Am späteren Vormittag waren Dallas und die anderen mit einem Landrover auf dem Weg in die Highlands. Das Briefing von Janice war irgendwie völlig an ihm vorbeigegangen und er saß noch nicht lange im Wagen, als er auch schon einschlief. Als er wieder erwachte, war kaum eine Stunde vergangen, aber die Landschaft, die sich hinter dem Wagenfenster ausbreitete, schien endlos, ohne einen Hinweis auf die moderne Zivilisation zu geben. Die Hügel waren übersät mir violetter Heide und schroffe Felsen ragten hin und wieder gen Himmel. Robert folgte einer Landstraße, die sie zu einem Wanderparkplatz im Wald führte. Von dort gingen sie zu Fuß weiter, damit Dallas Fotos vom sogenannten Black Rock Gorge machen konnte, einer tiefen Schlucht, die Teil einer örtlichen Legende war. Dallas kannte das nur zu gut. Es gab kaum einen Ort in Schottland, und schon gar nicht in den Highlands, der nicht irgendeine Spuk- oder Hexerei- Geschichte sein eigen nannte. Hier, in dem dunklen Abgrund des Black Rock, konnte man angeblich das Weinen und Klagen einer Dame hören, die der Teufel in den Abgrund gelockt hatte. Dallas gab sich die größte Mühe, das Unheimliche und Geheimnisvolle des Ortes einzufangen. Ganz einfach war das nicht, denn aufgrund der Nähe zu Inverness waren vergleichsweise viele Touristen hier unterwegs. Immer wieder musste Dallas warten, bis die anderen Besucher den Ort wieder verließen. Manchmal konnte man sie schon von Weitem hören, vor allem, wenn Kinder dabei waren. Das Wasser, das sich rauschend und reißend durch die Schlucht ergoss, war davon völlig unberührt. Janice hatte sich inzwischen mit ihrem Handy beschäftigt und warf jetzt Blicke zu Dallas herüber, die klar prüften, ob er nicht endlich genug Fotos geschossen hätte. Er war längst nicht zufrieden, aber ein fernes Donnergrollen verriet, dass das Wetter sich bald drastisch ändern würde. „Hauen wir ab, bevor wir nass werden“, schlug Janice vor, „ich habe nicht die passenden Schuhe dabei.“ Dallas grinste hinter seiner Kamera, sah aber ein, dass er das, was er zu sagen hatte, besser abends im Pub als mitten in der regnerischen Natur sagen sollte, wenn er die Zustimmung von Janice und den anderen wollte.
Sie hatten den Wagen kaum erreicht, als auch schon ein heftiges Gewitter auf sie niederging. Zum Glück hatte Janice ihnen Zimmer in einem nahegelegenen Gästehaus gebucht und sie müssten nicht bei schlechter Sicht zurück bis Inverness. Was sie allerdings mussten war abwarten, bis ihnen das Zählen zwischen Blitz und Donner verriet, dass das Wetter im Abzug war. „Auf gar keinen Fall fahren wir, wenn das Gewitter über uns ist“, fand Janice. War sie obendrein auch noch abergläubisch?
„Keine Sorge, Lassie, hier drinnen sind wir absolut sicher. So ein Landrover ist der beste Faradaysche Käfig, den du dir vorstellen kannst.“ Robert hielt das für eine gute Taktik, um sie zu beruhigen.
„Ich glaube, schlimmstenfalls schmelzen die Reifen“, setzte Tariq hinzu.
„Das ist wohl nicht das, was wir brauchen: Reifenwechsel im Wald“, bemerkte Janice leicht genervt.
Dallas fragte sich, ob das noch immer der gleiche Tag war, an dem er seinen heißen One-Night-Stand zu früh verabschiedet hatte und stimmte dann dafür, noch eine halbe Stunde zu warten. Dann sei es bestimmt sicher, zu fahren. Er hatte zwar keine Ahnung von Gewittern, aber sein einheimischer Akzent erweckte offenbar den Eindruck, als sei er ein Experte für die lokalen Wetterphänomene.
Als sie endlich das Gästehaus erreichten, wurde es bereits dunkel und so beschlossen sie, sich direkt zum Abendessen zu treffen. Direkt bedeutete im Fall von Janice, dass sie sich Zeit ließ, um zu duschen und sich komplett umzuziehen. Die anderen warteten mehr oder weniger geduldig auf sie. Robert schien am wenigsten beeindruckt. „Macht euch nichts draus, Laddies, das Warten auf eine Frau lohnt sich immer“ Er zwinkerte Tariq vertraulich zu und knuffte Dallas vergnüglich mit dem Ellenbogen in die Seite. „Du hast davon ja keine Ahnung, aber es ist so.“ Dallas grinste höflich über den Spaß. Offensichtlich hatte Robert keine Ahnung davon, dass sich das Warten auf einen Mann durchaus auch sehr lohnen konnte, aber anstatt zu antworten wunderte er sich darüber, ob der Fahrer es selbst bemerkt oder ob er mit Tariq gesprochen hatte. Er bestellte sich noch einen Tee. Als Janice kam, schien sie regelrecht Applaus zu erwarten, entweder für ihr Auftreten an sich, immerhin hatte sie es geschafft zu kommen oder für das gewechselte Outfit – Dallas war wieder einmal schleierhaft, warum er trotz drei Schwestern so wenig über Frauen verstand. „Wow!“, hörte er Tariq staunen. Etwas übertrieben vielleicht. „Da hat sich das Warten aber gelohnt“, kam es von Robert, dem Schlaumeier. Dallas räusperte sich, ihm war klar, dass er etwas sagen musste. Stattdessen kam sie ihm zuvor. „Ich dachte mir, dass es dir bestimmt gefällt, wegen dem Schottenkaro!“ Sie strahlte ihn direkt an. Fuck. Tariq hatte recht, sie stand auf ihn und war offenbar die Einzige, die noch nicht bemerkt hatte, dass Dallas auf Männer stand. Und überhaupt: Schottenkaro. „Tartan, nennen wir das hier“, war das erste Sinnvolle, was ihm einfiel.
