Kleine Warnung: Diese Geschichte spielt in Shicyrtera, einer Welt aus meinem unveröffentlichten Hauptwerk (kurz: E.G.E.L.). Es wird etwas verwirrend sein, weil in dieser Welt Magie zur natürlichen Evolution gehört. Aber keine Angst, der Wahnsinn ist unter Kontrolle ...
"Rothorn! Rothorn!" Die Herde lachte. Alle lachten. Nicht nur die anderen Jungtiere, die den Sprechgesang anstimmten, sondern auch deren Eltern. Sie zogen einen Kreis um das Tier, dessen Fellfarbe so aus dem gelb-braun der anderen Wesen hervorstach.
"Was ist passiert, Rothorn? Hast du dir wehgetan?"
"Ich heiße nicht Rothorn!", rief der junge Bulle im Ring wütend. Sein Blick strafte seinen Zorn Lügen: Verzweifelt suchte er in den Gesichtern der ihn umkreisenden nach dem mitleidigen Blick seiner Eltern, wohl wissend, dass sie nun fort waren, dass der große, schuppige Räuber sie ihm genommen hatte, und so füllten sich seine Augenwinkel mit Tränen.
"Rothorn! Rothorn!"
Der Bulle schloss die Augen, stieg auf die langen Hinterbeine und schlug mit den Vorderbeinen aus. Lachend wichen die anderen der hilflosen Geste aus. Den langen Hals nach vorne gebeugt stürmte der Bulle aus dem Ring. Nur das Gelächter der Herde folgte ihm hinaus auf die weiten, gefährlichen Wiesen des Sturmtals. Niemand holte ihn zurück oder warnte ihn, sie alle lachten nur und bestätigten einander nickend, dass der Außenseiter noch vor dem nächsten Morgen tot sein würde.
Er rannte bis in den Abend. Als es ringsum dunkel wurde, verlangsamten sich seine Schritte. Aus großen Augen sah das Jungtier sich um. Wind fuhr über das gelbliche Steppengras. Am Horizont stapfte eine schwerfällige Gestalt entlang. Vier Beine. Ein Wesen, das ihn nicht jagen würde.
Irgendwo erklang ein Keckern. Der junge Bulle wirbelte herum. Seine Ohren hinter den Hörnern zuckten. Seine schlanken Beine zitterten. Er wusste, dass die erwachsenen Bullen mit den Hufen ausschlagen und mit den langen Hälsen kämpfen konnten. Doch er selbst hatte das niemals gelernt. Andere Jungtiere übten sich im spielerischen Kampf, doch niemand hatte mit ihm spielen wollen, aus Angst, dass seine rote Fellfarbe oder die schwarzen Flecken darauf abfärben konnten.
Wieder das Keckern. Es war näher gekommen. Von der anderen Seite erklang ein Zischen, wie von einer Schlange, nur lauter. Mit zuckenden Ohren und Schweif drehte sich der junge Ausreißer um die eigene Achse. Das Gras, das ihm gerade zu den Knien reichte, verbarg die Angreifer perfekt. War es wirklich der Wind, der die Halme um ihn herum schüttelte?
Dann wurde es still. Totenstill. Die Augen des Jungtiers weiteten sich und er rannte instinktiv los. Seine dunklen Hufe griffen in das weiche Erdreich. Er spürte einen Windzug am Rücken, als ein springender Angreifer ihn knapp verfehlte.
Keuchend lief der Bulle weiter. Es wurde zu dunkel, um den Boden zu erkennen. Doch anzuhalten, das bedeutete den sicheren Tod. So kannte das Tier blind vorwärts, immer den Atem der Verfolger im Ohr. Heiße Tränen der Verzweiflung rannen aus seinen Augen. Die weichen Tritte der Jäger kamen näher. Ihr Knurren und Fauchen wurde immer lauter. Zähne schnappten nach seinen Fersen. Krallen kratzten über seine Seite. Aus dem Augenwinkel sah er dunkle Schatten, niedrig am Boden auf zwei Beinen rennend, mit leise flatternden Federn.
Der Wind wurde stärker und blies jetzt von hinten in die kurze Mähne des Flüchtenden. Der Wind peitschte das Gras nieder und offenbarte die huschenden Monster. Sie schienen selbst zu fliegen, ihre schlanken Körper mit den langen, gefiederten Schwänzen blieben nahezu regungslos über den trommelnden Füßen. Die Vorderklauen hatten sie ausgestreckt und ihre großen, kalten Augen reflektierten das letzte Tageslicht.
