie fühlst du dich? Kopfschmerzen?«
Garrett nickte nur, denn er wollte nicht, dass sie ihm die Decke wegzog und die Blutergüsse auf seiner Brust sah. Stattdessen lächelte sie milde und strich ihm das Haar aus dem Gesicht. Eine Geste, die sie schon lange nicht mehr angewandt hatte, regte sie sich doch immer über seine Haare auf.
»Ich fahr zur Arbeit. Wenn was ist, die Nummer hängt in der Küche am Kühlschrank. Trink eine Tasse Tee und schlaf dann.«
»Ok.«
Lauernd, dass seine Mutter die Haustür schloss und währenddessen am Tee nippend, saß Garrett im Bett, auf dem Sprung, als erstes unter die Dusche zu schlüpfen. Denn auch wenn das Thermometer über 39° anzeigte, fühlte er sich nicht krank. Bis auf die Schmerzen, die von der Tracht Prügel herrührten...
Er seufzte, als das heiße Wasser seine geschundene Haut liebkoste und lehnte den Kopf an die Fliesen, um einen Moment lang einfach nur zu genießen. Er hatte gar nicht gemerkt, wie kalt sein Körper gewesen sein musste. Unmengen von Schmutz spülte er aus seinen Haaren raus, als er diese wusch.
Ein Wunder, dass seine Mutter nicht bemerkt hatte, die dreckig sein Haar war. Allerdings dachte sie vielleicht, das müsse so sein, wer wusste das schon.
In seinem Bademantel lümmelte er sich einige Zeit auf seinem Bett, verzehrte die Frühstückskekse und den weichen Buttertoast. Er freute sich, als die Uhr 8 Uhr anzeigte. Unterrichtsbeginn. Und er war gemütlich zuhause.
Er lauschte der Musik eines Streichquartetts, die aus seiner Anlage erklang und döste, als er merkte, dass seine Gedanken zu der letzten Nacht zurückkehrten und somit zu dem Mann, der unmöglich sein konnte, was er glaubte.
Vampire gab es nicht. Es musste ein komischer Zufall sein, dass dieser Typ so aussah wie der auf dem Holzstich. Auch der Leberfleck auf dem Bild... das konnte genauso gut ein Schmutzfleck sein. Das Bild war alt, das Buch, aus dem er es her hatte, auch.
Es ließ sich alles erklären, ganz bestimmt.
Aber nicht, solange er hier nur rumlag. Er musste ihn fragen, diesen Typen. Außerdem wollte Garrett seinen Namen wissen. Er hatte seinen eigenen bereitwillig verraten, er war der Meinung, es stünde ihm zu, auch den Namen seines Retters zu erfahren.
Entschlossen erhob er sich und schlüpfte in eine robuste Jeans, Boots und einen dunklen Pullover. Es war noch früh und trotz des Sommers waren sie noch immer in England. Es war kühl. Eine Sweatjacke überziehend griff er nach seiner Umhängetasche, die immer seine „Wanderkamera“ enthielt, mit der er durch den Wald streifte. Sollte er den Typen nicht finden – oder von ihm gefunden werden – konnte er doch in der morgendlichen Sonne ein bisschen fotografieren.
Er verließ das Haus, als gerade die Sonne hinter den Bergen hervorkam und das Tal in blasses, strahlendes Licht hüllte. Garrett lächelte, nahm seine Kamera und machte ein Bild. Gatwick war schön am Morgen.
Er schloss die Hintertür ab und stiefelte auf dem Indianerpfad geradewegs in die kühle Tiefe des Waldes. Es zwitscherte, raschelte und wuselte nur so vor Leben und Garrett kam nicht umhin, zu lächeln.
Bei Tage war der Wald doch etwas ganz anderes als in der Nacht. Tagsüber sah man, dass es nichts gab, was man fürchten müsste. Und obwohl er die Nacht liebte und besonders zu den dunklen Stunden zum fotografieren kam, entdeckte er Schönheit in jedem Winkel, wohin er auch sah.
Er lief einige Zeit immer geradeaus. Als er die Eiche passierte, wusste er, dass er auf dem richtigen Weg war. Hier hatte er den Mann getroffen.
Doch wo lebte er? Sofern er überhaupt im Wald lebte.
Garrett merkte, dass die Bäume zunehmend dichter wurden und er sich bereits am Talrand befinden musste. Denn er musste mittlerweile eine deutlich spürbare Steigung bewältigen. Er bewegte sich bereits den Talhang nach oben.
