Warnungen: Panikzustände, Depression, Selbstverletzendes Verhalten, Suizidgedanken
Langsam, wie in Zeitlupe, bewegte sie sich, bahnte sich den Weg durch die Menschenmenge am Bahnsteig. In ihrem Kopf breitete sich Panik aus, weil zu viele Menschen um sie herum waren. Ihren Körper ohne ihre Zustimmung berührten und sie aus der Balance brachten, die sie sich in den letzten Wochen so mühsam erkämpft hatte.
Ihre Brust fühlte sich eng an. Ihr Herz raste und sie atmete so schnell ein und aus, dass ihr Sichtfeld sich einengte und schwarze Punkte vor ihren Augen tanzten. Sie wusste, sie musste runter vom Bahnsteig und einfach weg von Menschen, bevor die Panikattacke zu schlimm wurde.
Die Zähne zusammen beißend drängelte sie sich zur Treppe und hastete diese so schnell es ging herunter. Links herum würde es in Richtung Innenstadt gehen. Da wären zu viele Menschen. Also drehte sie rechts herum ab und ging schnellen Schrittes, getrieben von ihrer Panik, in Richtung Park and Ride Parkplatz und Industriegebiet davon.
Nachdem sie den Bahnhof hinter sich gelassen hatte, dünnte sich die Menschenmenge aus und niemand drängte sich mehr an sie heran. Ihr Atem ging immer noch ein wenig schneller als normal, aber nun lag es daran, dass sie fast rannte und das war sie nicht gewohnt.
Sport war Mord und sie hasste jegliche Form von körperlicher Betätigung, aber ihr Kopf trieb sie voran, bis ihr Körper nicht mehr mithalten konnte und sie auf einem alten Ascheplatz auf dem schon Sträucher und Unkräuter wucherten zu Boden ging.
Sie schürfte sich die Knie und Hände auf. Die Asche brannte in den Wunden, aber sie hieß den Schmerz willkommen. Er zeigte ihr, dass sie noch lebte, dass da noch mehr in ihr steckte als Panik und dieses tote Gefühl in ihrer Brust, dass sie durch den Alltag begleitete.
Jeder Tag war für sie eine Qual. Schon am Morgen die Augen zu öffnen, wenn der Wecker um sechs in der Früh ging, war eine Herkulesaufgabe, die sie nur mit viel Mühe meisterte.
Frühstücken tat sie nur, weil ihr von klein auf eingebläut worden war, dass man ohne Essen das Haus nicht verließ. An den meisten Tagen hieß das, dass sie eine trockene Scheibe Toast verzehrte und ein Glas Wasser oder Tee trank, bevor es in Richtung Arbeit losging.
Arbeit … noch so eine Tretmühle, die ihr das Leben schwer machte. Ihr Job forderte sie nicht so, wie sie es benötigte und jeglicher Versuch in eine andere Abteilung zu wechseln wurde mit fadenscheinigen Ausreden geblockt.
Sie wusste, woran es lag. Sie war klein, moppelig, dunkelhaarig und trug eine Brille. Ihre Vorgesetzten aber wollten eine schlanke Blondine mit großen Brüsten im Kundenkontakt. Aussehen zählte für sie mehr als Kompetenz und so war sie in der Beschwerdeabteilung gefangen und musste sich den ganzen Tag am Telefon oder per E Mail beschimpfen lassen für Dinge, die sie nicht einmal ansatzweise ändern konnte.
All das nagte an ihr und ließ ihr ohnehin schon nicht gerade sonniges Gemüt weiter in Richtung Dunkelheit, Depression wandern. Sie hatte keine Freude an ihrer Arbeit. Freunde hatte sie auch kaum. Zumindest keine, die in ihrer direkten Umgebung lebten, so dass man sich einfach mal auf einen Kaffee treffen konnte.