Eine gewaltige Klaue schloss sich um den kurzen Rumpf des jungen Säugetiers. Im nächsten Moment drückten die drei kräftigen Krallen gegen seinen Bauch und seine Hufe verloren den Kontakt zum Boden. Wild zappelnd schrie der junge Bulle um Hilfe, schlug mit den Beinen aus und warf den Kopf hin und her.
"Beruhige dich", sagte eine warme Stimme.
Das gefangene Tier erstarrte. Es gehörte sich nicht, mit seiner Beute zu sprechen. War er etwa in Sicherheit? Die frustrierten, kehligen Rufe der am Boden zurückgebliebenen Jäger schienen das zu bestätigen. Was auch immer ihn gerettet hatte, war groß. Die letzten Sonnenstrahlen ließen goldenes Gefieder erstrahlen.
"Sprichst du die gemeinsame Tiersprache?", fragte der große Vogel.
Das Jungtier schnaubte. Nein, nur verstehen konnte er sie, wie jedes Lebewesen der vier Täler.
"Keine Sorge. Ich verstehe auch die Zunge deiner Art. Ich spreche viele Sprachen."
"Du ... du bist ein Sonnenadler!", stammelte der junge Bulle. "Ich dachte, euch gibt es nicht mehr!"
"Das stimmt auch. Nur ich bin noch übrig." Der große Adler stellte die Schwingen leicht um und ging in eine Kurve. "Und nun sag mir: Wie ist der Name deiner Herde. Ich bringe dich zurück."
"Nein!", rief das Jungtier aus. "Nicht dorthin! Bitte!"
Verwundert stabilisierte sich die große Adlerfrau und reckte den Kopf nach unten, um ihren Schützling an dem großen Schnabel vorbei scharf anzusehen. "Und wo möchtest du dann hin? Soll ich dich wieder zu den Raptoren setzen?"
"Nein! Aber ... die Anderen hassen mich!" Das Jungtier schniefte und kämpfte gegen die Tränen, dann sprudelten sie aus ihm heraus. "Sie lachen mich aus, weil ich rot bin und jetzt wurden meine Eltern gefressen und niemand ist mehr da, der noch nett zu mir ist! Vermutlich ist es sowieso besser, die Raptoren fressen mich!"
"Wie kannst du so etwas sagen?", rief der Sonnenadler erstaunt aus.
"Es gibt doch in allen vier Tälern keinen Platz für mich." Das Jungtier schluchzte und ließ dann den Kopf hängen. "Niemand wird mich vermissen. Ich gehöre nicht dazu."
Schweigend flog der Adler weiter. Nur der Wind in ihren Schwingen war zu hören. Schließlich drehte sie wieder und flog zurück.
"Was ... was hast du vor?", piepste der Bulle ängstlich.
"Ich werde dich nicht wieder absetzen, keine Angst", beruhigte der Sonnenadler ihn. "Es muss schwer sein, für ein Herdentier, nicht in die Herde zu passen. Weißt du - auch wie Sonnenadler sind keine Einzelgänger. Früher waren wir in großen Schwärmen unterwegs. Unsere Schwingen haben den Himmel nicht verdunkelt, sondern das Licht der Sonne tausendfach zur Erde geworfen. Doch nun bin nur noch ich übrig. Selbst die Drachen haben sich zum ewigen Schlaf begeben." Ein leises Seufzen entwich dem großen Schnabel. "Ich denke, wir Außenseiter müssen zusammenhalten. Bilden wir unseren eigenen Schwarm. Unsere eigene Herde. Was hältst du davon?"
Hoffnungsvoll sah der junge Bulle zu ihr auf. "Das klingt wunderbar! Wir sind vielleicht nur zwei, aber das ist besser, als alleine zu sein."
"Oh, ich denke, dass es noch viele andere Außenseiter gibt", sprach die Adlerfrau. "Wenn ich hoch genug fliege, kann ich bis zu den Randbergen sehen, und in jedes der vier Täler dazwischen. Es gibt viele, die so allein sind wie wir."
"Wirklich?" Der Jungtier stellte die Ohren auf.
"Aber sicher." Mit ruhigen Flügelschlägen stieg der Adler etwas auf. "Äußerlich mögen sie anders aussehen, doch im Herzen sind die Außenseiter gleich. Für sie alle gibt es keinen Ort in Shicyrtera."
"Außenseiter ...", murmelte der junge Bulle. "So, wie du es sagst, klingt es genauso machtvoll wie 'Drache' oder 'Sonnenadler'!"
Der Adler lachte. "Das liegt vielleicht daran, dass ich ein Sonnenadler bin. Übrigens, Fai ist mein Name. Und wie nennt man dich?"
Der junge Bulle überlegte kurz. "Rothorn."
"Das ist ein schöner Name. Machtvoll. Wie gemacht, für einen der ersten Außenseiter."