Erschöpft von meinem Tagewerk betrachte ich die Pergamente, gehäuft zu losen Stapeln sanft fallenden Papiers. Notizen in Tinte, gewöhnlicher, dunkelblauer Tinte, die Erkenntnisse meiner heutigen Reise.
Die Ereignisse selbst sind Wort für Wort auf den Seiten des Hyphurions niedergeschrieben. Doch nicht nur, die Worte zu erschaffen, hat einen Preis. Wer sie zu lesen verlangt, muss sich dem Sog des dämonischen Buches unterwerfen. Einige sind gekommen, seit ich hier arbeite. In den verstrichenen Jahren eine Handvoll vielleicht. Die Geheimnisse dieser Chronik könnten Kriege entscheiden, Leben retten, lang verlorenes Wissen neu erwecken.
Doch wer zu lange in dieses Buch sieht, der wird vom Wahnsinn ergriffen. Deshalb darf niemand lange diese Zeilen lesen. Niemand außer mir, dem auserwählten Chronisten, den der Wahnsinn nicht berührt. Ob es an mir liegt oder ob das Buch in meinem Falle eine Ausnahme macht, vermögen auch die Gelehrten nicht zu sagen.
Ich versuche, so viel des Wissens zusammenzutragen, auf Seiten, die nicht von dämonischer Macht durchdrungen sind. Doch ich kann mir nur ein Bruchteil des Wissens merken. Und mit der Zeit wird es schwieriger. Orte und Zeiten wirbeln durcheinander, vermengen sich, verlieren ihren Sinn. Meine Hände sind oft müde von der Arbeit. So hell ich die Lampe auch aufdrehe, es wird immer schwieriger, die Zeilen zu entziffern.
Müde reibe ich mir die schmerzenden Augen an diesem Abend. Ich ahne, dass ich diese Arbeit nicht mehr lange aufrecht erhalten können werde.
Das Hyphurion, diese dämonische Chronik, ist nicht begeistert von meinem Tun. Ich merke es an seinem Schweigen, an seiner abfälligen Sprache. Er nennt es "mein kleines Projekt". Mein "humanitäres Hobby". Dieses Buch kennt viele Worte, aus der ganzen Eisenwelt. Es kennt melerische Fachbegriffe und Poesie alter Dichter. Selbst ich, ein Gelehrter, der noch dazu lange in seiner Nähe war, muss manchmal erfragen, was ein Begriff bedeutet. Geduldig lehrt das Buch mich alles, was ich wissen will. In Bildern und Visionen, meistens, aber auch in Worten.
Es hält nicht viel davon, sich Mühe zu machen, ohne eine Leistung dafür zu verlangen. Stundenlange Arbeit, ohne den geringsten Lohn zu erwarten, obwohl diese Worte doch für Viele von großer Bedeutung sind.
Vielleicht liegt es daran, dass dieses Buch zu einem Drittel ein Dämon ist. Solche Wesen kennen nur einen Tauschhandel. Sie kamen mit dem Kometen, unter der Herrschaft ihrer Königin. Kaum mehr als ein Bewusstsein, das sich an den Schwarm klammern konnte. Schon für diese bloße Existenz verlangte Damoxtli, die Herrin der Dämonen aus den Tiefen der endlosen Schwärze des Weltalls, harte Arbeit und endlose Ehrerbietung. So hatten die Dämonen verlernt, Geschenke zu geben, einfach zu sein, einfach zu tun, ohne Auftrag. Heute ist es ihre Natur geworden, zu handeln, zu tauschen. Ein ewiges Gleichgewicht, in dem sie wohl auch ihre Reise durch das All verbrachten, denn nichts durfte dort verloren gehen.
Was mag eine solche Ewigkeit, in der nur das Selbst und der ewige Tausch existieren, mit einem Wesen anstellen? Vielleicht lerne ich allmählich, auch die fremdartigsten Lebensformen unserer Welt zu verstehen. Die Dämonen, entführt aus ihren Heimatwelten, auf einer Reise, wo der kleinste Fehltritt den Tod bedeuten konnte. Gestrandet auf einem Zwischenhalt, ihren Kopf verloren, für immer gefesselt an eine Welt, die sie verachtete.
