Die letzten zwei Uniwochen hatte ich mich ausgesprochen zurückhaltend benommen. Dabei gab es nicht mal wirklich einen Grund dafür. Er war mir ja nicht böse für meine unbedachte Frage und behandelte mich im Unterricht so, wie zuvor auch. Dennoch achtete ich enorm darauf, wie ich mich gab. Ob meine Antworten zu flapsig waren, ob ich zu unseriös diskutierte, ob ich Grenzen überschritt … ob ich ihn zu oft ansah. Und gleichzeitig ärgerte ich mich in verzweifelter Hilflosigkeit über mich selbst, dass ich mir überhaupt solche Gedanken machte. Als ob man eine Person, die vor einer Klasse stand, um Studierenden etwas beizubringen, zu oft ansehen konnte! Himmel, wo sollte ich denn sonst hinsehen?
Auch konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass er auch mich sehr oft ansah. Zum einen natürlich, während ich sprach – das war in dem Sinne außergewöhnlich, dass er sonst häufig bei Wortmeldungen seinen Blick aus dem Fenster schweifen ließ. Natürlich hörte er trotzdem genau zu, gab immer wohlüberlegte Antworten. Wahrscheinlich war das einfach seine Art, sich auf das Gesprochene zu konzentrieren. Mich jedoch sah er immer direkt und aufmerksam an. Lächelte, wenn ich etwas ungeschickt formulierte, zog die Augenbrauen zusammen, wenn er meiner Interpretation nicht zustimmte. Selten hatte ich den Eindruck, dass jemand mir so aufmerksam zuhörte, so in einer Diskussion mit mir aufging, so genau wissen wollte, was ich dachte. Manchmal konnte ich fast die Anwesenheit der anderen Studierenden vergessen.
Rückblickend war mir eigentlich klar, dass das schon das ganze Semester so gewesen war. Ich hatte schon immer den Eindruck gehabt, er würde mir viel Aufmerksamkeit schenken. Damals allerdings hatte ich das noch auf schwärmerische Wunschträume geschoben. Und nun, warum verbot ich mir dieses Glücksgefühl jetzt nicht mehr? Weil er mir gesagt hatte, dass er sich gerade scheiden ließ? Und das gab mir ein Recht auf … was genau?
In der letzten Sitzung ließ er, der sonst seinen Unterricht immer so korrekt und durchgeplant durchzog, am Ende eine halbe Stunde Zeit, in der uns interessiert fragte: „Nun, ich gehe davon aus das Sie alle mein Seminar besucht haben, weil Sie sich für Lyrik interessieren – oder weil Sie schlicht noch ein Hauptseminar brauchten, aber das ignoriere ich mal. In der letzten halben Stunde würde ich gerne von Ihnen ein paar Ihrer liebsten Gedichte, oder auch nur Verse, hören. Sie müssen nicht aus der aus der Epoche stammen, mit der wir uns das gesamte Semester befasst haben, müssen nicht mal deutsch sein. Es interessiert mich einfach, was Sie in Ihrer Freizeit so an Gedichten lesen. Falls Sie das denn tun, aber ich will ja keine Hasstirade zum Thema ‚die jungen Studenten von heute‘ halten, ich halte ja doch sehr große Dinge auf Sie.“ Er zwinkerte, aber es war klar, dass er hoffte, dass wir seine idealistische Erwartung nicht enttäuschen würden.
Zunächst kamen die Beiträge nur stockend. Auch ich war am Anfang zu schüchtern. Ist ja klar, dass es enorm persönlich ist, was man so für Gedichte ließt, und sich dann so vor einem Kurs zu öffnen … Nach einer Weile, und nachdem ein paar Mutige sich getraut hatten, wagten es immer mehr. Ich fand es spannend, zu erkennen, was meine Mitstudierenden für lyrische Vorlieben hatten. Von Befürwortern romantischer Naturgedichte über eine glühende Shakespeare-Verehrerin und einem sonst sehr schweigsamen Typen, der nun mit komplett ausdruckslosen Gesicht Benns Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke, zitierte war alles dabei.
Ich hatte geschwiegen, bis kurz vor Schluss, auch wenn mich ab und an ein erwartungsvoller Blick vom Lehrerpult gestreift hatte. Schließlich nahm ich all meinen Mut zusammen und hob die Hand. Als er mich dann aufrief, legte ich großen Wert darauf, ihm genau in die Augen zu sehen. Intensiven Blickkontakt konnte ich auch. So ruhig, wie es mir möglich war, zitierte ich die letzten Strophe eines meiner Lieblingsgedichte:
„I do not know what it is about you that closes
and opens, only some part of me understands
the voice of your eyes is deeper than all roses…”
Die letzte Zeile ließ ich weg. Das war alles, was ich sagen wollte. Nachdem ich geendet hatte sahen wir uns stumm in die Augen. Es fühlte sich an, wie eine lange Weile, doch wahrscheinlich waren es nur ein paar Sekunden. Schon bereute ich … alles. Was dachte er nur, dass ich damit sagen wollte? Wusste ich das selbst überhaupt?
Auch als er die Stunde beendete, uns in die Ferien entließ und wir alle unsere Sachen zusammenpackten, spürte ich seinen Blick auf mir ruhen.
Als ich mit einer seltsamen Vorsicht an ihm vorbei aus dem Klassenraum lief, murmelte er leise: „nobody, not even the rain, has such small hands.“ Er kannte das Gedicht. Und seine Stimme war so sanft. Und das Lächeln, das er mir zuwarf, gleichsam überglücklich und perplex.