»Himmel, gibt es überhaupt Menschen, die jemals so tief in den Wald gegangen sind?«, schnaufte der Junge und blickte zurück. Durch einen lichten Punkt in den Baumwipfeln konnte er auf die Stadt runtergucken und war überrascht, wie weit diese entfernt war. Er hob die Kamera und machte einige Aufnahmen.
Nachdem er einen Moment verschnauft und die Aussicht genossen hatte, hörte er etwas, dass ihm sonderbar vorkam.
War das nicht eine Katze? Irgendwas miaute da.
Garrett sah sich um und starrte tatsächlich in die verengten Augen einer schwarzen Katze mit hocherhobenem Schwanz. Sie blickte ihn an, als wolle sie sagen: »Was hast du in meinem Revier verloren?«
»Na, Kätzchen?«, murmelte Garrett und ließ sich von seinem Baumstamm gleiten, auf dem er gesessen hatte. Er streckte langsam die Hand nach dem Tier aus, das sehr gepflegt und gut genährt aussah – untypisch für einen Streuner aus den Wäldern.
Dieses ließ sich seine Hand genau eine Sekunde gefallen, bevor sie fauchte und nach ihm schlug.
»Oy...«, machte Garrett erschrocken, doch die Katze drehte sich um und ging gemächlich davon. Hin und wieder blieb sie stehen und drehte sich zu ihm um, als wollte sie ihn auffordern, ihr zu folgen. Konnte das sein?
Garrett zuckte mit den Schultern. Viel verrückter konnte es ohnehin nicht mehr werden, oder?
Und so folgte er der Katze zu einem kleinen Haus inmitten von Bäumen. Es schien eines dieser winzigen Forsthäuser zu sein, in denen die Förster übernachten konnten, sollten sie es einmal nicht nach Hause schaffen. Die Katze, die sich bei näherem Hinsehen als Kater herausstellte, blieb vor der Tür sitzen und miaute ganz laut und jämmerlich.
Garrett blickte sich um.
Alles wirkte gepflegt und so, als würde hier jemand leben. Die Fenster waren sauber, einige Töpfe standen auf den Fensterbrettern, in denen Kräuter wuchsen und Holz stapelte sich in einem kleinen Unterbau.
Sein Herz begann, etwas schneller zu schlagen. Vielleicht war es eine schlechte Idee, hier aufzutauchen. Mal abgesehen von dem Verdacht oder der Theorie, die er hatte, dass es sich bei dem Mann um einen gewalttätigen Vampir handelte, konnte er auch einfach ein Aussteiger sein, der keine Menschen um sich wollte und deswegen in den tiefen Wald gezogen war...
Garrett fühlte sich wie ein Einbrecher, ein Eindringling, der ungebeten und widerrechtlich fremdes Eigentum betreten hatte.
Ohne noch einmal zurückzublicken, machte er kehrt und rannte den Weg, den er gekommen war, zurück. Er war in weniger als der Hälfte der Zeit, die er für den Hinweg gebraucht hatte, wieder an seinem Zuhause angekommen und ließ sich erschöpft auf die Gartenbank sinken.
Selbst wenn der Mann dort lebte, welches Recht hatte er, ihn zu belästigen und zu nerven? Er hatte ihn gebeten, nicht mehr in den Wald zu gehen, vermutlich um seiner Sicherheit Willen und er, Garrett, hatte diese Abmachung schon wenige Stunden danach gebrochen.
Und wofür? Für die alberne Neugier eines Typen, der nicht verstand, was genau ihn an diesem Unbekannten faszinierte.
Das war nicht der erste schöne Mann, der ihm in seinem Leben begegnet war. Was also war es dann?
Die Neugier, ob er wirklich ein Vampir war? Ob all die Legenden, die er über ihn gelesen hatte, der Wahrheit entsprachen?
Oder wollte er ihn ganz einfach so... einfach nur wiedersehen? Musste er sich eingestehen, dass Kyle mit seinen fiesen Bemerkungen und Vermutungen vielleicht gar nicht so falsch lag?
Garrett seufzte und klickte durch die Fotos seiner Kamera, der Ausbeute des Waldspazierganges. Er hätte die Hütte fotografieren sollen. Einen solch friedlichen Ort hatte er lange nicht gesehen.
»Mist, verdammter...«, murmelte er und betrat das Haus, um den Rest des Tages seiner Mutter den kranken Sohn vorzuspielen.