„Wetten, dass Simone heute richtig durch die Decke geht?“ Klaus lächelte allwissend Michael an.
Doch der zuckte nur mit den Schultern. „Warum sollte sie das tun?“
„Heute ist der erste Arbeitstag im Dezember und Simone hasst Weihnachten. Da ist sie nicht nur die typisch arrogante und nie zufriedene Chefin, da ist sie ein Tyrann. Wir werden gleich alle einen Anschiss bekommen und sie wird derart durch die Decke gehen, dass sie eine Mondlandung hinlegen könnte.“
Jeder kannte Simone, sie war einfach nur hart. Hart zu ihren Mitarbeitern und noch härter zu sich selbst. Niemand hat sie je lachen gehört, doch sie schaffte es mit ihrem militärischen Stil Ergebnisse hervorzubringen wie in keiner anderen Abteilung. Michael ahnte das zwar schon bei dem Vorstellungsgespräch, dass er vor ein paar Monaten erst hatte, doch er ließ sich dadurch nicht beirren. Die Aufgabe war viel zu interessant, um die Stelle wegen einer wüsten Chefin nicht anzunehmen. Vielleicht lag es aber auch daran, dass er sich von so etwas nicht kirre machen ließ; er konnte Probleme gerne bei anderen lassen.
Pünktlich zum Meeting-Beginn flog die Tür auf, Simone stürmte herein, und schlug die Tür hinter sich so laut zu, dass man den Beginn dieses Meetings wohl im ganzen Haus mitbekam.
„Wenn der Dezember nicht doppelt so gut wird, wie die Monate zuvor, dann werden wir unsere Ziele nicht erreichen, meine Damen und Herren!“ brüllte sie in den Raum. „Was glaubt ihr, macht ihr hier? Däumchen drehen? Facebookstatus aktualisieren? So nicht!“ Es folgte eine zehnminütige Tirade in einem Mix aus Beschimpfungen, Vorwürfen und weiteren Arbeitspaketen, die auf die ohnehin schon vollen Schreibtische der Mitarbeiter schier geworfen wurden. Sie endete mit: „Und heute gibt es keine Fragen. Rennt endlich an die Arbeit, warum habt ihr noch nicht angefangen?“ Wutentbrannt rannte sie raus.
Klaus beugte sich grinsend zu Michael rüber und flüsterte ihm zu: „Stille Nacht, heilige Nacht!“
Noch bevor die Tür hinter ihr zuflog rief Simone: „Ich kann dich hören, Klaus!“
„Ups“, kommentierte Michael. Doch Klaus winkte ab: „Ein bisschen Kontra muss man ihr doch geben.“
„Wann hattest du denn deine letzte Gehaltserhöhung?“
„Mmh, ist jetzt auch drei Jahre her.“
„Ich würde mir das ja überlegen.“ Mit diesem Satz stand Michael mit den anderen im Raum auf und ging zurück an seinen Schreibtisch. Es war das erste Mal, dass er doch ganz leicht von so einer Rede betroffen war. Deshalb war es das erste, dass er Mario anrief: „Schatz, ich fürchte, es wird heute später werden. Und wahrscheinlich der Rest des Dezembers auch, hier sind gerade Überstunden angesagt.“
„Du weißt aber schon, dass wir heute Abend mit unseren Nachbarn in die Fata Morgana gehen.“
„Ach herrje, das habe ich ganz vergessen.“ Es war in ihrem Haus bereits zur Tradition geworden, dass sich die Nachbarn am ersten Montag im Dezember trafen, um auf das vergangene Jahr anzustoßen und mit Hilfe von Sprüchen aus Glückskeksen lustige Vorhersagen für das neue Jahr machten, bevor der Weihnachtstrubel sie alle in die Hektik einsog. „Ich komme dann direkt von Arbeit hin.“
„Ist ok, ich bring die Glückskekse mit. Bis später!“
„Ja, bis heute Abend.“
Michael war gerade gar nicht in der Feierlaune, doch das würde kommen, wenn Mario ihn in seine Arme nahm. Dann war die Welt in Ordnung, ganz gleich, was tagsüber passierte. Heute würde die Umarmung etwas länger dauern müssen, doch er wusste, dass er spätestens dann wieder runterkam und sich seinem Mann und den Nachbarn mit Freude widmen konnte.
* * *
Der Tag verlief schneller und besser als gedacht, als Michael am Abend das Licht im Büro ausschaltete. Vielleicht war es die Vorfreude, die ihn einfach arbeiten ließ, ohne sich zu viele Gedanken über Simones Führungsstil zu machen. Erstaunlicherweise war in ihrem Büro das Licht auch schon aus. Damit hatte er nicht gerechnet. Wahrscheinlich schaute sie sich die Stechuhr-Protokolle an, um zu sehen, wer wie lange gearbeitet hatte. Wenn sie doch nur verstehen würde, dass langes Arbeiten auf Dauer keine Lösung ist. Aber was soll’s: Er würde auf sich Acht geben, das musste genügen.