Ja, die Reise der Damoten, wie sie damals genannt wurden, war nicht ohne Leid. Vielleicht sind sie gar nicht böse, sondern lediglich Wesen, denen unsere Moral fremd ist. Genau wie wir wollen sie nur überleben.
Ich muss gegen die Müdigkeit kämpfen. Mit tränenden, juckenden Augen versuche ich, zu lesen, was ich zuletzt geschrieben habe, um in den Gedanken zurückzukehren, den ich zuletzt hatte. Wo war ich ...?
Da rührt sich das Buch neben mir mit einem Mal. Es trägt nur eine Kette, die es an das Podest fesselt, da alle anderen Ketten meine Arbeit stören. Nie hat es zu fliehen versucht, dennoch bin ich alarmiert, als es mit einem Mal auffliegt.
Ich habe mein Versprechen an Ix-Sago nie vergessen.
Das Buch flieht jedoch nicht. Stattdessen zuckt es, beugt die beschriebenen Seiten zur Erde, wie ... ja, wie eine Katze, die ein Fellknäuel hochwürgt. Verwirrt vom eigentümlichen Verhalten meiner einzigen Gesellschaft in diesem finsteren Verließ, springe ich auf.
Da spreizt das Buch mit einem Mal seine Deckel, dann fällt etwas Großes auf die Erde.
Mit einem Stöhnen setzt es sich auf und ich erkenne ein kleines Männchen, einen Zwerg. Er ist schlank, mit hellgrüner Haut wie die Mooselfen von Dhubayaana, und Haar so violett wie Amethyst, das ihm wirr vom Kopf absteht. Tastend findet er eine große Brille und setzt sie auf. Dadurch blinzeln bernsteinfarbene Augen.
"Wo ... bin ich?", fragt er in einer Zunge, die ich nicht erkenne. Dennoch verstehe ich ihn - er muss einen Schinar tragen, oder einen anderen Sprachzauber besitzen, denn etwas daran, wie ich seine Worte begreife, fühlt sich unvertraut an.
Mit heiserer Stimme antworte ich ihm. "Akijama. In Gai-Shitori."
"Nie davon gehört." Der Zwerg runzelt die Stirn.
Seine Kleidung ist fremd. Ein helles Hemd mit ungewohntem Rundschnitt im Kragen. Eine braune Hose, gepolstert an den Knien, von allen Stellen. Stiefel mit Verzierungen wie die Orden hoher Miltärs. Ein doppelter, dünner Gürtel hält das Hemd. Neben den Stiefeln liegt ein schmales Buch mit rotem Einband. Ich bücke mich danach.
"Meine Notizen!", erklärt der Winzling, als ich die unbekannten Buchstaben mustere.
"Buchstaben. Harte, gerade Linien. Eine Schrift, basierend auf Keilschrift oder Meißelarbeit."
"Keilschrift, in Tontafeln gedrückt." Der Zwerg nimmt sein Buch wieder entgegen. "Ihr seid ein Mann der Wissenschaft!"
"Eigentlich ... bin ich Magier. Ein Chronist." Ich deutet auf das Buch, das neben uns schwebt.
Der kleine Fremde rückt mit einem überraschten Aufruf seine Brille zurecht. "Wie merkwürdig! Es ist ein lebendes Wesen, aber keines, das ich einordnen könnte!"
Ob seine Augen mehr sehen als meine oder seine Brille ihm zu neuer Erkenntnis verhilft?
Das Buch fliegt einmal nach unten und wieder hoch, eine angedeutete Verbeugung. "Ich bin das Hyphurion - Nachfahre des Maastrochus Gauros und der Damoxtli und des Schläfers!"
"Es spricht!", stellt der Fremde fest. "Drei Eltern, wie ich höre. Nun, es freut mich, Hyphurion. Ich bin ..." Er stockt, hebt die Hände zum Mund. "Ich ... ich bin ... wieso kann ich mich nicht erinnern."