Nein, Treffen mit ihren Freunden erforderten monatelange Planung, nur um dann kurz vor knapp zunichte gemacht zu werden, weil sie dann doch arbeiten musste. Immerhin hatte sie ja keine Familie, keine Freunde. Da konnte sie doch für Kollegin ‘hier beliebigen Namen einfügen’ einspringen, weil da doch die Cousine vom Onkel ihrer Tante dritten Grades Geburtstag hatte und sie unbedingt dabei sein musste.
Da sie ihren Job brauchte, sagte sie natürlich nicht nein. Also hatte sie kaum soziale Kontakte. Der Kontakt zu ihrer Familie war auch nur sporadisch, da diese ihr ständig Vorwürfe machte, weil sie ihr Potential nicht so ausschöpfte, wie es sich in ihren Augen gehörte. Sie wäre zu höherem berufen, wurde ihr immer gesagt. Daran glauben tat sie allerdings schon lange nicht mehr.
Während diese Gedanken durch ihren Kopf jagten, drehte sie sich langsam auf den Rücken und starrte hinauf in den Himmel, sah zu wie zwei Schwalben einander durch die Wolken jagten, die vom Wind über das leuchtende Blau getrieben wurden.
Der Anblick sollte sie eigentlich erfreuen, aber sie konnte sich nicht einmal ein müdes Lächeln abringen. Alles war einfach nur dunkel in ihrem Inneren und während sie so da lag und einfach nur atmete, fragte sie sich, weshalb sie nicht einfach Schluss machte.
Die Bahntrasse auf welcher der ICE fuhr, war nicht weit entfernt. Nur ein Schritt, wenn der Zug nahte, und alles wäre vorbei. Oder sie könnte eine Überdosis Tabletten nehmen. Oder vielleicht doch zum Messer greifen.
Früher, als sie noch zur Schule ging, da hatte es ihr auch geholfen ihren Schmerz nach Außen zu tragen. Wenn sie blutete, tat ihr Herz nicht mehr so weh. Und wenn der körperliche Schmerz nachließ und ihre Seele wieder begann zu bluten, dann kam halt ein weiterer Schnitt dazu oder eine weitere Zigarette war schnell auf ihrer Haut ausgedrückt. Hauptsache ihr Kopf schwieg für eine Weile und gab ihr die Gelegenheit ihre Gedanken und Gefühle zu sortieren und in eine Ordnung zu bringen mit der sie leben konnte.
Je älter sie wurde, desto weniger half der körperliche Schmerz und sie hatte es fast vollständig aufgegeben in ihm ihr Heil zu suchen. Stattdessen schrieb sie sich ihren Frust, die Gedanken, die Depression von der Seele.
Aber an Tagen wie heute, da sehnte sie sich nach der vollkommenen Erlösung von ihren Qualen. Da war nur eine Sache, die sie noch im Hier und Jetzt hielt.
Der Mann, den sie liebte. Ohne ihn, da war sie sich sicher, würde sie die endgültige Erlösung suchen. Aber dieser Moment war Gott sei Dank und gleichzeitig auch leider verdammt weit entfernt.
Ein kleines Lächeln zuckte über ihr Gesicht. Ihre Atemzüge wurden ruhiger und sie dachte daran, was die Zukunft wohl bringen würde.
Würden sie heiraten? Ein Kind bekommen? Oder würden sie mit fünf Katzen und einem Hund in einem kleinen Haus wohnen?
Sie wusste es nicht, aber die Gedanken gefielen ihr und auch, wenn die dunklen Gedanken nicht verschwunden waren, so gaben ihr die Gedanken an die Zukunft ihr doch die Kraft sich aufzurappeln, die Asche von ihren Kleidern zu klopfen und sich auf den Heimweg zu machen.
Daheim würden ihre körperlichen Wunden mit Pflastern und die seelischen mit viel Liebe versorgt werden und vielleicht war das ja in sich selbst schon die Erlösung, die sie suchte.
Sie war vor ihrer Nase und sie hatte sie einfach nicht gesehen.
Mit diesem Gedanken humpelte sie von dannen.
Ließ den Ascheplatz und die Gedanken an den Tod hinter sich.
Zumindest für diesen Tag.
~Ende~