Wenn die alten Leute davon redeten, das früher alles besser war, redeten sie meistens von einer idealisierten Kindheit in der festen Überzeugung bessere Kinder gewesen zu sein, als die eigenen Nachfahren. Sie redeten davon, wie viel schwerer sie es gehabt hatten, aber dass sie dennoch mit dem wenigen, das sie gehabt hatten zufrieden gewesen waren, dass sie nicht permanent so ausgesehen hatten, wie drei Tage Regenwetter.
Kyras Mutter war Weltmeisterin darin so zu reden. Gerade hielt sie wieder so eine Predigt. Eine Predigt die viel „Lächele doch mal“ beinhaltete. Und: „Du findest halt auch keinen Freund, wenn du so dreinschaust.“ Dann hielt sie inne und fügte hinzu: „Oder eine Freundin.“
Kyra seufzte. Warum war sie noch einmal hierhergekommen? Ach ja. Sie brauchte Geld. Mit nur zwei Aufträgen im letzten Monat konnte sie die Miete nicht bezahlen. Dabei hasste sie nichts mehr als ihre Eltern um Hilfe zu bitten. Sicher, wäre es nur ihr Vater gewesen, dann hätte sie nicht gezögert. Doch da war auch ihre Mutter. Ihre Mutter mit ihrer Predigt und der gefürchteten Frage: „Hast du mal wieder mit Molly geredet?“
Jetzt schürzte Kyra die Lippen. Um ihre Antwort zu verzögern nippte sie an dem Tee, den ihre Mutter zu dünn gekocht hatte. Schließlich aber war sie zur Antwort gezwungen: „Nein.“
Stille, dann ein schweres Seufzen. „Weißt du. Ich denke, wenn ihr miteinander reden würdet, könntet ihr das Ganze auch klären“, meinte ihre Mutter.
Sie hatte gut reden.
„Es gibt nichts zu klären“, erwiderte Kyra. „Molly hat mit mir Schluss gemacht. Ihr war die Beziehung halt einfach zu viel.“ Wenigstens musste sie sich jetzt nicht mehr anhören, wie furchtbar ihre Unordnung doch sei. Warum versetzte die Erinnerung an Molly ihrem Herz dennoch einen Stich?
Bevor ihre Mutter etwas erwidern konnte, räusperte sich Kyras Vater. „Lass sie sich doch um ihre eigenen Dinge kümmern, Liebling“, meinte er in seiner beruhigendsten Stimme.
„Ich meine ja nur!“, warf Kyras Mutter wieder ein.
„Du hast schon alles gemeint“, erwiderte ihr Vater und lächelte besänftigend, während er seine Hand über die seiner Frau legte.
Kyra schwieg. Sie konnte diese Sehnsucht nach den „Alten Tagen“ insofern verstehen, dass die Dinge in ihrer Kindheit irgendwie einfacher gewesen waren. Damals hatte sie sich nicht um irgendeine Miete kümmern müssen. Wenn sich ihre Mutter wegen irgendetwas beschwert hatte, war sie halt auch nur wie so viele andere Mütter gewesen. Und wenn ihr Vater daheim war, waren sie gemeinsam wandern gegangen. In den Trossachs. In die Highlands. Auf der Isle of Skye. Sie hatten so viel gemeinsam gemacht – und ohne ihre Mutter, die in einem Zelt nie auch nur ein Auge zubekam.
Das waren die guten Zeiten gewesen.
Aber selbst die Zeit zu Beginn von ihrem Studium war ja noch okay gewesen. Damals hatte sie ein Ziel gehabt. Und jetzt?
Jetzt hatte sie Watson. Wenigstens etwas. Und ausnahmsweise benahm Watson sich sogar. Er saß neben ihrem Stuhl, hechelte, während sein Blick immer wieder zwischen ihr und ihrem Vater hin und her wanderte – in der vagen Hoffnung vielleicht einen Haferkeks abzustauben.
Sie vermisste auch die Zeit mit Molly, als sie gerade zusammen gewesen waren. Als Molly sie noch respektiert hatte. Oder die Zeit mit Sammy, bevor die nach Oxford gezogen ware. Einfach eine Zeit in der sie weniger allein gewesen war.
Doch nichts vermisste sie so sehr wie die Wanderungen mit ihrem Vater. Etwas, das sie nie zurückbekommen würde. Nein. Sie vermisste vor allem ihren alten Vater. Den Vater, mit dem sie gemeinsam etwas machen konnte. Der Vater, der mit ihr wandern war. Der Vater, der nicht im Rollstuhl saß und nicht seine ganze Zeit damit verbrachte, irgendwelche Modellwelten in seiner Garage nachzubauen. Den Vater, der dieses Leuchten in den Augen hatte, wenn er sie ansah.
Ein Leuchten, das wahrscheinlich mit dem Teil seines Beins in Afghanistan geblieben war.
Und jetzt war sie hier – nicht, weil sie es sein wollte. Denn selbst wenn es in Edinburgh wenig zu tun gab, war die Einsamkeit ihres Arbeitszimmers dem strafenden Blick ihrer Mutter und der seltsamen Leere in den Augen des Vaters zu bevorzugen.