"Das kann vorkommen, wenn man eine unfreiwillige Reise durch Zeit und Raum auf sich nimmt." Das Buch klingt belustigt. "Denn du hast deinen Platz in der Welt verloren, und somit auch deine Geschichte. Deinen Namen."
"Was hast du getan?", rufe ich erschrocken aus. "Was hast du ihm angetan?"
Das Buch schwebt höher, außer Reichweite meiner Arme. Unbeirrt fährt es fort: "Lass mich dir, verehrter Gast, als Entschädigung für diesen Verlust einen neuen Namen verleihen. Ein Geschenk von mir, dem Hyphurion! Von nun an sollst du bekannt sein als Todo Nitoz!"
"Ich ... es ehrt mich natürlich ...", stammelt er überrumpelt. "Dennoch würde ich es vorziehen ..."
"Vergebens!", unterbricht das Buch ihn. Es flattert mit den Seiten. "Es gibt keine Rückkehr für dich! Vielleicht, wenn du dich gut anstellst, werde ich dir einmal deine Vergangenheit zeigen, doch dieser Tag liegt noch fern."
Sprachlos sieht der kleine Zwerg auf.
"Was hast du getan?", frage ich erneut. "Nein, ich habe eine bessere Frage: Warum hast du das getan, Hyphurion?"
"Sehr gut, Chronist! Nun stellst du die richtigen Fragen. Natürlich tat ich es für dich!"
"Für mich? Ich habe sicher nicht darum gebeten, dass du eine Existenz ... auslöschst und entführst! Und dem armen Zwerg einen Namen aufdrückst, der sicher irgendeinem bösen Scherz entspringt." Ich sehe den kleinen Neuankömmling. "Es tut mir leid - ich wusste nicht einmal, dass es das kann. Geschweige denn, dass ich es im Traum erbeten hätte!"
"Es ist natürlich eine Überraschung", behauptet das furchtbare Buch mit Stolz in der Stimme. "Todo soll dir am Klemmbrett dienen. Er ist dein neuer Gehilfe! Beauftrage ihn, wie es dir beliebt. Lasse ihn deine Notizen schreiben. Wir wissen beide, dass dein Augenlicht schwindet, Chronist. Und wenn du darauf bestehst, deine Notizen zu teilen, wirst du ein neues Paar Augen brauchen!"
Einen Moment bin ich sprachlos. "Du ... du willst mir helfen?" Eine Woge eines schwindelerregenden Gefühls überspült mich. Das Hyphurion, welches nur Spott für meine Arbeit übrig hatte, hat diese merkwürdige Tat vollbracht, um mir dabei zu helfen? Wäre nicht das Leben des bedauernswerten Entführten beteiligt, ich wäre vor Rührung gewillt, das Buch zu umarmen. So kann ich nicht verdrängen, dass das Leben des kleinen Zwerges grundsächlich verändert wurde.
"Du solltest ihn nicht zu weit von mir fort senden - denn außerhalb meiner Macht kann er nicht existieren und wird zu verblassen beginnen", sagt das Buch. "Doch er ist gebildet, er wird unsere Sprache und Schrift schnell lernen und er kann ohnehin nicht zurück. Du wirst sehen, die Arbeit wird Todo Spaß machen!"
Er preist ein vernunftbegabtes Wesen wie einen Welpen. Ich wende mich an den kleinen Zwerg. "Du musst natürlich nicht arbeiten! Ich bin kein Sklavenherr. Was das Buch sagt, so fürchte ich, stimmt. Du kannst nicht zurück. Das Hyphurion ist ein mächtiges Wesen, eng mit dem Gefüge unserer Welt verbunden. Doch ich werde dir keine Pflicht auferlegen!"
"Stell dich nicht so an, Chronist!", schimpft das Buch. "Niemand vermisst ihn, er vermisst niemanden. Es ist, als hätte Todo vor diesem Tage nicht existiert. Ein schmerzloser Tod und gleichzeitig der Beginn eines neuen Lebens. Nur sein Wissen habe ich bewahrt, sein Wesen, denn er ist mit Sorgfalt ausgewählt."
"Höre, Hyphurion!", befehle ich ihm. "Ich verbiete dir hiermit, je wieder ein Wesen zu entführen!"