Er fuhr in die Innenstadt, parkte und ging zur Bar „Fata Morgana“. Er schaute sich in dem großen Gastraum um und erkannte schließlich seine Nachbarn. Mit einem Lächeln auf den Lippen begrüßte er die anderen, als er plötzlich von hinten umarmt wurde: „Junger Mann, Sie sehen hübsch aus, darf ich Sie heiraten?“
Die Stimme Marios löste in Michael Glücksgefühle aus. „Guter Mann, was ist, wenn ich in festen Händen bin?“ scherzte er zurück.
„So fest wie meine können die gar nicht sein!“ Dann drehte er Michael zu sich und sie begrüßten sich mit einem Kuss. Die Frauen am Tisch kommentierten das mit einem „Ooooooh, wie süß!“
Als sie saßen fragte Maria von unten links, ob sie nicht doch irgendwann auch mal heiraten wollten. Mario und Michael schauten sich lächelnd an, doch Mario sagte nur: „Mal sehen, was uns die Glückskekse vorhersagen!“
„Ja richtig, die Glückskekse kommen ja noch.“
Ein Kellner kam und nahm die Bestellung auf: Kleinigkeiten zum Essen und natürlich die Cocktails. Der Abend war, wie jedes Jahr, lustig und sie erzählten sich all die wunderbaren Erlebnisse, die im Alltag nicht einmal auf dem Flur ausgetauscht werden konnten. Schließlich kamen die Glückskekse an die Reihe und einer nach dem anderen las seine Glücksnachricht für das kommende Jahr vor. Marios Spruch war: „Liebe ist ein Verb“, was er sogleich in die Tat umsetzte und Michael einen Kuss gab.
Michael wiederum las vor: „Ein Vogel mit einem Ring, mag nicht ganz so frei sein, doch er ist wertvoll.“ Worauf sofort jemand „Hochzeitsglocken!“ rief und alle lachten. Michael schaute Mario kurz an, der nickte, und Michael sprach dann in die Runde: „Wir heiraten wirklich nächstes Jahr im August!“ Spätestens jetzt war die Stimmung an diesem Tisch die beste in der ganzen Bar.
Ganz anders war der Abend für eine Frau mittleren Alters, die sich an der Theke beschwerte, dass der Long Island Ice Tea nicht richtig gemischt war. Doch der Kellner meinte nur: „Trink ab“, was sie auch tat.
„Und, was fehlt jetzt?“
„Tequila und Wodka.“
Er schenkte beides nach, reichte das Glas zurück, doch bevor er es losließ, warnte er: „Aber wehe du kotzt!“ Dann lachte er auf und überließ die Frau mit ihrem sorgenvollen Gesicht wieder sich selbst.
Es war später als in den Jahren zuvor, dass die Nachbarn den Abend beendeten. Michael ging noch mal auf die Toilette, als er an der Theke eine Frau sah, die sehr bekümmert aussah. Er musste zweimal hinschauen, um Simone zu erkennen. Als er von der Toilette zurückkam, verabschiedeten sich alle und schob Mario vor sich her an die Theke: „Meiner Chefin geht es nicht gut.“
„Du meinst der Furie?“
„Ja, aber ich bin ja kein Unmensch.“
Mario verdrehte die Augen: „Also gut, lass uns kurz mit ihr reden.“
Sie winkten den anderen noch hinterher, als diese gerade gut gelaunt die Fata Morgana verließen. Als sie zu Simone schauten, versuchte sie gerade den Barkeeper anzulallen: „Du hast..“ stotterte sie, „du hast ja sowas von keine Ahnung hübscher Mann. Machst hier nur deine Cocktails, doch das echte Leid, das sitzt doch hier.“ Unflätig rülpste sie. Sie hatte sich kaum noch im Griff.
Michael ging auf sie zu: „Hallo Simone!“ Der Kellner konnte die Erleichterung in seinem Gesicht nicht verbergen.
„Was du hier?“ Dann sah sie Mario an: „Oh, und wer issn das?“ Flirtete sie etwa?
„Das ist mein Freund, Mario.“
Sie rümpfte die Nase. „Nisch schon wieder.“
„Was schon wieder?“ Doch er bekam keine Antwort.
„Männer, alle gleisch!“ Mit der Handbewegung, die sie dazu machte, hätte sie beinahe die halbe Theke abgeräumt. „Benehm’n sisch doch alle wie a Sohn ner Hure.“ Was um alles in der Welt war nur mit ihr los? Der Alkohol enthemmte sie wohl endgültig. „Du kommschd in unsa Firma, machschd einen auf lieb unn brav. Und dann sägschd am Ende an meim Stuhl? Du Schwein!“ Die letzte Beschimpfung war so laut, dass der Barkeeper aufblickte und zu erkennen gab, dass Simone nicht mehr erwünscht ist. Michael gab ein Zeichen der Beruhigung.
