Was für ein fürchterliches Wetter. Nicht einmal Alfons schien Lust zu empfinden, sich heute fortzubewegen. Für jeden zweiten Schritt, mit dem Talfan sich den kaum zu erkennenden Pfad entlangschob, war ein Rucken am Seil nötig, um den gutmütigen Esel dazu zu bringen, ihm zu folgen. Die kalte, vom Nebel klamme Luft schien ihm ins dichte Fell zu kriechen wie sie es bei Talfans Kleidung tat. Und dass der Weg, auf dem sie sich befanden, stetig bergauf führte, trug auch nicht gerade zur Stimmung des ungleichen Paars bei.
Der sie umgebende, stille Wald wirkte trostlos. Die feuchten Blätter hingen schlaff herab, zeugten durch ihre fahlgelbe, blutrote oder erdbraune Verfärbung von ihrem baldigen Tod. Ihre Vorgänger moderten auf dem nassen Boden vor sich hin, verströmten einen Geruch wie auf einem Boronsacker kurz nach einer Beerdigung.
An Tagen wie diesen fragte sich Talfan, ob die Idee, sich als reisender Händler zu tarnen, wirklich so eine gute Idee gewesen war. Ja, er hatte Talent im An- und Verkauf von Waren. Die Nische, die er sich mit dem Angebot von Pflanzensaaten zu eigen gemacht hatte, war vor allem bei den vermögenden Schichten Aventuriens überraschend beliebt. Und die dauernden Reisen boten eine hervorragende Tarnung für seine Spionagetätigkeiten.
Dennoch. Manchmal wünschte er sich, dauerhaft in einem gemütlichen Tempel zu leben. Oder einem Haus. Ein Zimmer wäre eigentlich schon genug. Immer, wenn dann das Fernweh zu groß würde, könnte er sich an Tage wie den heutigen erinnern und wüsste, weshalb er sich gegen das Leben als fahrender Händler entschieden hatte.
Ein Geräusch riss ihn aus seinen Gedanken. Leise hielt er inne und lauschte. Ein Stück weiter bergauf, hinter der Biegung, die ein großer Felsbrocken erforderlich machte, erklang gelegentliches Pfeifen. Nicht wie von Vögeln.
Talfan gab Alfons mehr Seil, sodass dieser weiter hinter ihm laufen würde, und schlich sich voran. Es war nicht leicht, den morschen Ästen auszuweichen, die immer wieder in seinem Weg lagen, sodass es einige Zeit dauerte, bis er den großen Felsen erreichte und vorsichtig darüber hinwegspähen konnte.
Was er sah, überraschte ihn. Keine zwei Dutzend Schritt von ihm entfernt stapfte eine gebeugte Gestalt durch den Wald, einen Korb in der einen, einen Gehstock in der anderen Hand und eine leise, fröhliche Melodie auf den Lippen. Gemächlich und aufmerksam suchte sie den Boden ab, schob gelegentlich heruntergefallene Blätter beiseite und bückte sich hier und dort, um einen Pilz abzubrechen.
Leise stieg Talfan vom Felsen herunter. Von der Person schien wenig Gefahr auszugehen, sodass er durch sanften Zug an der Leine Alfons in seine Richtung lenkte. Sodann folgte er der Wegbiegung und grüßte höflich, als die gebeugte Gestalt seiner gewahr wurde.
„Den Zwölfen zum Gruße“, erwiderte die alte Dame vergnügt. „Wie schön, dass Ihr hier vorbeikommt. Wärt Ihr so freundlich, mir beim Rückweg ins Dorf behilflich zu sein und meinen Korb zu tragen?“
Diese direkte Bitte verblüffte Talfan. Doch die Art der Frau gefiel ihm auch. „Gerne“, antwortete er daher und nahm einen Korb voll Pilzen entgegen. „Habt ihr keine Angst, dass ich mich mit den Früchten Eurer Arbeit aus dem Staub mache?“
Die Alte lachte. „Aber, aber, Jungchen. Warum immer vom Schlechten ausgehen? Die meisten Menschen sind freundlich und hilfsbereit, wenn man ihnen die Chance gibt.“
Talfan verzog die Lippen zu einem Lächeln. „Meint Ihr? Welch göttlicher Zauber steckt in diesen Pilzen, dass sie Euch mit so viel Zuversicht und Frohsinn erfüllen?“
Einen Augenblick zeigte sich Verwirrung auf den Zügen seines Gegenübers, dann ertönte wieder das volle Lachen. „Ah, das meint Ihr! Nein, die Pilze sind nicht von dieser Art. Sie bereichern meinen Speiseplan ganz ohne berauschende Nebenwirkungen.“
„Erstaunlich, dass Eure gute Laune dann selbst dieses Wetter übersteht“, sagte Talfan grinsend. Eine Unterhaltung machte den Weg viel erträglicher und seine Stimmung besserte sich von Schritt zu Schritt. Im Stillen dankte er den Göttern, dass sein Weg den der Frau gekreuzt hatte.
Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ach, das ist doch nur Wetter! In Praios‘ Licht betrachtet wirkt die Welt doch voll strahlend schöner Ecken. Ihr müsst Euch die Sonne im Herzen bewahren, junger Mann – glaubt mir, so lebt es sich viel angenehmer.“ Ihre Worte erklangen weiterhin im leichten Plauderton, doch der Blick, den sie Talfan zuwarf, ließ erkennen, dass es ihr mit diesen Worten ernst war. Als spüre sie seinen Verdruss und wollte ihm eine neue Perspektive bieten.
Er fühlte sich auf seltsame Weise durchschaut. Um diesem Gefühl zu entkommen, lenkte er das Gespräch rasch wieder auf unverfängliches Gebiet. „Ja, ein wenig Sonnenschein wäre jetzt wirklich gut. Ist es hier immer so neblig?“
Das Lächeln der alten Frau zeigte, dass sie sein Ausweichmanöver akzeptierte. „Ja und nein. Auf dieser Seite des Berges sammeln sich die Wolken oft. Ihr werdet sehen – gleich, wenn wir das Dorf und damit die Spitze des Höhenzugs erreichen, könnt Ihr auf der anderen Seite hinunterblicken. Der Anblick wird Euch gefallen, Ihr werdet sehen!“
Sie behielt recht. Kurz bevor sie das Dorf erreichten, riss die Nebelwand auf. Das trübe Wetter wurde durch herrlichen Sonnenschein ersetzt, der gut gelaunte Menschen bei ihrem Tagwerk beleuchtete. Als Talfan der alten Dame an ihrem Haus den Korb zurückgegeben hatte, folgte er ihrem Rat und begab sich auf die andere Seite des Dorfes.
Auch dort lag ein Herbstwald vor ihm. Dennoch wirkte er völlig anders als sein Gegenstück auf der anderen Seite. Das Sonnenlicht verwandelte nasse, sterbende Blätter in prachtvoll gefärbte Baumkronen, die sich in sanftem Wind wiegten und leuchtend gelbe, rote und orangefarbene Farbtupfer durch die Luft fliegen ließen. Die Stille des Nebelwalds stand in deutlichem Kontrast zur Geräuschkulisse des sonnenbeschienenen Gehölzes, in dem sich Vögel mit Zwitschern, Hämmern und Flügelschlagen bemerkbar machten.
Erst jetzt verstand Talfan die wahre Bedeutung der Worte der alten Frau. So, wie Sonnenschein den Wald verändern konnte, konnte Sonne im Herzen auch trübe Gedanken in ein anderes Licht rücken.