Beitrag zum Prompt „Gewöhnliche Nagekäfer [tierische Bibliotheks-geschichten]“ der Gruppe „Crikey!“
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Die ersten Wochen in den Katakomben von Akijama vergehen wie ein Traum ohne Anfang und Ende. Wenn ich zurückdenke, dann bleibt mir nur ein Eindruck der vielen Szenen, die aus der Vergangenheit zu mir kommen.
Ich lerne vom Fluch von Tipanyaaris und erlebe die dunkelsten Stunden von Gai-Shitori. Das Hyphurion scheint Gefallen daran zu finden, mir die Kindheit der drei ewigen Kaiserinnen zu zeigen.
Dann erhalte ich erste Visionen von Wajbaqwinat, aus der Zeit der Kolonialisierung, und ich muss das dämonische Buch um eine Pause bitten.
"Wie meinst du das, Seher?", fragt das Hyphurion vorwurfsvoll. "Wir haben gerade erst angefangen!"
Ich betrachte die Seiten, die mit roter Schrift gefüllt sind. Bestimmt hunderte habe ich in den letzten Wochen gefüllt, nur unterbrochen von kurzen Gesprächen mit Ratsmitgliedern, die sich versichern wollen, dass es mir gut geht. Die Welt außerhalb der kühlen Katakomben könnte, nach allem, was ich weiß, gar nicht mehr existieren. Ich bin abgeschnitten von der Welt. Und gleichzeitig bin ich da, zu vergangenen Zeiten, an fremden Orten. Ich merke, dass ich mich in all den Visionen zu verlieren drohe.
"Es ist einfach zu viel. Gib mir etwas Zeit, Hyphurion."
Die Chronik ist keinesfalls begeistert. Ich weiß es, als könnte ich es auf einem Gesicht mir gegenüber lesen. Die aufgeschlagenen Seiten verändern sich nicht, doch könnten sie es, würde das Buch die Nase krausen und den Mund verziehen, die Brauen senken und missmutig starren.
"In Ordnung", stimmt das Hyphurion schließlich zu. "Ich schätze, deinesgleichen nimmt Zeit anders wahr."
Für ein Wesen, das seit dem großen Drachenkrieg existiert, waren diese langen Wochen vielleicht nur ein Wimpernschlag. Für mich jedoch war es ein Chaos. Immer wieder erwachte ich aus Visionen voller Kämpfe und fand mich in diesem zeitlosen Ort wieder, die versunkene Bibliothek ohne Fenster, wo der Lauf der Jahreszeiten keine Rolle spielt, selbst Tag und Nacht nicht. Wie Geister huschen die Gelehrten und Bibliothekare durch die Gänge, über Treppen und Balkone, im flackernden Licht abgeschirmter Flammen. Kein Wort ist lauter als ein Flüstern, und so hallt stetiges Wispern aus dunklen Gängen zwischen hohen Regalen. Ab und zu knirscht ein Greifarm, der mit hypnotischer Ruhe Dokumente transportiert, und allüberall raschelt Papier.
Ich folge den verwinkelten Gängen und steige Leitern hinauf, bis ich die Kälte der tiefsten Katakomben verlasse. Nach unten, wo das Hyphurion angekettet ist, verirrt sich nie jemand. Meine einzige Gesellschaft ist allerlei Getier, das in den finstersten Winkeln haust, von den Bewahrern der Schriften aus den höheren Kammern vertrieben. Der große Schatz von Akijama wird sorgsam behütet, kein Leid soll den Papieren geschehen, doch trotzdem finden Käfer ihren Weg herein. Ich habe Bücherfresser gesehen, so groß wie meine Hand, und frage mich, von welchen verschollenen Pergamenten und Berichten in den Tiefen des Berges sie sich bloß ernähren.
Je höher man steigt, desto heller wird das Holz der Gehwege. Öllampen säumen die Pfade und die Schatten weichen zurück. Hier oben wirkt der Ort nicht mehr ganz so alt, die Bücher drohen nicht mehr, bei der kleinsten Berührung zu staub zu zerfallen, und immer mehr Personen begegnen mir, obwohl mir niemand groß Beachtung schenkt.
Schließlich erreiche ich die geschäftige Ebene, wo neue Schriften entgegengenommen und sortiert werden. Nicht allen Personen wird der Zutritt zur Bibliothek gestattet, sodass sich in dem ehemaligen Palast, in weitläufigen Hallen und Gängen, unzählige Personen drängen.
Hier ist es laut. Gelehrte streiten über Thesen und Studien. Es wird gelacht, sogar Tee und Speisen kann man erstehen. Nach der Ruhe tief unten überfordern mich all die Farben, Geräusche und Gerüche. Mit gesenktem Kopf suche ich einen Weg durch die Menge, bis ich einen Balkon erreiche, der glücklicherweise verlassen ist. Auf dieser schmalen, überdachten Brüstung, wo der kühlende Wind mich freundlich begrüßt, atme ich durch.
