Das erste was mir auffällt, als ich sein Büro betrete, sind die Regale, die alle Wände bedecken. Selbst oberhalb der Tür sind noch einige Bretter angebracht, an die er ohne Hocker bestimmt nicht herankommt. Natürlich fallen die Bücher nicht in dem Sinne auf, dass es seltsam wäre, dass sich ein Literaturdozent mit Büchern umgibt, doch ihre Masse und Allgegenwärtigkeit zeigen verstärkt seine Leidenschaft für das geschriebene Wort, die ich in den bisher zwei Vorlesungen und einem Seminar, die ich von ihm besuchte, schon gespürt hatte. Er deutet auf einen der Stühle, die um einen kleinen runden Tisch gruppiert sind, und als ich mich niederlasse, setzt er sich mir gegenüber. Sein Lächeln ist erwartungsvoll. Er sieht nahbarer aus als wenn er vor einem Kurs steht.
Im zweiten Semester habe ich meine erste Vorlesung bei ihm erlebt und war sofort begeistert. Da noch nicht von ihm als Mann, als Mensch: schlicht als Lehrender und vor allem Vortragender. Faust hatte mir schon in der Schule Schauer über den Rücken gejagt ob seiner Sprachgewaltigkeit, und in einer Vorlesung diesem Mann zu lauschen, dessen Begeisterung und immenses Wissen in jedem Satz spürbar waren, hatte mich von Anfang an mitgerissen und mir gezeigt, dass mich meine Studienwahl an den richtigen Ort, zum richtigen Fach geführt hatte. Je weiter das Semester vorangeschritten war, desto mehr war mir an mir selbst aufgefallen, dass ich begann, noch auf andere Dinge zu achten, als Fakten über Goethe. Gesten waren es plötzlich, auf die ich wartete und die mir vertraut wurden. Wenn er enthusiastisch mit den Armen durch die Luft fuhr, und ich Gänsehaut spürte, jemanden meine eigene Begeisterung für den Text so widerspiegeln zu sehen. Manchmal schon vorher zu spüren, wann er lächeln würde, als könnte ich seine kleinen Scherze antizipieren.
Wie weit es mit mir gekommen war, merkte ich erst im nächsten Semester. Wieder eine Vorlesung. In eines seiner Seminare hatte ich mich noch nicht gewagt. Hatte vielleicht ein wenig Angst, bei näherem Kontakt in seiner Gegenwart zu klein zu werden. Ich gehörte noch nie zu den Studierenden, die Professoren nur bewunderten, weil sie eben Professoren waren. Um sich meine Achtung zu verdienen, brauchte es mehr, als einen – oder ein paar – Titel. Für jemanden, der mit solcher Liebe von Worten sprach, konnte ich jedoch nur Zuneigung – Verständnis – Achtung aufbringen. Doch nicht nur von Worten sprach er mit Liebe. In dieser zweiten Vorlesung war es, dass er in einer kurzen Anekdote von seiner Frau sprach. Und ich, auf Resonanz zu jeder Äußerung von ihm getrimmt, konnte die liebevolle Andächtigkeit in seiner Stimme natürlich nicht überhören, nicht mal nachträglich wegredigieren. Der Schmerz, der mir in den Brustkorb und die Kehle schoss, überraschte mich selbst.
Dann, als ein Versuch der Heilung, ein Semester ohne ihn. Nicht, dass es mich nicht heisskalt überlief, wenn ich ihn mal auf den Gängen sah. Oder dass ich nicht, wenn sich Mitstudierende, die bei ihm Kurse belegt hatten, in der Mensa darüber plauderten, mich groß anstrengen musste, nicht nach wörtlicher Widergabe all seiner Worte zu fragen. „Er ist schon sehr nett, nur auch ziemlich vergeistigt“, meinte Hanna, meine beste Freundin. Sie meinte es nicht mal böse, doch ich konnte mich nicht daran hindern, gleich zu seiner Verteidigung zu schreiten: „Nun, er lebt eben für die Literatur! Es ist doch ideal, dass ein Lehrender so für sein Fach brennt, da könnte sich so manch anderer eine Scheibe abschneiden …“ – „Da hast du natürlich recht! Ganz zu schweigen davon, dass du selbst manchmal ein bisschen vergeistigt sein kannst, das habt ihr gemeinsam.“ Hanna lächelte, wissend, verschwörerisch. Mit ihr muss ich nie viel reden, doch sie versteht trotzdem so vieles, und weiß mehr, als ich sage.
Dieses Semester dann hatte ich es endlich gewagt. Kein „Entzug“ mehr, dafür war meine Sehnsucht so groß. Und das Seminarthema genau mein Fall. Nun erlebte ich ihn also zum ersten Mal nicht nur in großen Hörsälen sondern viel näher. So schien er dann auch näher und menschlicher, doch, wie Hannah auch fand, distanziert. Vielleicht eine Vorsicht im Umgang mit Studierenden, vielleicht Schüchternheit, vielleicht geistige Höhenflüge, die uns verborgen blieben. Dennoch blieb seine mitreissende Freude an Sprache, die fast alle, die an dem Kurs teilnahmen, dazu bringen konnte, angeregt an Diskussionen teilzunehmen. Auch ich konnte mich nach anfänglicher Schüchternheit nicht mehr stoppen, zu wichtig waren das Thema, die Texte, die Literatur. Wenn er selbst Textstellen vortrug, kribbelten meine Handflächen und ich versuchte mein Erröten hinter meinem Kaffeebecher zu verstecken.
Nun saß ich da, so nah vor ihm wie nie und wollte stotterfrei über meine Hausarbeit sprechen. Ich holte tief Luft. „Hi. Ich – äh – ich bin in Ihrem Kurs zu deutschen Gedichten der Jahrhundertwende.“ Er lächelte. „Das weiß ich doch. Ihre bereichernde Teilnahme am Kurs lässt gar nicht zu, dass ich Sie nicht einordnen kann.“