„Wow, das klingt elegant!“, flötete sie.
Was konnte er tun? Nichts im Augenblick. Vielleicht würde sich alles von selbst klären, wenn er bei nächster Gelegenheit das Zimmer neben Janice nahm und wieder einen Typen aufriss. War sie eigentlich taub? Dallas beschloss, es erstmal gehen zu lassen. Da war etwas Anderes, was ihm jetzt wichtiger war und so sprach er es an, nachdem sie die Fotos des Tages angeschaut hatten. „Hört mal, ich würde gern von den vorgeplanten Routen und Orten etwas abweichen.“
Allen dreien stand gleichzeitig dieselbe Frage im Gesicht geschrieben, also sprach Dallas weiter. „Die ausgesuchten Locations sind ganz gut und schön, aber ich würde gern auch andere Orte finden, ohne viele Touristen, an denen noch kein Film gemacht worden ist. Ich finde, wir sollten erledigen, was auf dem Plan steht, aber auch noch mehr auschecken. Ist mir nicht genug, wenn die Leute 'nen Film sehen und denken, ‚ah ja, da war Mel Gibson in Braveheart' oder 'yeah, das kenn ich doch aus Harry Potter‘, versteht ihr?!“
Robert nickte als Erster. Janice ergriff das Wort. „Du willst dich in den Highlands auf eigene Faust herumtreiben?“
„Nicht ganz. Ich möchte von den vorgesteckten Zielen abweichen. Hier und da was anderes sehen und fotografieren. Neue Drehorte finden.“
„Wir haben einen Zeitplan“, gab Tariq zu bedenken.
„Der Zeitplan ist von mir. Ich könnte ihn ändern“, schlug Janice vor. Ohne Zweifel verdankte Dallas diesen Beistand seiner unbeabsichtigten Wirkung auf sie.
„Die Route ist von mir“, fiel Robert ein. „Die ist nicht sowas wie ein geschriebenes Gesetz.“
„Dann sind wir uns einig?“, schloss Dallas. Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Die anderen bejahten.
„Wir können morgen früh beim Briefing überlegen, was wir noch machen wollen“, schlug Janice vor.
„Schön! Ich danke euch.“ Dallas strahlte. Er hatte gehofft, dass sie ihm zustimmten, aber sicher war er nicht gewesen.
„Kein Ding, Sunny. Ich glaube, wir freuen uns alle auf ein bisschen Abenteuer.“
Nach Roberts letzten Worten, gingen alle in ihre Zimmer und angesichts der letzten schlaflosen Nacht schlief Dallas schnell ein. Während er schlief, fiel ein weiterer Regenguss herab, doch er schlief so tief und fest, dass er die schweren Tropfen am Fenster nicht bemerkte. Der Schauer hatte sich seit Stunden weiter nach Norden verbreitet, dorthin, wo die Highlands einsamer und weit unwegsamer waren. Dort fiel der Regen, zusätzlich durch Wind getrieben, der nachts über die Hochebenen stürmte. Er hämmerte an Fenster und Türen und prasselte auf Heide und Felsen. An einem der Fenster schaute jemand zu, wie der Sturm und der Schauer über das Land fegten, das man vom Fenster aus sehen konnte. Weit hinten erkannte man die aufgepeitschten grauen Wellen im Loch Lanark. Durch dichte Wolken war kein Himmel, kein Mond sichtbar, aber es gab keinen Zweifel daran, dass der nächste Vollmond bald bevorstand. Der Mann am Fenster blickte in die Ferne, so als wären seine Augen in der Lage, die Dunkelheit und das Unwetter zu durchdringen, wenn er nur länger starrte. Das alte Fenster ächzte und der Wind pfiff durch die Ritzen des alten Rahmens. Dort, wo ihn der Wind traf, fröstelte ihn. Er spitze unwillkürlich die Ohren, so als warte er darauf, irgendetwas im Wind zu hören. Er kniff die Augen zusammen, als könnte er dann irgendetwas sehen. Seine Augen waren besonders gut, gerade nachts, aber das waren wohl nur Hirngespinnste.