Es tut gut, frische Luft zu atmen. Von hier habe ich einen schönen Blick über die kreisförmig angelegten Viertel der Bergstadt. Schnee glänzt auf den Dächern der Viertel, deren Gebäude in dunklen Farbtönen gehalten sind, die ihrem jeweiligen Edelstein entsprechen - weiß für das Diamantviertel, blau für Saphir, ...
Es ist eine schöne Stadt, die im Licht altertümlicher Papierlampen erstrahlt, als der Schatten der Berge sich über sie beugt. Bei meiner Ankunft hatte ich keine Zeit, Akijama zu bewundern. Nun keimt Sehnsucht danach auf, durch die Straßen der verschiedenen Ebenen zu streifen, in die farbenfroh glühenden Fenster der Läden zu sehen, die Speisen zu probieren, die vielerorts angeboten werden. Ich kann sie hier oben nicht riechen, aber die kleinen Stände vor vielen der Restaurants sehen.
Allerdings soll ich in der Bibliothek bleiben. Der Rat hat nur zögerlich zugestimmt, dass ich hierbleiben und das Hyphurion studieren darf. Sie befürchten noch immer, dass das dämonische Buch etwas planen könnte. Mir geht es ähnlich. Von einem Wesen wie dem Hyphurion habe ich noch nie gehört. Wir wissen nicht, wozu es fähig ist und was es vielleicht plant. Seine Absichten scheinen edel, nicht weiter als der Versuch, die Geschichte der Eisenwelt zu bewahren. Doch ist das die Wahrheit? Vielleicht erhalten wir die Antwort erst, wenn die Chronik ausbricht und Vernichtung sät.
Nach einer halben Stunde wird es kalt auf dem Balkon und ich kehre in die Gänge des Palastes zurück. Die späte Stunde hindert die Gelehrten nicht daran, alle verfügbaren Zimmer zu belegen, doch je tiefer ich hinabsteige, desto stiller wird es. Als würde ich aus der echten Welt in ein Grab herabsteigen.
Ich vernehme leises Rascheln aus der Kammer des Hyphurions und halte inne. Ich hatte das Buch ohne Ketten zurückgelassen! Ein potentiell gefährlicher Fehler - aber vielleicht bietet mir diese Gelegenheit die Chance, etwas darüber zu erfahren, was das Buch plant, wenn es sich unbeobachtet fühlt.
Ich raffe mein Gewand zusammen, damit ich nicht unabsichtlich etwas umwerfe und Lärm mache, und suche meinen Weg zwischen den Stapeln alter Wälzer hindurch auf den schwachen, purpurnen Schimmer der Höhle zu.
Eine weitere Lichtquelle fällt mir auf. Ich sehe durch die Öffnung einige goldene Punkte durch die Luft tanzen.
Selbstvergessen trete ich ein. Die Punkte erinnern an Leuchtkäfer, doch so tief in den Katakomben kann es sie nicht geben. Das Buch schnappt mit raschelnden Seiten nach den Glühwürmchen, die nah genug an das Podest kommen. Dann - als es mich bemerkt - klappt es mit einem dumpfen Knall zu. Die Käfer fliehen in die Schatten der Decke.
"Was war das?"
Das Buch klappt langsam auf. "Chronist. Du bist zurückgekehrt. Lass uns fortfahren."
Ich gehe nicht darauf ein. "Diese Käfer habe ich noch nie gesehen."
"Du siehst sie die ganze Zeit", gibt das Buch zurück. "Gewöhnliche Nagekäfer. Dort oben werden sie vertrieben, weil sie den Büchern schaden."
"Und die leuchten?" Das war mir nicht bewusst.
"Es sind nur Insekten. Was interessieren sie dich?"
Ich suche nach den richtigen Worten. "Ich weiß, wir suchen viel größere Dinge. Uralte Kriege und verborgene Geheimnisse. Aber dann gibt es so ein kleines Wunder, direkt hier, von dem niemand etwas weiß."
"Willst du mehr über sie wissen?", fragt das Buch verwundert.
"Sind diese kleinen Dinge nicht ebenso wichtig wie die großen Taten?"
Lange ist es still. Dann sagt das Buch nachdenklich. "Du könntest recht haben. Vielleicht lade ich dir zu viele der großen Kriege auf. Vielleicht braucht es einige kleine Wunder dazwischen." Die Seiten rascheln. "Ich kann dir auch solche Ausschnitte zeigen."
"Sehr gerne." Sie interessieren mich ehrlich. So spannend die großen Umwälzungen auch sind, es liegt ein gewisser Zauber in den ganz gewöhnlichen, ganz alltäglichen Momenten jener, die später solche Weltwendungen erleben dürfen. Wie oft frage ich mich, wie sich ein Morgen in Akijama zu den Zeiten vor den Kriegen anfühlt oder was ein dhubyanischer Bauer denkt, der Tipanyaaris vor dem Fluch mit Nahrung beliefert. All diese kleinen Sorgen, die sonst vergessen sein werden.
Ich berühre die Seiten der Chronik zaghaft. "Kleine Wunder?"
"Kleine Wunder", bestätigt das Buch.