"Keine Sorge, Mobu Cajatoshija. Für einen weiteren Zauber dieser Art fehlt mir die Macht, und anders kann ich keine Wesen entführen, dafür fehlt mir die Stärke!" Das Buch besitzt gar die Dreistigkeit, zu lachen. "Dies war eine einzigartige Tat, so einzigartig, wie ich es bin. Wie du und Todo es seid!"
Ich schweige, seufze. Das Buch hat gewonnen. Es gibt nichts, was ich tun kann. Stattdessen sehe ich den Entführten an. "Sag, willst du einen Tee? Etwas essen?"
"Hunger habe ich keinen", erwidert mein Gast nachdenklich. "Aber einen Tee würde ich nehmen. Nur vorher eine Frage, wenn es in Ordnung ist."
"Das ist es! Es ist mehr als in Ordnung. Frage, was du willst!"
"Ich möchte mehr über das Hyphurion wissen. Ich kann sehen, dass es lebt, aber ich verstehe nicht, was es ist. Ein Dämon? Nicht nur das. Es scheint älter und mächtiger zu sein. Ich habe Götter gesehen, und sie waren schwächer!"
Beeindruckt sehe ich den Zwerg an. "Das kannst du sehen? Du musst mir sagen, wie deine Kraft funktioniert! Doch zuerst will ich dir antworten. Lass mich nur zuerst einen Tee holen. Denn das, was ich über das Buch weiß, sollten wir in Ruhe besprechen."
Todo stimmt zu. Er beginnt, sich in seine neue Rolle zu fügen, als hätte er keine großen Einwände. Stattdessen zeigt er Interesse an der Natur des magischen Buches, und bald zeigt sich, dass er mehr als begeistert wäre, seine Zeit bei der finsteren Chronik zu verbringen, um ihre Geheimnisse zu erfahren. Mir zu helfen - als Assistent, nicht als Diener oder Sklave, darauf bestehe ich - scheint ihm kein allzu schlimmes Schicksal zu sein. Immerhin, so betont er, würde sein Leben nun ohnehin an das Buch gebunden sein.
Während wir sprechen, unterbrochen nur von Pausen, in denen ich neben mehr Tee auch Speisen und Sitze hole, grübele ich über das Hyphurion. Auf seine Weise wollte es wohl ehrlich helfen. Seitdem es Todo hergeholt hat, ruht es auf seinem Podest. Was es getan hat, scheint es geschwächt zu haben. Es hat ein Opfer gebracht, um mir zu helfen. Ist das nicht die Definition eines Geschenkes? Etwas, von dem ich dachte, dass Dämonen dazu nicht fähig seien.
Doch das Hyphurion ist kein Dämon, nicht nur. Es ist geboren aus drei verschiedenen Wesen. Ein Dämon, ein Drache und eine Kreatur, die wir weder kennen noch verstehen. Auch darüber spreche ich mit Todo und stoße darauf, dass ich keine Antwort darauf weiß, was der Schläfer war. Schon Drachen und Damoxtli selbst sind ein Rätsel, doch der Schläfer ist das größte von allen.
Ich denke, nicht einmal das Hyphurion weiß es wirklich. Doch es scheint, dass wenigstens eines seiner Elemente ein gutes Herz hat. Wenn auch dieses gute Herz oft fehlgeleitet handelt. Oder, treffender gesagt, auf eine Weise, die uns böse erscheint, jedoch weniger Schaden bereitete, als es zunächst schien.
Immerhin wirkt Todo Nitoz mit seinem neuen Leben glücklich. Es gibt nichts, was er vermissen kann, kein Gefühl des Fehlens. Das ist unheimlich, aber auf eine Weise tröstlich. Der Schrecken des Todes liegt doch in Trauer und Vermissen. Dies ist das Gegenteil von Tod, ein Weiterleben ohne Abschied.
Als Todo schließlich, in einem Sessel zusammengerollt, vom Schlafe übermannt wird, trete ich neben das Buch. Zögerlich streiche ich über seinen ledernen Einband.
"Ich danke dir für deine Geste, Hyphurion."