„Wie wäre es, wir bringen dich nach Hause.“
„Das kann isch no allein!“ Sie stand auf, um zu gehen, stolperte jedoch direkt in die Arme Marios. Sie schaute ihn an und ihre Worte ließen Schlimmes erahnen: „Mann, isch mir bäh.“
„Ist alles bezahlt?“ fragte Michael den Kellner, der nickte. Dann versuchten sie mühevoll, Simone in ihre Jacke zu stopfen, was nach mehreren Anläufen gelang.
„Wo wohnt sie?“ wollte Mario wissen als sie das Lokal endlich verlassen hatten.
Das löste bei Simone einen Lachflash aus. „Ihr woll misch heimbringen unn kenn…“ Der Rest ging in Lachen unter, bei dem es beinahe schaffte, sich aus Marios Griff zu befreien. Doch er hielt sie fest und aufrecht. Michael zog ihr den Geldbeutel aus der Handtasche und der Personalausweis darin gab die gesuchte Antwort. Zum Glück wohnte sie fast um die Ecke. Als Michael nachfragte, warum sie so viel getrunken habe, verfluchte sie erst einmal wieder alle Männer, bevor sie von einem geplatzten Date berichtete. Doch was genau geschah, konnten Michael und Mario nicht verstehen.
* * *
Simones Erinnerungen endeten damit, dass sie irgendwie in ihrer Wohnung war und im Bett ankam. Als sie aufstand, stand ein Eimer neben ihrem Bett, den sie wohl nicht gebraucht hatte. Der Wecker, der viel zu früh schellte, bescherte ihr massive Kopfschmerzen, doch ein Glas Wasser und eine Aspirin standen auf ihrem Nachttisch bereit. Wie kam sie nach Hause? Nach und nach kam die Erinnerung an Michael zurück und auch an Mario, Michaels Freund. Es gefiel ihr gar nicht, denn Michael war ihr tatsächlich sympathisch, doch da brauchte sie sich wohl keine Hoffnungen machen.
Nachdem sie es zur Toilette geschafft hatte und wieder zurück sah sie auf den kleinen Tisch in ihrem Schlafzimmer. Dort lag ein Zettel und sie erkannte die Handschrift ihres Vaters. Wie konnte das sein? Ihr Vater war seit fast zehn Jahren tot! Doch der Zettel sah ganz neu aus. Sie stöhnte vor Schmerz, als sie sich setzte, um zu lesen, was darauf stand:
„Liebe Simone, es geht wieder auf Weihnachten zu und wie ich das so mitbekomme, ist es die schlimmste Zeit für dich. Deine Mitarbeiter lässt du leiden und deine Stimmung ist maximal weit vom Weltfrieden entfernt. Ich denke, es ist Zeit, dass ich mich entschuldige. Ich habe immer sehr viel von dir verlangt, und es hat mir Spaß gemacht, wie du mit jeder Aufgabe gewachsen bist. Ich war wirklich stolz auf das, was du geschafft hast. Doch ich glaube, ich habe dir das nie gesagt, und auch nie gesagt, wann es auch mal reicht. Ich erinnere mich noch, du hattest gerade Fahrradfahren gelernt, als du schon versucht hast, mich zu überholen. Deine Kraft hätte dazu nie gereicht, aber mit deinem Mut hast du mich mehr als einmal besiegt. Kannst du dir vorstellen, dass das an mir genagt hat? Heute lache ich darüber, aber damals war es mir oft bitterer Ernst. Wenn ich noch einmal wählen könnte, wie ich damit hätte umgehen sollen, dann hätte ich dich viel öfter einfach mal in den Arm genommen und dir gesagt, dass ich dich lieb habe. Verzeihe mir, dass ich das so spät nachhole: Du warst mein Sonnenschein, mein ein und alles. Und wenn ich noch einmal die Gelegenheit dazu erhalten dürfte, ich würde mich bemühen, es dir auch zu zeigen. Verzeih mir, bitte, dass es mir nicht gelungen ist.
Alles Liebe, Heinz“
Wie kam nur dieser Brief hierher? Es war definitiv die Unterschrift ihres Vaters und das mit dem Fahrradfahren wusste sie noch, doch sie hatten nie darüber gesprochen, kein Mensch konnte das wissen! Sie drehte den Zettel noch einmal um, vielleicht gab es dort ja eine Antwort, doch es standen nur zwei Zeilen darauf:
„PS: Du fragst dich gerade, wie wohl dieser Brief von mir an dich hier gelandet ist? Ganz einfach: An Weihnachten sind Wunder inklusive.“
Simone meldete sich krank, ihr erster Krankheitstag überhaupt, seitdem sie arbeitete. Am Tag darauf hörten ihre Mitarbeiter zum ersten Mal das Wort „Danke“ aus ihrem Mund.